1. Kapitel

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„Khala! Wo bist du?" Eine heisere Stimme durchdrang die Nacht wie ein Donnerschlag und war doch so schwach, dass sie sofort von der Dunkelheit verschluckt wurde. Finsternis beherrschte alle Sinne und jedes Geräusch bis auf ihren eigenen Atem war ausgelöscht worden. „Khala!" Ihr Ruf war schwer vor Verzweiflung. Mehr ein Winseln, ein leiser Hilfeschrei. Doch Khala kam nicht. Khala war fort. Angst und Panik tobten in ihrem Körper wie ein dunkles, wütendes Meer und ihr Atem war so abgehackt, als hätte ein anderer die Kontrolle darüber.

Sie spürte Schmerzen. Riesige Schmerzen. So gewaltig, dass sie jeden Bewegungsversuch unterbanden. Sie lag einfach nur da, wand sich in Schmerz und versuchte zu begreifen, was geschehen war.

„Mama! Taupelz! Funkenpfote!" Die Namen klangen falsch. Unbekannt. Schmeckten nach Verrat. Trauer. Hass. Doch wurden sie nichtig, egal, uninteressant im Beisein dieser Qualen, die ihren Körper zerrissen.

Sie versuchte, zu fliehen, sich zu wehren, doch ihr Körper bewegte sich nicht. Ihr Rufen wurde zum Schreien und Kreischen. Sie suchte nach dem Grund und sah nach unten.

Es war nicht ihr Kreischen. Nicht ihr Schreien. Es waren Monster. Entstellte Kreaturen, fauliges Fleisch, schwarze Zähne, herausquellende Organe, rote Augen.

Und sie fraßen sie auf. Hatten ihre Klauen in ihrem Körper versenkt und rissen ihr das Fleisch von den Rippen.

Immer weiter.

Die Haut.

Die Muskeln.

Die Sehnen.

Das Fett.

Die Eingeweide.

Dann die Knochen.

Das letzte, was sie sah, waren ein Paar feuerrote Augen, in denen ein blutiger Sturm gefangen war.

Moospfote fuhr schreiend und panisch um sich schlagend aus dem Schlaf. „Weg! Lasst mich! Haut ab! Hil..." Sie blinzelte. Die Schmerzen waren immer noch da. Träumte sie noch? Ein Blick auf ihren Körper erinnerte sie daran, was sie die letzten Tage erlebt hatte und wo sie sich gerade befand. Die Wunden, die Khala gerissen hatte, hatten aufgehört zu bluten, doch sie waren so groß und so tief, dass die Bewegung ihres Schlafes gereicht hatten, um den Schorf wieder aufplatzen zu lassen. Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Beine waren zerfetzt, ihr Rücken ebenfalls, gewaltige Bisswunden überall. Moospfote fragte sich, wie sie überhaupt hatte einschlafen können. Dieser künstliche Boden war brockenhart, immer wenn sie aus Versehen ihre Krallen ausfuhr, erzeugten sie ein grässliches, quietschendes Geräusch auf dem Untergrund und das gleiche galt für die Gitterstäbe. Wie so oft in den vergangenen Tagen – sie hatte schon längst das Zeitgefühl verloren – öffnete sie ihr Maul und umschloss einen der harten Äste und versuchte, ihn zu brechen. Vergeblich. Moospfote schnaubte enttäuscht und öffnete immer wieder das Maul in der Hoffnung, den ekelhaften Geschmack loszuwerden. Irg. Was beim SternenClan ist das nur? Widerlich.

Sie blinzelte erneut und gähnte, dann stand sie auf und drückte ihre Schultern fest gegen die Decke im Versuch, ihre steifen Beine zu strecken. Aber weder hatte Moospfote dafür genug Platz, noch ließen ihre Schmerzen ihr eine andere Wahl, als den Versuch abzubrechen. Resigniert sackte die Ozelotin wieder auf den kalten, glatten Boden. Sie wollte raus hier. Sie wollte zurück zu ihrem Clan. Zu ihrer Familie. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen?

