7. Kapitel

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"Halt still!"
"Ich bin still."
Aristis presste die Zähne aufeinander.
So lieb wie Tamika auch war, sie war nicht besonders gut darin, Wunden zu versorgen. Jedenfalls, ohne dass man etwas spürte.

"Du musst einfach nur Alkohol draufschütten. Du brauchst sie gar nicht so sauber zu machen, wie Meissa ihre Messer", knurrte er durch den Schmerz und hielt sich angespannt an dem Stuhl fest, auf dem er saß.
Das Mädchen vor ihm kniend rieb weiterhin unbekümmert in seiner Wunder herum.

"Cora hat mich gewarnt, dass du dich sträuben würdest. Aber ich lasse nicht zu, dass du eine Infektion bekommst."
"Das hat Coraline gesagt?"
"Naja, sie meinte, ich sollte so hartnäckig sein, wie möglich, da du dich nicht um dich selbst kümmern kannst."
"Ich hasse es, wenn sie das macht. Als ob sie für sich selbst sorgen könnte. Das einzige, was sie den ganzen Tag lang macht, ist sich an Neo heranzuschmeißen und- Au!"

Aristis zog von plötzlichem Schmerz erfüllt ruckartig sein Bein, an dem Tamika zu Gange war, zu sich auf den Stuhl und umklammerte es, als hätte sie es ihm gerade abgerissen.
Er sah das Mädchen scharf an.
"Sag mal spinnst du? Streu doch gleich Sand hinein! Wie wäre es mit einer kleinen Vorwarnung?"
Er war noch immer leicht außer Atem, stellte sein Bein dann schließlich doch wieder vor Tamika auf den Boden, welche ihn nur mit aufgerissenen Augen anstarrte.

"Ich hab doch nur den Alkohol draufgeschüttet. Das wolltest du doch!", entgegnete sie verwirrt, ihre Stimme war etwas zittrig und sofort verfluchte sich Aristis dafür selbst, laut geworden zu sein.
Seufzend fuhr er sich mit der Hand über sein Gesicht und lehnte sich dann etwas lockerer im Stuhl zurück.
"Du hast Recht, Tammy. Tut mir leid. Aber eine kleine Vorwarnung wäre das nächste Mal echt super."

Tamika nickte langsam und nach nur ein paar Sekunden machte sich auf ihrem Gesicht ihr wohlbekanntes Lächeln breit, ehe sie sich wieder Aristis' Bein zuwandte.
"Aber bitte schreie nicht nochmal", bat sie ihn so leise, dass Aristis es fast nicht gehört hatte.
"Ich hab nicht- Okay, ja."
"Cora meinte, dass du so schmerzempfindlich bist, wie ein kleines Kind und ich deswegen extra sorgsam bei dir sein soll. Das wollte ich sein. Tut mir leid, dass ich dir weh getan habe, Ari."

Der Rumtreiber ignorierte den Fakt, dass Coraline ihn schmerzempfindlich genannt hatte, und wahrscheinlich noch ein paar andere Dinge in seiner Abwesenheit.
"Du hast mir nicht mehr weh getan, als dieser Idiot von Professor, der mich angeschossen hat, also mach dir keine Gedanken."
Tamika nickte aufmerksam.
"Und ich bin auch nicht schmerzempfindlich", ergänzte er mit gerunzelter Stirn, aber das schien Tammy nicht zu interessieren.

"So, jetzt müsste ich fertig sein", verkündete Tamika nachdem sie Aristis' Bein nun sorgsamer als davor verbunden hatte.
"Meinst du, ich darf meine Steinsammlung mitnehmen? Im Letzten Ozean sind noch so viele Menschen, denen ich die noch zeigen kann", fragte sie ihn aufgeregt.
"Tammy, ich glaube Steine sind die eine Sache, die die dort ohne Ausnahme gesehen haben. Außerdem werde ich nicht einen Rucksack voll mit Steinen transportieren."

Für einen Moment blickte Tamika hilflos im Raum hin und her, als würde sie nach etwas suchen, das ihr helfen könnte, Aristis zu überzeugen.
"Meinst du, du kannst bis dann schon wieder laufen?"
Aristis schnaubte und erhob sich etwas taumelnd vom Stuhl.
"Natürlich kann ich das. Ich kann in diesem Moment laufen."
"Aber Neo meinte, wir sollen noch ein paar Tage hier warten und erst dann nachkommen. Bis dahin sollst du dein Bein schonen."

