✧ 6. Kapitel ✧

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DIE MÄUSE, die Seth für sie gefangen hatte, schmeckten einfach fantastisch. Vielleicht lag es an der Nahtoderfahrung oder ihrem Streit mit Hagel, aber diese Mäuse waren zehnmal so gut wie ihre erste Maus. Nelli und sie schnurrten mampfend vor sich hin.

Bis Sonnenhoch blieb es friedlich und ruhig auf der Lichtung. Als aber auch die letzten Katzen aus dem Zweibeinernest gekrochen kamen, wurde es so eng, dass das Fauchen und Knurren immer mehr zunahm. Als zwei ineinander verbissene Hauskätzchen beinahe die säugende Nelli getroffen hätten, wurde Lilly allmählich besorgter.

»Jetzt fängt das schon wieder an. Wir sind einfach zu viele.«, teilte sie ihre Sorgen mit Nelli. Die Kätzin mit den verschieden farbigen Augen schleckte sich gerade die letzte Reste Waldmaus von den Lefzen und verfolgte mit besorgter Miene die Rangelei der zwei raufenden Hauskätzchen. Und in der Mitte der Lichtung hatten sich gleich vier Katzen miteinander angelegt.

»Du hast recht, aber wo sollen wir hin?«, seufzte sie. Sie leckte Moos, die nun satt zwischen den beiden schlief, beschützend über den Kopf. »Die Hunde können immer noch da draußen sein. Vielleicht kommen sie zurück...« Furcht lag in ihrer Stimme. Beruhigend strich Lilly ihrer neuen Freundin mit ihrem Schweif über die Flanke. »Mach dir keine Sorgen, wir haben hier gute Beschützer.« Nelli nickte eifrig. Ihr blaues Auge schien mit dem Orangen um die Wette zu strahlen. »Ja, nicht wahr? Ist Seth nicht ein unglaublicher Kater?« Belustigt erkannte Lilly, dass Nelli dem weißen Streuner wohl verfallen war.

»Ich teile eure Sorge. Wir sollten etwas unternehmen.«

Erschrocken schnappte Nelli nach Luft, als ihr klar wurde, dass Seth alles mitgehört hatte. Er hatte ein neues Bündel Moos für sie gebracht und blickte nun ernst und nachdenklich auf die beiden Kätzinnen hinunter. Nellis Ohren liefen knallrot an, ihr Pelz brannte förmlich vor Verlegenheit, aber als Lilly in Seths Gesicht nach einer Reaktion suchte, konnte sie kaum eine Gefühlsregung erkennen. Stattdessen fuhr der Kater fort:

»Ich habe vor, alle Katzen, die jagen können, in Gruppen aufzuteilen und sie abwechselnd in den Wald zu schicken. Nimmt der Hunger unter den Katzen noch weiter zu, wird es zu ernsteren Kämpfen kommen.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, entschied sich dann aber dagegen. Er nickte ihnen beiden zu und machte sich auf die Suche nach seinen Jagdfreunden. Dann drehte er sich nochmals um und rief: »Und dass wir an diesem Ort nicht bleiben können, ist mir nun auch bewusst. Ich versuche eine Lösung zu finden.«

Bewundern schmachtete Nelli dem stolzen Kater hinterher. »Wow, ist er nicht fantastisch? Er nimmt all die Verantwortung auf sich...« Lilly sah Seth nach. Und nicht nur sie. Sie bemerkte wie sämtliche Kätzinnen ihre Köpfe nach ihm umdrehten und ihn anhimmelten.

Oh, oh. Du hast Konkurrenz, Nelli.

Und tatsächlich. Seth hielt Wort. Während die Sonne über den Himmel wanderte, bildete sich am Eingang des Zweibeinernests ein Haufen voller Mäuse und Vögel. Feierlich verkündete Seth am frühen Abend, dass diese Beuteansammlung von nun an Frischbeutehaufen heißen sollte. Erst sollten sich die Alten und die Kätzinnen mit Jungen bedienen, erst dann die Jüngeren. Brock persönlich hatte sich neben dem Haufen positioniert, um die Einhaltung dieser Regel zu überwachen. Als die ersten Hauskätzchen die wilde Beute probierten, teilten sich die Meinungen. Ein paar hatten deutliche Probleme mit all dem Fell und den Federn, andere wiederum waren begeistert von dem saftigen Geschmack des Fleisches. Was Lilly ebenfalls auffiel, war, dass Seth sich nun öfter mit dem grauschwarzen und dem langbeinigen Kater unterhielt. Seit der Eröffnung des Frischbeutehaufens lagen sie nicht weit von Lilly und Nelli entfernt beieinander und diskutierten heftig.