Mit einem kraftlosen Seufzer ließ Moospfote ihr Kinn wieder auf ihre Pfoten sinken. Ihre Schweifspitze zuckte unruhig hin und her. Wenn es doch nur irgendeinen Weg aus diesem Gefängnis gäbe. Doch sie hatte alles versucht. Gegraben, gerissen und gerüttelt, gedrückt, geschlagen. Alles saß bombenfest. Keine Chance. Am Ende waren all ihre Bemühungen nur gefährliche Energieverschwendung für ihren ausgezehrten Körper. Seit sie eingesperrt worden war, war der Zweibeiner nicht wieder aufgetaucht. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber der Durst und der Hunger machten sie wahnsinnig. Als ob ihre Wunden nicht genug schmerzen würden, nun quälte sie auch ihr Magen.

Während ihre Ohren abwechselnd nach vorne und nach hinten zuckten, klopfte Moospfote nach einer Weile mit ihrer Schwanzspitze gegen die anliegende Wand. Es erzeugte einen seltsamen, hohlen Ton. „Bist du wach?", fragte sie in die Stille hinein, die keine war. Ekelerregende Laute hallten im Hintergrund, die Schreie anderer gefangene Tiere, die besessen geworden waren, Moospfote hatte sich jedoch bereits an sie gewöhnt, sodass sie sie mittlerweile ausblenden konnte. Ab und zu konzentrierte sie sich auf ein bestimmtes Tier, bis das Schreien immer leiser wurde und sie sich bewusst geworden war, dass sie den Tieren beim Verdursten und Verhungern zuhörte.

Ein missmutiges Grunzen war die Antwort. Es klang kratziger und schwächer als beim letzten Mal. Besorgt hob Moospfote den Kopf und starrte die Wand an, als wäre es der Ozelot. „Alles in Ordnung? Du klingst noch ausgetrockneter seit unserem letzten Gespräch." Knurren. „Natürlich tue ich das. Du auch. Wir verhungern und verdursten, schon vergessen?" Moospfote hätte sich schlagen können. Was für eine dumme Frage. Ihr Nachbar war ja schon deutlich länger gefangen, als sie. Sein Durst und Hunger mussten ihn umbringen. „Tut mir leid", seufzte Moospfote entschuldigend und schloss die Augen, um sich besser auf die Stimme des Ozelots konzentrieren zu können, was in dem ständigen Lärm nicht einfach war. Sie konnte ihn nicht sehen, da die Wand zwischen den Käfigen nicht aus Gitterstäben bestand, sondern aus dem gleichen undurchsichtigen Material wie der Boden und die Decke.