"Zum Teufel, Tammy!"
Aristis hielt inne und räusperte sich.
"Hör doch mal zu, was ich sage. Nicht, was Cora oder Neo oder sonst wer behauptet. Ich komme schon klar", fuhr er mit gedämpfter Stimme fort.
"Außerdem weiß ich jetzt, wie sich Kian fühlt. Ein kleiner Perspektivwechsel tut uns doch allen gut. Und länger als einen Tag können wir auch nicht hierbleiben, wenn wir von der anderen Hälfte unserer Sphärenratten nicht eingeholt werden wollen."

Ohne auf Tammys Reaktion zu achten, begann er, im Raum hin und her zu humpeln und alles mögliche in seine Taschen zu stopfen.
Tamika sah ihm dabei zögerlich zu.
"Merkelig, stor mann."
"Wir sind nicht in Norwegen, Tammy, also rede auch nicht wie dort."
"Und du bist auch eine Sphärenratte, Ari!"
Aristis drehte sich nicht zu Tamika um, aber das leise Fußtappen hinter ihm verriet ihm, dass sie beleidigt aus dem Raum geeilt war.
Er rieb sich stöhnend mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken.

Tamika hatte Recht.
Er lebte von Zeit zu Zeit in den Sphären der Elyktra, aber das hieß noch lange nicht, dass jener seine Loyalität galt.
Als dort beheimateter Dieb genoss er lediglich das Privilig, reiche Menschen zu bestehlen, die dadurch auf keinen Fall in eine Identitätskrise geraten würden. Wenn auch, tat er der Gesellschaft einen großen Gefallen.
Er konnte seinen Gedanken noch um einiges weiter ergänzen, aber diese Rede hatte er schon einmal geführt und war nicht wirklich ernst genommen worden.

"Alles klar, Robin Hood. Lass mich wissen, wenn du anfängst, für Arbeiterrechte in den Kantinen zu kämpfen", hatte Neo nur zu ihm gesagt.
Als auch ein paar andere Sachen, die Aristis nun gedanklich nicht weiter ausführen wollte.

Es war lächerlich.
Er erwartete von ihm, die Gruppe mit Reiche-Leute-Sachen zu versorgen, aber machte sich über den Fakt lustig, dass sich Aristis selbst als Teil dieser Reichen ausgab, obwohl Neo auch einmal in der Elyktra gelebt hatte.
Einfach nur lächerlich.

"Tammy, hast du meine Jacke gesehen? Du weißt schon, die schwarze."
Aristis durchwühlte irritiert den Haufen an Kleidung, den sie auf dem Möbelstück aufbewahrten, das einem Sofa am nächsten kam.
"Ich hab doch gesagt, du sollst die nicht immer nehmen, ohne mich zu fragen. Du hast schließlich deine eigene."
Sofern man Tamikas Kleidung noch Kleidung nennen konnte.

Als er keine Antwort weder in Form eines Lieds noch eines merkwürdigen Säuseln auf norwegisch erhielt, wie es bei Tamika sonst der Fall war, machte sich Aristis dann doch auf die Suche nach dem Mädchen.

"Borowski, wo bist du? Ich hab's nicht so gemeint, das weißt du."
Er bog um die Ecke ihres Wohnraumes, in Richtung Haustür, die zu seiner Verärgerung weit geöffnet war.
Der Wind fegte vereinzelt Häufchen an Wüstensand in die alte Lagerhalle, sodass der Boden schon flächenweise bedeckt war.

"Tammy! Was soll das? Du sollst nicht alleine rausgehen!"
Aristis stürmte durch den offenen Türrahmen und kam plötzlich zum Halt, als sich vor ihm keine gewissere Gestalt eingefunden hatte, als die des Professors, der für sein Humpeln verantwortlich war.
In seiner Hand befand sich die selbe Pistole, nur dass sie nun an der Schläfe Tamikas angesetzt war.

"Ihr wollt mich doch verarschen."
Und Neo wollte, dass sie noch ein paar Tage warteten.
Lächerlich.