Mit einem Blick auf Nelli versicherte sie sich, dass Moos gut versorgt war, dann schob sie sich unauffällig näher an die drei Kater heran, um zu hören, worüber sie mit solch ernsten Mienen redeten.

»Und ihr seid euch sicher, dass wir alle die gleiche Katze gesehen haben? Das ist doch unmöglich.«, sprach gerade der große Läufer. Wie hieß er noch gleich? Fu... Fuku? Fudu? Fupu? Lilly konnte sich nicht erinnern.

»Ganz sicher. Wenn sie uns allen das gleiche sagt, wie kann es dann nicht ein und dieselbe Katze sein?«, antwortete ihm die raue Stimme des kleinen, dunklen Katers. Ihn konnte Lilly von ihrem Platz aus am besten sehen und sie war fasziniert von seinen lila schimmernden Augen. Verdutzt bemerkte sie, dass sein rechtes Auge zur Hälfte schwarz gefärbt war. Auch seine große Narbe auf der Schnauze machte sie neugierig. Woher er die wohl hat?

»Aber wer ist sie? Wer taucht den einfach in Träumen auf und gibt Ratschläge zu einer Situation im echten Leben?« »Ich weiß es nicht, aber wir können ihr dankbar sein. Die Jagdpatrouillen haben die erste Gefahr einer Eskalation gebannt. Vielleicht weiß sie auch, wie wir von hier wegkommen.« Seth sah seine zwei Mitwissenden an. »Hat sie euch noch etwas anderes gesagt, bis auf den Hinweis der Jagdpatrouillen?« Der Läufer antwortete nach einem kurzen Moment der Stille. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber sie hat mir ganz am Anfang die Schnauze auf die Stirn gelegt und gesagt, ich sei der Richtige. Was meinte sie damit?« Der alte Kater, der neben Seth wie ein Baby wirkte, fügte hinzu: »Etwas Ähnliches hat sie auch zu mir gesagt. Sie meinte: Ich glaube, auch bei dir liege ich richtig. Und dann hat sie mir ebenfalls die Schnauze auf den Kopf gelegt.« Seth nickte nachdenklich. »Das Gleiche habe ich auch geträumt. Es muss also etwas dahinterstecken. Lasst uns abwarten, ob sie uns wieder erscheint, bis dahin sollten wir dafür sorgen, dass hier alles ruhig bleibt. Rauch, bitte kümmere dich um die weitere Einteilung der Patrouillen. Sag ihnen, dass sie den Fuchsbau meiden sollen. Furo, du suchst dir ein paar kräftige Freunde und sorgst dafür, dass sich die Katzen nicht gegenseitig in Stücke reißen. Du musst es schaffen, alle Streitereien zu schlichten, wir können auf so engem Raum keine Kämpfe gebrauchen.« Er wartete, ob jemand einen Einwand erhob, doch die zwei Kater erhoben sich mit einem zustimmenden Schwanzschnippen und eilten in entgegengesetzte Richtungen davon, um ihren Aufgaben nachzugehen. Furo schüttelte dabei leicht ungläubig den Kopf.

Lilly stand ebenfalls auf und schlenderte zu Seth, so als wäre sie rein zufällig vorbeigekommen. »Worum ging es denn bei eurer kleinen Ratssitzung? Werden wir bald von hier fortgehen?«, fragte sie und lächelte unschuldig. Seth hatte sich ebenfalls erhoben und ragte wieder drei Köpfe über ihr. Es war wirklich unangenehm den Hals so verrenken zu müssen, nur um Seth in die Augen sehen zu können. Dieser lächelte gütig. »Ich denke, du bist im Bilde. Wir können nur warten, was uns diese mysteriöse Katze noch zu sagen hat. Ich habe das Gefühl, ich habe nicht zum letzten Mal von ihr geträumt.«