Plötzlich viel ihr ein, dass sie noch gar nicht nach dem Namen ihres Zellnachbarns gefragt hatte. „Wie heißt du eigentlich?" Lange bekam sie als Antwort nichts als Schweigen. Sie machte sich schon Sorgen, ob er vielleicht ohnmächtig geworden war, doch nach einiger Zeit drang seine schwache Stimme durch die Wand. „Kaiyrv m' Enja. Oder Kai." Jedes seiner Worte schien ihn unglaublich anzustrengend, starkes Keuchen begleitete seine Worte. „Einfach Kai." Überrascht hob Moospfote den Kopf. „Das ist aber ein seltsamer Name! Und so haben dich wirklich deine Eltern benannt?" Wieder eine lange Pause. Dann: „Nicht meine Eltern. Hyrash, unser Höriger." Höriger? Diese Baumkatze sprach in Rätseln. Moospfote widersprach dem Drang, sofort fragend nachzuhaken und verriet stattdessen ihren eigenen Namen, was Kai ein belustigtes Schnauben entlockte. „Und du nennst meinen Namen seltsam? Wer benennt den bitte sein Kind nach Moos und einer Pfote?" Beleidigt schnippte sie mit dem Schweif gegen die Wand. „Hey, der Name ist schön. Bald bekomme ich meinen Kriegernamen, dann klingt er sicher besser, wart's nur ab." Scheinbar verlieh ihre Unterhaltung Kai wieder etwas Kraft, denn nun war es er, der die Fragen stellte. „Krieger? Sind das sowas wie die Kronenwachen?" „Kronenwachen?" „Die, die euer Oberhaupt beschützen?" „Hm... Könnte man so sagen." Kai antwortete mit einem brüchigen Schnurren. „Ich war in der Ausbildung zur Kronenwache, als die Aufrechtgeher gekommen sind und mich verschleppt haben." Seine Stimme bebte vor Wehmut und Bitterkeit und Moospfote schwieg bedrückt, weil sie wusste, dass Kai gleich fortfahren würde. Das tat er nach einem kurzen Moment auch. „Sie sind mit ihren langen Stöcken und großen Käfigen gekommen und haben fast den ganzen Stamm der Baumkatzen eingefangen. Manche haben sie getötet. Wir sind weggelaufen, aber ihre Stöcke schießen Pfeile, die uns selbst dann noch erwischen, wenn wir schon denken, wir wären entkommen." Schweigen. Obwohl sie ihm am liebsten ein paar tröstende Worte geschenkt hätte, wusste sie, dass sie ihn gerade nicht stören durfte. Es bedeutet ihr viel, dass Kai ihr seine Vergangenheit offenlegte trotz des Schmerzes, den das Erzählen wohl bei ihm Auslösen musste. „Die leeren Käfige um uns herum waren alle gefüllt mit meinen Freunden, Verwandten, Stammkameraden. Aber einen nach dem anderen haben diese Monster geholt. Dort drüben", er deutete mit seinem Schweif an ihrem Käfig vorbei auf einen geschlossenen, aber gefüllten Käfig schräg gegenüber,"... lagern sie ihre Felle. Ich erkenne jeden einzelnen von ihnen."

Moospfotes Augen weiteten sich voller Entsetzen. Plötzlich standen ihr die Tränen in den Augen. Wie grausam. Wie unfassbar grausam. Sie konnte nicht begreifen, wie Kai diesen schrecklichen Anblick ertragen konnte ohne seinen Verstand zu verlieren. Sie selbst hatte die Tiere, denen ihre Haut und ihr Fell geraubt worden war, nicht gekannt, doch sie konnte den Stapel kaum eine Sekunde ansehen. Mit üblem Geschmack in ihrer Kehle vergrub sie ihre Schnauze wieder zwischen ihren Pfoten. Sie wusste nicht was sie sagen sollte. Kein Wort würde das Mitleid vermitteln können, das sie gerade empfand. Kai schöpfte wohl neue Kraft aus dem Hass, der in seinem Fauchen lag, denn er fuhr fort. „Manchmal haben sie Felle geholt und weggebracht. Keine Ahnung, was sie damit tun. Und wahrscheinlich haben sie auch ein paar am Leben gelassen, ich kann nämlich ein paar meiner Freunde nicht unter den Pelzen finden." Die kurz gewonnene Stärke schien unter der Mutlosigkeit zusammenzusacken. Die Worte wurden zu einem gebrochenen Flüstern. „Aber was weiß ich, wo sie sie hingebracht haben. Hier sind sie jedenfalls nicht mehr." Kai knurrte leise, doch es klang nicht trotzig. Nur einsam, verlassen, schwach und hoffnungslos. „Und ich werde hier auch sterben. Die Zweibeiner sind weg, aber ohne ihr Futter sind wir alle dem Tod geweiht."