"Guten Morgen, Temple. Wenn ich mich nicht irre, verpassen Sie gerade Ihre Schicht als Barista?"
Wie Aristis die tiefe Stimme Nicolas Wesleys verabscheute.
Er konnte mit seiner arroganten Art umgehen, solange er ihm nur Kaffee brachte und gleichzeitig ein paar Münzen oder Zigaretten stehlen konnte, aber nicht dann, wenn er seinen Lauf an den Schädel einer sehr hilflosen Rumtreiberin presste.

"Hey, Wesley", begrüßte er mit aufgesetzter Stimme und Grinsen den Professor vor ihm.
"Lange nicht gesehen."
Tamika blickte mit verängstigten Augen zu Aristis hinauf und wartete deutlich darauf, dass er etwas tat, um sie aus dem Griff Nicolas Wesleys zu befreien.
Aber ein Blick hinter den beiden gemügte, um festzustellen, dass die restlichen Forschungsmitglieder, die in der Nacht ihres Überfalls davongekommen waren, nun alles andere als abwesend waren.
Sie waren ihnen mehr als zahlenmäßig überlegen.
Scheiße, scheiße, verdammte Scheiße.

"Dein loses Mundwerk kannst du dir sparen", ertönte es von der anderen Seite Nicolas'.
Der andere Professor, Aristis glaubte, sich an den Namen West zu erinnern, hatte ebenfalls eine Waffe, in diesem Fall aber auf ihn, gerichtet.
"Und wag es gar nicht, abzuhauen oder irgendeinen voreiligen Schritt zu machen!"
"Ist ja gut, ist ja gut", murmelte Aristis, kämpfte dagegen an, die Augen zu verdrehen und erhob widerwillig die Arme.

Er wusste zwar, dass seine Gegenüber ihn und Tamika höchstwahrscheinlich nicht erschießen würden, zum einen aus Elyktra-Moral als auch aus dem Grund, dass sie ohne sie nicht wissen würden, wo ihre Gefährten waren, aber Aristis wollte es nicht riskieren, auf beiden Beinen humpeln zu müssen.
Und er war, bis auf ein Messer, das in seinem Stiefel steckte, unbewaffnet.

"Wo ist der Rest eurer und unserer Truppe?", fragte ihn der andere Professor.
"Ihr glaubt doch nicht, dass wir das einfach so erzählen, oder?"
Ein Lachen schwang in Aristis' Stimme mit, dass er sich einfach nicht verkneifen konnte, die anderen aber offensichtlich nicht erfreute.

"Ich kann dir gerne eine weitere Kugel in den Arm verpassen."
Nicolas Wesleys Griff an seiner Pistole war kaum merklich fester geworden, seine Augen enger, aber Aristis war noch immer vollkommen davon überzeugt, dass sie Tamika unversehrt lassen würden, egal wie frech seine Bemerkungen sein würden.

"Vielleicht breche ich aber auch einfach deine kostbaren Hände. Das Stehlen wird danach alles andere als einfach."
Diese Drohung war von dem Braunschopf neben Wesley gekommen.
Sie war kleiner und offensichtlich jünger als Aristis, wirkte also nicht sonderlich angsteinflößend, besaß aber definitiv die aufrechte Haltung einer Soldatin und zu Aristis' Erfahrung, blieben Soldaten ihren Drohungen meist treu. Das kannte er zumindest von Neo.
"Das würde ich gerne sehen, Süße."

Im Nachhinein hätte er sich die Bemerkung eventuell sparen können, aber wie hätte er so eine Aussage im Raum stehenlassen sollen?
Dann nahm er die Kugel in Kauf, die in diesem Moment an seinem linken Ohr vorbeiraste, sodass er den Luftzug spürte, und kurz darauf hinter ihm in einen Holzbalken einschlug.
Was hatte er gesagt? Sie würden sie nicht so einfach erschießen, egal was er sagte.

Aber Tamika sah so aus, als hätten sie gerade genau das getan.
Das ohnehin schon so blasse Mädchen hatte einen noch helleren Hautton angenommen und schien jeden Moment in Nicolas Wesleys Armen zusammenzusacken.
Bei diesem Anblick tat Aristis seine Reaktion fast schon etwas leid.
Er beschloss, sie nicht mehr so stark zu provozieren, auch wenn die Versuchung groß war und die Gelegenheit zu passend.

"Könnt ihr sie nicht wenigstens loslassen?", versuchte es Aristis mit neutralerer Stimme und geneigten Kopf, um etwas unterwürfig zu erscheinen, wie es seinen Gegenübern vermutlich gefiel.
Bei dem Gedanken daran, drehte sich sein Magen.
Wenn Neo ihn so sehen würde... Zum Glück tat er es nicht.