Lilly wäre am liebsten im Boden versunken. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie gelauscht hatte und es hatte ihn nicht gestört? Entschuldigend neigte sie den Kopf. »Tut mir leid, aber ich war wirklich neugierig.« Sie blinzelte ihn wissbegierig an. »Heißt das, ihr drei seid die neuen Anführer?« Seth legte den Kopf schief, als wäre das ein absurder Gedanke. »Anführer?« Er zuckte mit dem Ohr. »Ich weiß nicht so recht, bin ich das?« Lilly hätte fast laut losgelacht. »Soll das ein Witz sein? Du hast bis jetzt nichts anderes getan, als anzuführen und Leben zu retten und du denkst nicht, dass du ein Anführer bist?« »Aber... niemand hat dem zugestimmt... ist das wirklich in Ordnung für euch?« Echter Zweifel stand in seinen Augen. Lilly war überrascht, wie gegensätzlich dieser Kater sein konnte. Auf der einen Seite kaum Gefühle, ernst und stark und auf der anderen Seite vorsichtig und unsicher? Irgendwie machte ihn das noch sympathischer. Sie nickte. »Jeder hier ist froh, dass du hier bist. Du machst das großartig. Außerdem hast du auch noch eine Bestätigung von einer wildfremden Katze in deinen Träumen bekommen! Wenn das kein Zeichen ist!« Seth lachte. Es war ein tiefes, rumpelndes Schnurren. Seine tiefblauen Augen schimmerten dankbar. »Sieh an, du glaubst mir sogar. Furo ist auserwählt und glaubt trotzdem nicht, dass es richtig ist, auf Hirngespinste zu hören. Ich glaube, er fühlt sich nicht bereit, eine so große Verantwortung zu übernehmen ... Ach, Lilly, wie geht es der Kleinen? Moos, habe ich Recht?« Sofort begann Lilly zu schnurren. »Ihr geht es prächtig, willst du sie besuchen?« Seth schnurrte ebenfalls und begleitete die stolze Adoptivmutter zu Nellis Nest am Rand der Lichtung. Moos war wach und wagte gerade einen wackeligen Spaziergang auf Nellis Rücken. Als sie Seth und Lilly kommen sah, quiekte sie glücklich. Durch diese Ablenkung verlor sie den Halt und plumpste mit einem »Uff« ins Gras. Sofort war sie wieder auf den Beinen und tapste tollpatschig auf sie zu. »Mama! Ma... MA!« Lillys Herz quoll über vor Stolz. Kurz nach Sonnenhoch hatte sie ihr erstes Wort gesagt. Moos hatte es von einem Junges aufgeschnappt, das gleich neben Nelli am Bauch einer roten Kätzin lag. Sie hatte ein weiteres mutterloses Junge aufgenommen, das Seth unter den Katzen gefunden hatte. Zusammen mit ihrem schon größeren, eigenen Kind war sie zu Lilly und Nelli umgezogen. Schon jetzt mochte Lilly die schöne Kätzin. Sie war etwas scharfzüngig, im Grunde aber eine gutherzige Katze.

»Mama!« Lilly leckte dem kleinen Fellbündel über den struppigen Kopf. »Hallo, meine Süße. Ich habe dir jemanden mitgebracht!« Moos blickte mit großen Augen auf die riesigen Pfoten von Seth. Sie duckte sich fest auf das Gras und schob sich robbend auf die Pranke zu. Vorsichtig stupste sie das rötliche Fell an und quiekte entzückt, als ihre Schnauze im dichten Pelz verschwand. Dann blickte sie mit riesigen Augen am muskulösen Bein des Katers empor, doch ihr kleiner Kopf konnte sich nicht so weit nach hinten biegen, sodass sie verärgert maunzte und Lilly auffordernd ansah. Lilly hatte natürlich sofort verstanden. Vorsichtig packte sie die Neugierige am Nackenfell und hob sie so hoch wie sie konnte. Das reichte Moos. Völlig außer sich vor Freude fuhr sie ihre winzigen Krallen aus und fischte nach Seths langem Brusthaar. Sie quiekte und grunzte vor Begeisterung, während sie in Lillys Maul hin und her strampelte.

Die Sonne versank hinter den Bäumen, als Moos sich völlig erschöpft vom Herumtollen mit Seth und Funke, der Name des adoptierten Junge, an Lillys Schulter einrollte und in wenigen Sekunden eingeschlafen war. Lilly beobachtete sie liebevoll und lauschte ihrem summenden Schnarchen. »Sie hat etwas Besonderes an sich, findet ihr nicht?« Seth hatte es sich bei ihr und Nelli bequem gemacht und musterte Moos eindringlich.