Es war schrecklich, Kai zuzuhören. So gebrochen. So verzweifelt. Diesem ausweglosen Schicksal ergeben. Es war ansteckend. Wer die Hoffnungslosigkeit akzeptiert, wird von ihr hinuntergerissen in einen Strudel, dem man nicht mehr entkommt und auf dessen Grund der Tod wartet. Moospfote wollte aufspringen und ihn aufmuntern, doch ihr viel nichts ein, womit sie das bewerkstelligen könnte. Es gab keinen Weg hinaus. Und wer sollte ihnen Futter bringen? Sie wollte es nicht zugeben, aber Kai hatte recht. Wenn kein Wunder geschehe würde, waren sie alle schon so gut wie tot. Doch das letzte, was Moospfote jetzt wollte, war seine Stimme verstummen zu hören. Also fragte sie: „Kannst du mir mehr erzählen? Über den Ort, von dem du kommst? Sind alle Tiere hier von dort?" Wieder folgte eine lange, schwere Stille. Diesmal war sie so lange, dass Moospfote sich sicher war, dass er entweder nicht antworten wollte oder sein Bewusstsein verloren hatte. Als sie also bereits keine Antwort mehr erwartete und sich enttäuscht eingerollt hatte, war sie überglücklich, als das tiefe Brummen wieder an ihr Ohr drang. „Vielleicht nicht alle, aber die meisten." Pfeifendes Einatmen. „Wir kommen aus dem Regenreich. Es liegt sehr, sehr weit weg von hier. Wir sind ewig gefahren, bis wir hierher gebracht wurden." Erneut musste Kai eine Pause einlegen und ein schlechtes Gewissen schlich sich bei Moospfote ein, da sie ihn darum gebeten hat, seine letzten Reserven für das Erzählen aufzubrauchen. „Das Regenreich ist ein riesiges Gebiet, der Großteil ist mit dichtem Wald bewachsen, ein immergrüner Dschungel und es regnet unheimlich viel. Es gibt eine weite Graslandschaft mit weniger Bäumen, die Steppen und Savannen. Die Tierstämme, die dort leben..."

Plötzlich ertönte ein lautes Scheppern und unregelmäßiges Fußstapfen war unter dem anschwellenden Gebrüll und Geschrei der gefangenen Tiere erkennbar. Schon bald stellte Moospfote angespannt fest, dass er sich in ihre Richtung bewegte, weitergescheucht von den besessenen Tieren, die natürlich versuchten, den Zweibeiner zu attackieren. Kai war ebenfalls verstummt. Die Sinne zum Zerreisen gespannt erwarteten sie, was passieren würde.

Tatsächlich. Nach ein paar Augenblicken tauchte die große Gestalt ihres Geiselnehmers auf, doch er hatte sich stark verändert. Sein Fell war schmutzig und zerrissen, das auf dem Kopf nur noch ein filziger Klumpen. Seine Augen waren rot geschwollen und seine Haut hatte einen ungesunden grünen Ton. Als er sich ihnen näherte, schwankte er hin und her, als könne er nicht richtig laufen und auch seine Laute waren undeutlicher und kratziger. In seiner linken Pfote hielt er einen Gegenstand, den er immer wieder wackelig an sein Maul führte und daraus trank. In seiner rechten hielt er eine viereckige Scheibe, in die er wie gebannt hineinstarrte. Seltsame Geräusche drangen daraus hervor. Dann, unerwarteterweise, blieb der Aufrechtgeher genau bei Moospfotes und Kais Käfig stehen, wankte etwas hin und her und sackte dann an den gegenüberliegenden Käfigen hinab auf den Boden. Sein trüber, wirrer Blick schweifte die beiden Ozelote, die sich verängstigt gegen die Wände ihrer Käfige drückten. „Scheiße, ihr lebt ja noch.", lallte er unverständlichen Laute und blickte wieder in seine Scheibe. „So ne Scheiße. So ne Kacke. Verdammte Scheiße, verdammte." Immer wieder schüttelte der sauer stinkende Aufrechtgeher seinen Kopf und klopfte mit dem grünlichen Trinkbehälter auf den Boden. Das Geräusch war hohl und durchdringend. Dann plötzlich holte er aus und zerschlug das Gefäß mit einem lauten Krachen auf dem Boden, sodass scharfe Splitter in alle Richtungen flogen. Einer erwischte Moospfote an der Wange und sie winselte erschrocken. Neben ihr schrie Kai leise auf, wahrscheinlich hatte ihn auch etwas getroffen. Moospfote wollte ihm helfen, war aber in Schockstarre gefallen. Mittlerweile hatte der Aufrechtgeher den Rest des Trinkgefäßes losgelassen und mit seiner blutigen Hand raufte er sich nun das Fell auf seinem Kopf. Dabei schüttelte er immer wieder heftig den Kopf, schlug ihn gegen die Gitterstäbe hinter sich und stieß seltsame, quäkende Laute aus. Irgendwann begriff sie, dass er weinte, das Wasser floss seine Wangen in Strömen hinab. „Verdammte Scheiße. Verdammt, verdammt, verdammt." Sein Zetern und Jaulen wurde immer lauter, bis er seinen ganzen Körper so heftig gegen die Käfige warf, dass Moospfote den Geruch von Blut – das nicht ihr eigenes war – riechen konnte. Geschockt und hilflos duckte sich Moospfote so tief sie konnte und beobachtete den Rasenden voller Angst.