"Dann sind wir auch schon viel offener, wenn man uns nicht eine Pistole an den Kopf hält, glaubt mir."
Sie beäugten ihn mit schmalen Augen.
"Wir kommen jetzt rein", erklärte der Mann dessen Lauf auf Aristis gerichtet war und einen Augenblick später drängten sie ihn inmitten den Raum, in dem vor nicht einmal zehn Stunden die Rollen getauscht waren.
Aristis ließ seinen Blick über den Rest der Gruppe schleifen.

Neben den zwei Professoren und dem Mädchen gab es noch drei weitere junge Menschen: einen ebenfalls sehr soldatenhaften Jungen mit hellen Haaren, den Aristis schon einmal in der Elyktra gesehen hatte, einen zarten jungen Mann, dessen Gesicht Aristis auch sehr bekannt vorkam und zu seinem Vergnügen seine Kollegin Penelope, die auch Tochter seiner Arbeitgeber im Café war. Das war's dann wohl spätestens mit seinem Job als Barista.

"Durchsucht die Räume, wir passen auf sie auf", befahl Professor West den anderen und trat näher an Aristis heran, sodass ihm der Ausweg nach draußen unmöglich war.

Er beobachtete, wie die Menschen um ihn sich in ihrem Unterschlupf breitmachten, Kisten und Taschen durchsuchten und zu seinem Bedauern alle Waffen in Reichweite an sich nahmen.
Er biss die Zähne aufeinander, als hätte man ihm in seine frische Wunde gefasst, als Penelope ihm seine heißgeliebte Pistole vor die Nase hielt.

"Ich wusste, du führst etwas im Schilde", sagte sie mit abwertendem Blick, der Aristis unberührt ließ.
"Penny, kannst du sie wenigstens nicht so halten, wie ein totes Tier? Du weißt ja nicht einmal, wie man mit so einem Ding umgeht."

"Nenn mich nicht Penny und sag mir nicht, was ich zu tun habe."
Das Mädchen gab, ohne Aristis eines Blickes zu würdigen, die Waffe an das andere Mädchen mit den kurzen braunen Haaren.
Sobald die Pistole Penelopes Hand verließ, wirkte sie schon viel weniger angespannt.

In diesem Moment hatte jemand Aristis bei beiden Schultern gepackt und drückte ihn nun so zu Boden, dass er mehr oder weniger gezwungen war, in die Knie zu gehen.

Als er nach oben blickte, sah er, dass Nicolas Wesley Tamika losgelassen und stattdessen sich zu ihm begeben hatte.
Kaltes Metall drückte an seine Schläfe, Finger zogen ihm an seinen Haaren.
Anatol hielt dem Blick des Mannes vor ihm Stand.

"Nun ist es an der Zeit, dass ihr redet."

Aurelija war nervös.
Nun saß sie mit Anatol an ihrer Seite in einem für ihren Geschmack viel zu wuseligen und bunten Café und wartete auf ihre Verabredung.

"Meinst du, sie kommt nicht mehr?"
"Wieso sollte sie nicht mehr kommen?"
"Sie ist bereits dreizehn Minuten zu spät."
"Ich komme immer zu spät."

Aurelija stocherte ohne Erwiderung in ihrem Bagel herum.
Ihr Magen drehte sich bei dem Gedanken an den Grund ihres Treffens, wegen dem, was sie vorhatten.

Sie betrachtete für einen Augenblick Anatols Gestalt neben ihr.
Im Gegensatz zu ihr war der junge Mann tiefenentspannt.
Er rückte nur ein paar Mal energiegeladen auf seinem Stuhl hin und her, nahm einen Schluck Kaffee, der bereits der dritten Tasse an diesem Morgen angehörte, und trommelte vergnügt auf dem Tisch herum.

An dem Tisch neben ihnen saß ein Pärchen mit einem Neugeborenen, das sich seit einer gefühlten Ewigkeit die Seele aus dem Leib schrie.
Ab und zu machte Anatol merkwürdige Grimassen in dessen Richtung, wodurch das Baby ihn zwar für einen Moment verwirrt anstarrte, im nächsten aber wieder da ansetzte, wo es aufgehört hatte.
Mit dem Zerstören Aurelijas Trommelfells.