»Sie ist keine Katze.«

Nelli sah verwirrt auf das Junge zwischen ihnen und dann wieder zu Seth. »Was... was meinst du damit? Natürlich ist sie eine Katze, was denn sonst?« Seth seufzte und spannte seine Schultern an. Lilly ahnte, dass er weiter ausholen würde. Womit sie recht behalten sollte.

»Die Zweibeiner haben sie vor Kurzem in dieses Zweibeinernest gebracht. Sie hatte einen ganz fremden Geruch an sich und sie behandelten sie auch anders als die übrigen Katzen, die dort eingesperrt waren.«

Sofort wollte Lilly Fragen über Fragen stellen - eingesperrte Katzen? Woher wusste er wie Moos roch? War er auch eingesperrt gewesen? - doch sie zügelte ihre Ungeduld und wartete darauf, dass Seth fortfuhr.

»Mein Bruder und ich wurden bei den Zweibeinern geboren. Diese Zweibeiner steckten uns in Käfige und ließen immer wieder Katzen – und auch Hunde - gegeneinander kämpfen. Sie brachten es uns bei, indem sie uns lange nichts zu Fressen gaben und uns dann den Kampf von älteren Katzen zeigten. Die siegreiche Katze bekam Fressen, der Verlierer nichts. Es war eine klare Botschaft.«

Voller Grauen lauschten die Kätzinnen Seths Schilderungen. Wie stickig und stinkend die Luft war, wie der Geruch von Blut nie verflog, wie Zweibeiner kamen und gingen, wie sie von Ort zu Ort zogen, wie Seth schon früh gegen viel ältere Katzen kämpfen musste, wie der Kampf erst endete, wenn die andere Katze nicht mehr stehen konnte, wie Seths Bruder geboren wurde und die Zweibeiner ihn behandelten. »Er war extrem dürr und schwach, schon als er seinen ersten Atemzug tat. Außerdem fehlte ihm ein Ohr und ein Auge war trüb – Geburtsfehler...« Mitleid schwang in Seths bitterer Stimme mit. »Aus Wut haben die Zweibeiner ihm brutal das zweite Ohr abgeschnitten und ihn in einen kleinen Käfig gesteckt, den sie dann in die hinterste Ecke geworfen haben. Unsere Mutter haben sie sieben Tage lang nicht gefüttert.«

Lilly konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte. Das wollte alles so gar nicht in ihr Bild von Zweibeinern passen. Sie kannte diese Wesen nur fürsorglich und tollpatschig, immer darauf bedacht, ihr genug Futter und Spielzeug zu geben. Mit einem Blick auf die Ruine wenige Meter von ihnen entfernt, fühlte sie sich auf einmal bedroht.

»Ich habe sie schon andere Katzen mit Missbildungen töten sehen. Ich weiß nicht, warum sie meinen Bruder nicht auch umgebracht haben. Stattdessen haben sie ihn einfach in diesem Käfig gelassen, ihm kein Futter und Wasser gegeben, als hätten sie vergessen, dass er existiert. Er wuchs, genauso wie ich wurde er im Laufe der Jahre erwachsen, doch sie hatten ihn nie aus dem Käfig geholt. Er war viel zu klein für ihn und der Draht hat sich in seine Haut geschnitten, ist langsam eingewachsen. Immer wenn ich konnte, gab ich im etwas zu Essen, habe versucht den Draht nach außen zu biegen, aber ohne die Hilfe der anderen Katzen wäre er wohl schon vor langer Zeit gestorben. Sie haben mir geholfen ihn zu füttern, aber gegen den Käfig konnten wir nicht viel tun.«

Seth holte tief Luft. All das zu erzählen, musste eine große Überwindung sein. »Moos kam ein paar Tage vor dem Erdrutsch. Sie war eine von vielen exotischen Tieren, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Schlangen, Vögel, riesige befellte Wesen, die den Zweibeinern ähnlich sahen. Alle möglichen Tiere kamen und wurden von anderen Zweibeinern wieder abgeholt. Wäre sie eine Katze gewesen, hätten sie sie genau wie alle anderen Katzen behandelt, aber sie haben versucht, ihr alles recht zu machen. Sie bekam Milch, warme Decken, wurde abends aus dem Käfig gelassen, gestreichelt und herumgereicht, wie ein wundervolles Geschenk.«

Seth sah zu der schlafenden Moos. Es lag weder Eifersucht noch Hass in seinem Blick. Viel mehr schien er froh zu sein, dass diese kleine Kätzin - oder keine Kätzin - nicht das gleiche erleben hatte müssen, wie er.