Kurz darauf wurde er auf einmal ruhig. Er schloss die Augen und stammelte etwas vor sich hin. Doch es klang gefasster und ruhiger. „Heilige Mutter Maria, allmächtiger Gott im Himmel. Richtet mich, wie ich es verdient habe. Bitte vergebt mir meine Sünden und empfangt mich im Himmel." Er vollführte eine Handbewegung vor seiner Brust und seiner Stirn.

Dann zog er etwas Schwarzes hervor und hielt es sich seitlich gegen den Kopf. Ein ohrenbetäubender Schuss zerriss die stickige Luft. Eine blutige Fontäne schoss aus dem Kopf des Zweibeiners und der Körper sackte zur Seite. Kurz schien er unentschlossen, wohin er fallen sollte, dann kippte er schräg nach vorne und kam mit einem dumpfen Schlag vor Moospfotes Käfig auf. Das Blut aus seinem Kopf wurde langsam mehr und mehr, bis sich eine weite Blutlache um ihn herum gesammelt hatte. Fast wäre es in Moospfotes Käfig geflossen, doch durch den erhöhten Boden erreichte es nur den Rand.

Sofort vergaß Moospfote ihren Schock. Ihre Überlebensinstinkte ergriffen Besitz von ihr. Ihr Körper schoss nach vorne und ihre Schnauze presste sich durch die Gitterstäbe. Sobald das Blut ihre Kehle hinunterrann, gab es kein Halten mehr. Moospfote schnaubte und prustete, drückte sich gewaltsam gegen die Stäbe, um an so viel Flüssigkeit zu kommen, wie möglich und mit jedem Schluck spürte sie das Leben in ihren ausgezerrten Körper zurückkehren. Lautes Scharren und Schnauben verriet ihr, dass auch Kai das lebensrettende Blut aufsaugte. Es schmeckte so gut. So unglaublich gut. Mehr. Ich will mehr! Es frustrierte sie, von den Stäben zurückgehalten zu werden und alles Rütteln, Drücken und Schlagen wahr sinnlos. Und trotzdem versuchte sie es immer wieder. Vielleicht war es das Blut, das ihr die Kraft gab. Vielleicht auch die Tatsache, dass der Aufrechtgeher tot war und er der einzige Weg nach draußen gewesen war. Sie wusste es nicht. Aber sie drehte durch. Sie musste hier raus. Sie hielt es nicht länger aus. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit aus der Blutlache getrunken hatte, richtete Moospfote sich wieder auf.

„Kai!", schrie sie, während das Blut ihr vom Kinn tropfte und sie ihre Lefzen leckte. Es kam nur ein Grunzen als Antwort, der Ozelot war zu beschäftigt, sein Überleben zu sichern. „Kai, gibt es einen Weg nach draußen?" Doch der Angesprochene war im Blutrausch gefangen. Das Kratzen seiner Krallen erzeugte ein schreckliches Quietschen und übertönte ihr Rufen. Mäusedung. Es muss doch einen Weg hier raus geben! Ihre Augen suchten ihre Umgebung ab, immer und immer wieder. Und obwohl jeder erneute Versuch keinen Fortschritt brachte, wollte Moospfote nicht einsehen, dass es keinen Ausweg geben sollte. Da fiel ihr auf einmal die Scheibe auf, die der Zweibeiner bei seinem Tod fallen gelassen hat. Sie war nicht weit von Moospfotes Käfig entfernt in das Blut gefallen und spuckte weiterhin seltsame Geräusche aus. Misstrauisch reckte Moospfote den Hals und versuchte zu erkennen, warum die Scheibe auf der Oberfläche so herumzuckte. Viele unterschiedliche Farben in unnatürlich starker Intensität wechselten sich ab, sodass Moospfote bereits nach kurzem Zusehen Kopfschmerzen bekam. Oder vielleicht war das auch ihr Kreislauf nach dem plötzlichen Trinken von so viel Blut. Was konnte das sein? Was war das für ein seltsamer Gegenstand? Sie konnte den Blick nicht davon lösen. Wollte verstehen, was da abgebildet war.