"Warum mussten wir uns nochmal in der Öffentlichkeit treffen?", fragte sie Anatol gequält.
"Hier kann auch noch jeder zuhören."
Der Mann wandte sich von dem Neugeborenen ab und stattdessen Aurelijas Teller zu.
"Isst du den gar nicht?"
Er deutete auf ihren Bagel.

Sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
"Ich mache mir einfach Sorgen, dass irgendjemand lauscht."
"Sind da Tomaten drauf? Wenn ja, esse ich es trotzdem. Das heißt, solange du ihn nicht möchtest."
Anatol hatte sein Brötchen schon vor zehn Minuten aufgegessen.

"Anatol, hörst du mir überhaupt zu?"
"Es ist einfach schade, um das Essen, Aurelija."
Sie gab es auf, auf eine richtige Antwort zu hoffen und lenkte ihren Blick wieder auf den Eingangsbereich des Cafés, in der Hoffnung, die Person dort zu finden, auf die sie schon den ganzen Morgen lang gewartete hatten.

Ein Teil in ihr wünschte sich, sie würde gar nicht mehr auftauchen.
Das war der Teil, der sie dazu verleiten wollte, den Tisch zu verlassen und der einzigen Tätigkeit nachzugehen, die von ihr wirklich verlangt wurde, das Unterrichten.
Der Teil, der in ihr aktiv war, bevor Anatol sie einen Tag zuvor im Hörsaal wegen Nicolas' Plänen angesprochen hatte und sie somit ihr Vertrauen in die Elyktra vollkommen in Frage gestellt hatte.

Aber sie blieb sitzen.
Einfach weil sie wissen wollte, wissen musste, was es mit den abgebrochenen Projekten auf sich hatte.
Wie konnte sie auch all das ignorieren, was in den letzten zwölf Stunden an Fragen in ihrem Kopf aufgekommen waren.

Außerdem war sie sich nicht sicher, ob Anatol sie überhaupt gehen lassen würde, vor allem da es Aurelijas Idee gewesen war, Ane Salmela wegen eben dieser Fragen um Hilfe zu bitten.

Noch nervöser bei dem Gedanken an das kommende Gespräch wippte sie mit beiden Beinen auf und ab und brachte dadurch sogar den Tisch zum wackeln.
Anatols Hand, die sich bestimmend aber sanft auf ihr rechtes Bein gelegt hatte, brachte sie schließlich zum Innehalten.

Sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut, aber wagte es nicht, ihren eigenen von der Tür des Ladens abzuwenden.
Ane wollte sie nicht verpassen.

"Hey, kein Grund, panisch zu werden", hörte sie die ruhige Stimme Anatols an ihrem Ohr.
"Doktor Salmela ist überhaupt nicht furchteinflößend und ich bin mir sicher, sie wird sich unsere Bitte anhören."
"Wenn du meinst."
"Willst du jetzt deinen Bagel haben, oder nicht?"
"Er gehört allein dir."

Gierig griff er nach ihrem Teller und während Anatol mit Frühstück Nummer zwei beschäftigt war, erschien auch endlich ihre ersehnte Verabredung im Eingang des Cafés.

Anatol hatte Recht gehabt.
Ane Salmela war alles andere als furchteinflößend.
Nein, sie war wohl eher niedlich.
Klein mit zerzausten Haaren und ein schiefes aber freundliches Lächeln auf dem Gesicht, als sie sich im Geschäft nach Aurelija und Anatol umsah.
Ihre Augen leuchteten, als sie Aurelija an ihren Tisch winkte.

"Bitte verzeiht meine Verspätung. Ich hatte einen kleinen Zwischenfall im Labor", erklärte sie, offensichtlich durch den Wind, und zeigte auf ihren wohl ehemals weißen Laborkittel, der von unzähligen Farben befleckt war, ehe sie die Hände von den beiden Lehrern schüttelte und sich an ihrem Tisch einfand.

"Ach, kein Problem", sagte Anatol und blickte von seinem neu ergatterten Bagel auf.
"Wir haben bereits gegessen, aber falls sie noch etwas wollen-"
"Oh, nein danke. Ich esse kein Frühstück", unterbrach die Wissenschaftlerin Aurelijas Angebot und lächelte etwas nervös.
Aurelija nickte verstehend und platzierte ihre Hände ebenfalls nervös auf ihren Oberschenkeln unter dem Tisch.