»Als die Erde zu beben begann und man Menschen vom Dorf her schreien hörte, haben die Zweibeiner das Nest verlassen, um nachzusehen, was los war. Sie kamen völlig außer sich zurück und sammelten silberne Kisten zusammen, in denen ganz viele, eckige Blätter waren. Säcke mit Pulver und schwarze Dinger, mit denen sie schon mal andere Zweibeiner umgebracht haben und auch die meisten der exotischen Tiere. All das haben sie in ihre Monster verladen und wollten losfahren, aber ein Zweibeiner ist nochmal zurückgekommen. Er wollte Moos mitnehmen. Dann ist das Dach eingestürzt und hat ihn unter sich begraben. Ich weiß nicht mehr woher es kam, aber Feuer ist ausgebrochen. Ich wusste, wie ich meine Kette öffnen konnte, habe so viele Käfige wie ich konnte aufgeschoben und bin zu meinem Bruder gelaufen. Sein Käfig war anders, es war keine dieser glatten, silbernen Boxen, es war eine Art Netz aus einem harten Material und hatte keinen Riegel, den ich aufmachen konnte. Ich habe das Gitter gepackt und ihn aus der geöffneten Tür gezogen, bevor der Rest des Dachs verbrannt ist und ebenfalls heruntergestürzt ist.«

Seth war sichtlich außer Puste von seiner langen Geschichte. Es schien ihn auch persönlich mitgenommen zu haben, diese grausigen Details noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Lilly, Nelli und Kira - die rötliche Kätzin - waren sprachlos vor Entsetzen. Betroffen schwiegen sie.

»Ich... ich habe den Käfig aufbekommen. Wie weiß ich nicht mehr, nur dass ich mir einen Zahn ausgebrochen habe. Es... es war furchtbar.« Lilly kniff die Augen zusammen, in der Vorstellung wie schlimm es für Seth gewesen sein musste, die Haut seines Bruders wegzureißen, um das Gitter zu lösen. Nelli erhob sich langsam und presste ihre Schnauze mitfühlend in Seths Pelz. Er schnurrte dankbar. »Es geht ihm schon etwas besser. Er hat endlich eine ganze Maus runterbekommen und auch schon etwas getrunken. Nur seine Wunden machen mir Sorgen... Sie bluten immer noch und grünlicher Schleim ist auf seiner Haut. Ich glaube, sie haben sich entzündet.« Seth ließ ratlos den Kopf hängen. »Die Zweibeiner haben das bei mir immer sofort behandelt. Sie haben eine seltsame Paste aufgetragen und nach ein, zwei Tagen war es weg. Aber die Zweibeiner sind fort...« Kira meldete sich zu Wort. Ihre Stimme war erstaunlich fest, als würden sie die Schrecken von Seths Geschichte nicht beeindrucken. »Mein Gefährte könnte ihm vielleicht helfen. Er hat heute Morgen Dinge im Schlaf gemurmelt, die sehr nach den Namen von Kräutern klangen. Ich wusste nicht, dass er so etwas weiß, aber ich kann ihn fragen.« Seth sprang sofort auf, Hoffnung ließ seine Augen glänzen. »Bitte bring mich zu ihm. Ich muss es versuchen.« Nelli sah den beiden eifersüchtig hinterher. Ihre Lefzen waren schmollend geschürzt. »Da geht er. Mit ihr.« Lilly schnurrte. »Ach komm, hast du nicht zugehört? Sie hat einen Gefährten. Also keine Angst.« Nelli sah nicht überzeugt aus, unglücklich flehte sie Lilly an, ihnen zu folgen und die beiden im Auge zu behalten. Moos hatte gerade wieder zu saugen begonnen, deswegen konnte sie das nicht selbst übernehmen. Lilly erklärte sich gerne dazu bereit, denn sie wollte mehr über den Kater mit den Kräuter -Träumen erfahren.