Nach Stunden des Grübelns, Blinzelns und Kopfverrenkens war sie immer noch nicht weiter gekommen. Enttäuscht knurrte sie und schüttelt frustriert den Kopf. „Kai?", prüfte sie, ob der Ozelot ansprechbar war. Das war er. „Hm?" „Siehst du das Ding da?" Sie schob ihre Pfote durch zwei Gitterstäbe und deutete auf die im Blut liegende Platte. „Erkennst du, was das sein soll? Da bewegt sich etwas auf der Oberfläche, aber ich kann nicht erkennen, was es darstellen soll." „Lass mal sehen..." Sie hörte ein Schaben, als Kai seine Schnauze durch die Gitterstäbe presste, um besser sehen zu können. Schon nach wenigen Augenblicken sagte er: „Ach, das ist so ein Ding, wo die Aufrechtgeher Bilder von anderen Aufrechtgehern sehen können. Sieh mal genau hin. Erkennst du sie?" Moospfote fragte erst gar nicht, wie das möglich war. Aber nun erkannte sie es sofort: Das Ding zeigte Zweibeiner! Sie waren in unterschiedlichen Situationen. Sie erkannte Feuer, dicken schwarzen Rauch, Kämpfe, rote Augen, besessene Zweibeiner und tote, blutende Zweibeiner. Es sah nach Chaos aus. Unten am Rand liefen weiße Zeichen über die Oberfläche, die Moospfote nicht entziffern konnte. „LIVESTREAM: WELTWEIT MENSCHEN VON UNBEKANNTER KRANKHEIT INFIZIERT! EIN DRITTEL DER MENSCHHEIT BETROFFEN! MENSCHEN MUTIEREN ZU ZOMBIES! IST DAS DER WELTUNTERGANG? AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IM LIVESTREAM UND AUF ..."

Das einzige, das sie verstand, war, dass sich die gleichen Zeichen immer und immer wieder kamen. Aber sie verstand sie nicht, weswegen Moospfote schon bald das Interesse verlor und sich wieder der Frage widmete, wie sie entkommen konnte. Irgendwie hatte sie gehofft, dass das Flauschtier ihr wieder aus der Klemme helfen würde, aber sie hatte es seit ihrer Gefangennahme nicht mehr gesehen und da sie sein Rufen immer wieder hörte, war er wohl wieder eingesperrt worden. Auf seine Hilfe konnte sie sich also nicht verlassen. „Kai?" Ein plötzliches Schnauben verriet, dass sie ihn gerade aus dem Halbschlaf geweckt hatte. „Mmm?", brummte er müde und klopfte mit seiner Schwanzspitze gegen die Trennwand. „Wie nennt ihr diese weißbraunen Tierchen? Du weißt schon, das Tier, das bei mir war, als ich hierher gekommen bin." „Ah, du meinst das Kerlchen, das immer dieses Zweibeinerwort wiederholt?" „Genau." „Wir nennen sie einfach Astspringer. Es gibt sie in vielen verschiedenen Farben und Arten, aber sie alle ähneln ein wenig den Zweibeinern. Nur haben sie Fell, sind friedlich und leben mit uns im Wald. Nicht wie diese Monster." „Astspringer..." Grübelnd versank sie wieder ins Schweigen. Ihre Wunden schmerzten immer noch höllisch und die ganze Zeit im eigenen, abgestandenen Blut liegen zu müssen, war nicht gerade angenehm. Khala hatte sie wirklich übel zugerichtet. Immer wieder hob Moospfote ihre Hinterbeine an, sich wundernd, wie sie sich trotz der tiefen Bisswunden noch bewegen konnte und nicht verblutet war. Jetzt schütze ein dünner Schorf die Verletzungen, doch sobald sie sich zu viel bewegte, platze er gleich wieder auf. Das frische Blut hatte ihr ein wenig Kraft zurückgegeben, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis der Zweibeiner ausgeblutet war und zu verwesen beginnen würde. Der einzige, der wusste, wie sie aus diesem Gefängnis entkommen konnten, war tot. Es fiel Moospfote wirklich schwer, nicht die Hoffnung aufzugeben. Entkräftet und wenig zuversichtlich rollte sich Moospfote ein und hoffte, nicht wieder von Albträumen geplagt zu werden.

Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Denn kaum hatte sie ihre Augen geschlossen, erklangen leise Schritte, die nur von einem Zweibeiner stammen konnten. Mit rasendem Herz und panisch nach Luft schnappen sprang Moospfote auf, ignorierte ihre aufplatzenden Wunden und drückte sich hilfesuchend an die Trennwand. „Kai? Kai, bitte sag, dass du wach bist." Ihr Flüstern war erstickt vor Furcht. Kai war nah bei ihr und sie konnte sein aufgeregtes Atmen hören. „Ich bin da. Ich habe es auch gehört. Keine Angst." Fasst hätte Moospfote gelacht, dass er sie zu trösten versuchte, obwohl er selbst offensichtlich panische Angst hatte.

Die Schritte kamen näher. Doch sie blieben so leise. Es war ein vorsichtiges Schlurfen, vermischt mit einem Geräusch, das Moospfote nicht zuordnen konnte. Die besessenen Tiere um sie herum tobten und brüllten und immer wieder war ein angstvolles Aufquietschen zu hören. Das ist ein Zweibeiner... Moospfote wusste nicht, ob sie Panik oder Erleichterung spüren sollte. Ein Zweibeiner bedeutete Gefahr, Chaos, Tod. Aber er bedeutete auch Futter. Und Freiheit. Es dauerte länger als gedacht, bis die Schritte in ihrem Gang angekommen waren und ein dünner Schatten durch das künstliche Licht auf den blutbedeckten Boden fiel. Die Schritte verstummten. Eine lange Stille folgte. Dann bewegte sich der Zweibeiner endlich in ihr Sichtfeld. Er war sehr klein und war ebenso verwahrlost, wie der Tote zu seinen Füßen. Moospfote schätzte, dass er ein Junges sein musste, gerade mal alt genug, um laufen zu können und ein wenig von seiner Umwelt zu verstehen. Er umklammerte einen mit Pelz überzogenen Gegenstand und das Gesicht war unter dem ganzen Dreck von großen blauen Flecken übersät. Ist es verletzt? Das Junge stand mitten in der Blutlache und starrte hinunter auf den anderen Zweibeiner. Weder Schock, noch Trauer, noch Freude zeigten sich auf dem kleinen Gesicht. Es war vollkommen ausdruckslos.

Als es sich nach einer gefühlten Ewigkeit noch nicht bewegt hatte, überlegte Moospfote, ob sie auf sich aufmerksam machen sollte. Kai schien nichts in dieser Hinsicht unternehmen zu wollen, denn kein Laut drang aus seinem Käfig. Wahrscheinlich wollte er nur, dass das Abbild seines Hasses verschwand. Doch Moospfote spürte, dass von diesem Jungen keine Gefahr ausging. Vielleicht wusste es, wie man die Käfige aufbekam und konnte ihnen helfen. Es war ein Risiko, aber sie musste es eingehen.

Ich muss mein Versprechen halten. Ich muss meinen Clan beschützen und dem allen hier ein Ende setzen. Jetzt ist nicht die Zeit für falschen Stolz.

Also setzte Moospfote den flehendsten Blick ein, den sie zustande bringen konnte und warf all ihre Selbstachtung über Bord, um einen Zweibeiner anzubetteln.

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