"Nun, was ist es, worüber Sie mit mir reden wollten? Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss mich schon bald wieder ins Labor begeben."
"Oh, nein, das verstehen wir. Sie sind eine vielbeschäftigte Wissenschaftlerin und wir wollen Sie wirklich nicht in Ihrer Arbeit stören, aber wir wollten Sie um einen kleinen Gefallen bitten, sofern das für Sie nichts ausmacht", begann Aurelija und wechselte einen kurzen Blick mit Anatol, der zustimmend nickte.

"Selbstverständlich, was wäre das denn für ein Gefallen?"
"Nun, da Professor Wesley und West durch die Mission anderweitig beschäftigt sind und wir mehr oder weniger allein mit der Unterrichtsübernahme gelassen worden, hatten wir überlegt, ob es nicht spannend für die Schüler wäre, einen kleinen Exkurs in die Laborräume zu machen. Außerdem könnte man Professor Wesleys Schüler so gleich das Projekt ihres Lehrers näherbringen. Das wäre doch äußerst interessant, nicht wahr?", übernahm nun Anatol das Reden.

Aber Anes strahlendes Lächeln hatte sich währenddessen in ein peinlich betretenes verwandelt und ihr Blick wanderte über den Tisch, der sie von den Lehrern trennte, bis zu ihren darauf ruhenden Händen.

"Das ist in der Tat sehr interessant, da muss ich Ihnen zustimmen. Und ich finde es wirklich toll, dass sie versuchen, den jungen Menschen hier die Wissenschaft und Technik noch näher zu bringen, aber da muss ich Sie leider enttäuschen."
Sie presste ihre Lippen angespannt aufeinander und sah nun von Aurelija zu Anatol.

"Wie ich Ihnen Mr. Lowlaze bereits mitgeteilt habe, ich darf eigentlich nicht viel über Professor Wesleys Projekt sagen und dementsprechend auch definitiv keine Schulklassen daran Teil haben lassen."

"Das verstehen wir", versicherte Aurelija, in der Versuchung, ihre Bitte doch durchzudrücken.
"Aber wir wären auch mit einer einzigen Führung durch die Laborräume zufrieden."

Ane schüttelte bedauernd den Kopf.
"Wenn es nach mir ginge, auf jeden Fall. Aber wir wurden deutlich angewiesen, dass die Laborräume nun nur noch von anderen Wissenschaftlern oder Elyktrabewohnern mit Befugnis betreten werden dürfen. Darunter zählen keine Lehrkräfte, so leid es mir tut."

Verdammt.
Was sollten sie jetzt tun?
Wie sollten sie sonst herausfinden, was es mit Nicolas' Projekt auf sich hatte?
"Gibt es nicht eine Möglichkeit, dass wir-"
"Tut mir leid, ich muss jetzt wirklich wieder los."

Ane war so schnell aufgesprungen, ehe Anatol seinen Satz beenden konnte und ohne dass die beiden noch ein Wort sagen konnten, hatte sie sich auch schon wieder aus dem Staub gemacht.

"Na, super", stöhnte Aurelija und legte ihren Kopf auf dem Holz des Tisches ab.
"Das hat ja toll geklappt."
"Ich verstehe das nicht", sagte Anatol irritiert.
"Was ist denn an diesem Projekt so unglaublich toll?"
"Nicolas muss ein Genie sein", murmelte Aurelija.
Sie war noch immer müde von der letzten Nacht, sie hatte vielleicht zwei Stunden höchstens geschlafen, ansonsten hatten sich die Lehrer nur mit Verschwörungstheorien beschäftigt.

"Und was machen wir jetzt?"
"Wir haben immer noch den Schlüssel zu Nicolas' Wohnung. Das ist ja wohl der Ort, wo wir neben dem Labor am ehesten was herausfinden", schlug Anatol vor.
Er war nun auch mit Aurelijas Bagel fertig.
Sie machte ein zustimmendes Geräusch und erhob sich schließlich.

"Dann treffen wir uns heute Abend nach dem Unterricht bei dir und schauen uns dann die Wohnung an?"
"Klingt gut, aber iss davor noch was. Dein Magen hat während des Gesprächs gerade so laut gebrummt, du hast das Baby zum schweigen gebracht."
"Du bist ein Idiot."
Aurelija konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

Anatol hatte so gut wie die gesamte Nacht auf seinem Sofa verharrt und darauf gewartet, dass Aurelija vor seiner Tür auftauchen würde, aber es ertönte weder ein Klingeln, noch ein Klopfen an der Tür oder Fußschritte im Flur.

Er erhielt auch keinerlei Nachrichten, dass sie sich verspäten oder gar nicht kommen würde.
Auch nicht, nachdem Anatol bereits mehr als nur ein paar irritierte und tragende Nachrichten an ihre Nummer gesendet hatte, obwohl er wusste, dass er sie am Morgen bereuen würde.

Irgendwann war er auf dem Sofa eingeschlafen und am nächsten Tag mit fürchterlichen Rückenschmerzen aufgewacht.
Auch dann, keine Nachrichten, keine Anrufe, gar nichts.
Aurelija war nicht gekommen.

Er war nicht aufgebracht oder genervt, einfach nur verwirrt und auch ein wenig besorgt.
War ihr etwas zugestoßen, oder hatte sie ihre Verabredung einfach vergessen?
Nein, Aurelija vergaß keine Verabredungen, sie kam auch nie zu spät.
Etwas musste vorgefallen sein.

Seine Benuruhigung stieg, als er sie nicht einmal bei ihrer eigenen Wohnung vorfinden konnte.
Es war weder Familie noch Aurelija selbst da, um die Tür zu öffnen und Anatol stellte fest, dass er nur seine Zeit damit verschwendete, vor ihrer Türschwelle herumzustehen.

Würde sie nicht bei den Hörsälen auffindbar sein, dann würde er ihr Verschwinden bei der Leiterin melden müssen, oder sogar beim Militär.
Aber er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Außerdem musst er selbst pünktlich zu seinem Unterricht gelangen.

Es war bereits am dämmern, als Anatol endlich fertig mit seinem Unterricht, seiner zusätzlichen Arbeit und der Vertretung für Professor Wesley war.
Dabei hatte er kaum Zeit gehabt, nach Aurelija zu schauen, aber er hatte definitiv die Stimme einer Frau gehört, bevor er mit seiner letzten Stunde fertig geworden war.

Er verabschiedete seine Schüler und nachdem er auch alle restlichen Fragen und Angelegenheiten geklärt und seine Sachen beisammen hatte, führten ihn seine Beine auf direktem Wege in den nebenan liegenden Hörsaal.

Der Raum war leer und dunkel, bis auf die Lampe am Lehrerpult brannte kein einziges Licht.
Auf den ersten Blick war auch keine Menschenseele zu erkennen, doch dann erkannte Anatol die Umrisse einer Gestalt in einer der letzten Tischreihen im Saal.
Beim Näherkommen stellte er erleichtert fest, dass es Aurelija war.

Bei dieser Erkenntnis beschleunigte er seine Schritte und als er endlich bei ihr angelangt war, sah er, dass sie den Kopf gesenkt in ihren Händen vergraben hatte.

"Aurelija? Wo warst du gestern Nacht? Ich hatte auf dich gewartet."
Keine Bewegung.
Keine Antwort.

"Ist- Ist alles in Ordnung? Du siehst etwas mitgenommen aus."
Vorsichtig trat er noch näher an die Lehrerin heran und platzierte sich vor ihr, sodass er sich an einer weiteren Sitzbank hinter ihm anlehnen konnte.

"Ich war bei dir Zuhause, aber es hat niemand aufgemacht und den ganzen Tag über warst du auch nicht hier. Wo warst du dann?"
Daraufhin hob sie den Kopf, aber sie schaute ihn nicht an.

"Es ging mir nicht so gut, hab den Unterricht abgesagt."
Sie hatte die Stimme gesenkt, Anatol musste sich anstrengen, um die Wörter zu verstehen.
"Und, geht's dir jetzt wieder besser? Ich hätte deine Schüler übernehmen können."
Sie nickte langsam.

"Anatol?"
"Ja?"
Würde sie ihn nur einfach anschauen.
Anatol hasste es, wenn er das Gefühl hatte, mit einer Mauer zu reden.
Vor allem, da ihn Aurelija momentan echt Angst bereitete.

"Ich bin raus."
Er stutzte.
"Was meinst du?"
"Ich bin raus. Ich will mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben. Und das solltest du am besten auch nicht."

Anatol verzog sein Gesicht und blickte kurz verloren im Hörsaal hin und her.
Was war in sie gefahren?
Ausgerechnet jetzt wollte Aurelija aufhören?

"Hast du Angst? Ist es das? Du bist nicht alleine, Aurelija. Ich bin da. Wir passen aufeinander auf, okay?"

Sie schüttelte den Kopf, ihr Gesicht verzog sie zu einem merkwürdigen Ausdruck, den Anatol nicht ganz deuten konnte.
Doch sie wirkte, als würde sie ihm etwas sagen wollen, aber die Worte kamen nicht über ihre Lippen.

So langsam geriet Anatol in Panik.
Was war los?
Hatte man sie im Labor erwischt?

"Aurelija, ich möchte dir helfen. Aber dafür musst du mit mir reden, okay?"
Er hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und wartete nun ungeduldig und besorgt zugleich auf die Antwort der Lehrerin.

Die junge Frau schluckte und atmete zitternd ein und aus, ihr Blick lag noch immer starr auf dem Boden, von Anatol abgewandt.
"Sie haben sie gefeuert."
"Wen? Wer hat wen gefeuert?"

Aurelija erhob nun die Augen zur Decke des Hörsaals, als würde sie so der Unterhaltung entfliehen können.

"Meine Schwester, Anastasia. Irgendwie ist herausgekommen, dass vertrauliche Informationen weitergegeben worden. Sie hatte als letztes die Datenbanken aktualisiert, also..."
Sie beendete ihren Satz nicht, machte nur eine abschweifende Bewegung mit ihren Händen.

"Das ist unsere Schuld, Anatol. Unseretwegen ist meine Schwester ihren Traumberuf los, und was hat das uns gebracht? Nur weitere Fragen."

Nein, einen Teil der Wahrheit.
Aber diesen Gedanken sprach Anatol nicht aus.
Er wusste nicht, wie er auf das, was Aurelija ihm eben mitgeteilt hatte, reagieren sollte, was er sagen sollte.
"Das tut mir leid."

Sie gab ein sanftes Lachen von sich, aber dabei lächelte sie nicht und sah weiterhin schweigend hinauf zur Decke.

"Aber das gibt uns nur einen weiteren Grund, der Sache auf der Spur zu bleiben. Das ist alles so bescheuert und merkwürdig, da musst du mir zustimmen. Sie würden sie nicht einfach so feuern, wenn da nicht etwas ganz Komisches abgeht. Was ist, wenn Ane irgendwie gemeldet hat, dass wir an Nicolas' Projekt interessiert sind. Möglich wär es schon."

Aurelija schüttelte erneut, dieses Mal fassungslos, den Kopf.
Anatols Bemerkungen schienen an ihr abzuprallen, wie an Panzerglas.

"Anatol, wir sind zu weit gegangen", sagte sie schließlich, aber sie wirkte alles andere als entschlossen.
"Heißt das, du willst einfach aufhören? Jetzt, wo die Sache wirklich unheimlich wird? Da willst du einfach den Schwanz einziehen und alles ignorieren, was wir herausgefunden haben?"

Aurelija sah ihn noch immer nicht an, als würde sie sich schämen, Augenkontakt mit ihm herzustellen.
Am liebsten hätte Anatol sie mit beiden Händen gepackt und kräftig durchgeschüttelt, bis sie wieder bei Verstand war.
Stattdessen nahm er einfach einen weiteren Schritt auf sie zu und legte behutsam beide Hände auf die zarten Schultern der Lehrerin.

Er drückte nicht einmal ein bisschen zu und trotzdem schien sie fast unter der Berührung zusammen zu brechen, ihr Atem war so flach, dass Anatol ihn kaum spüren konnte.

"Aurelija", flüsterte er und dabei sprach er ihren Namen auf eine Art und Weise aus, wie er es noch nie getan hatte.
Als würde sie sich vor seinen Augen in Luft auflösen, wenn er es nicht tat.

Und tatsächlich tat sie nun endlich das, was er vor ein paar Momenten von ihr verlangt hatte.
Sie sah ihn an.
Ihre tiefblauen Augen auf gleicher Luftlinie wie die seinen olivgrünen.
"Aurelija", wiederholte er ihren Namen.
"Es gibt jetzt kein Zurück. Weder für dich, noch für mich. Wir sind da jetzt mittendrin."

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