»Hey, darf ich mich euch anschließen? Vielleicht kann ich etwas von deinem Gefährten lernen, Kira«, fragte sie, als sie die beiden beim Zweibeinernest eingeholt hatte. Sie nickten nur und Kira verschwand zwischen den Brettern. »Wartet hier.«

Kurze Zeit später kam sie mit einem schwarzen, schlanken Kater im Schlepptau wieder heraus. Auch er besaß unterschiedlich farbige Augen, wie Nelli. Nur war das eine Silber, das andere grün. »Das ist Filou. Filou, kannst du Seth helfen?« Filou schien sehr wortkarg, denn er nickte nur und deutete mit dem Schwanz an, dass man ihm den Weg zeigen sollte. Also machten sich die vier Katzen auf den Weg zu einem dichten Gebüsch am anderen Ende der Lichtung. Seth steuerte einen Busch mit tiefhängenden Zweigen an, steckte kurz seinen Kopf hinein und erklärte dann, dass sein Bruder schlief und sie deswegen leise sein sollten. Er hob mit seiner mächtigen Schulter die großen Äste empor, damit die drei Katzen genug Platz hatten.

Lilly sog scharf die Luft ein. Die Katze, die dort zusammengerollt im trockenen Gras lag, sah wirklich übel zugerichtet aus. Und das war noch eine Untertreibung. Sein ganzer Körper war so ausgemergelt, dass jede einzelne Rippe erkennbar war. An den Schultern und auf dem Kopf zierten starke Abschürfungen sein getigertes Fell, sein Schwanz war nur ein verkrusteter, entzündeter Stummel. Lilly konnte seine Größe schwer einschätzen, aber er schien ähnlich groß wie sein Bruder zu sein, was schockierend bei einem solchen Zustand war. Das Gitter war für ein Junges gewesen! Wie tief hatten sich dieses Netz eingeschnitten? Als sie die unzähligen blutigen Schnitte, die sich gitterartig über seinen Körper streckten, sah, wurde ihr übel. Der Geruch nach fauligem Fleisch drang unter dem Busch hervor.

»Meine Mutter hat ihn Silber genannt.«, flüsterte Seth der ebenfalls neben ihnen kauerte. »Sie akzeptierte nicht, sein blindes Auge als Schwäche oder Missbildung anzusehen und hat immer wieder betont, dass er einfach nur besonders war. Sie versuchte ununterbrochen, zu ihrem Sohn zu kommen, aber die Zweibeiner hatten sie weggesperrt. Ich dagegen durfte mich oft vor Kämpfen frei bewegen. Um mich aufzuwärmen und zu strecken. Sie hat mir immer wieder Botschaften für ihn zugeflüstert, ihre Trennung von ihrem Kind hat sie seelisch zerstört. Sie wurde verrückt. Hat ihren Kopf immer wieder gegen ihre Box geschlagen, bis die Zweibeiner sie weggebracht haben. Seitdem habe ich sie nie wiedergesehen.«

Lilly fragte sich, warum dieser starke Kater all das mit ihnen teilte. Störte es ihn nicht, dass sie alle Details seiner Familiengeschichte wussten?

Als hätte er sie gehört, richtete Seth sich an die drei Katzen. »Könnt ihr das für euch behalten? Nicht, dass es mich persönlich stören würde, aber mein Bruder sieht das sicher anders. Ich weiß noch nicht, wie ich ihn einschätzen soll. Wir haben in all der Zeit fast kein einziges Mal miteinander geredet. Und jetzt, da er frei ist... Ich weiß nicht, wie er tickt, also bitte behaltet es für euch. Er könnte es nicht wollen, das andere Katzen über seine Vergangenheit erfahren. Kann ich mich auf euch verlassen?« Wieder nickten die drei nur. Schließlich ergriff Filou das Wort: »Ich weiß, wie wir die Entzündung in den Griff bekommen und die Blutung stillen. Ich glaube, ich brauche dir aber nicht erzählen, dass tiefe Narben zurückbleiben werden.« Seine Stimme war rauchig und tief, angenehm ruhig. Sie vermittelte Gelassenheit und Zuversicht, wie ein Fauchen Wut. Neuer Respekt vor diesem Kater flammte in Lilly auf. »Seth, wenn ich dir das Kraut beschreibe, könntest du es für mich finden?« Seth nickte. »Natürlich. So viel ich tragen kann.« Filou beschrieb ihm die Blätter einer Pflanze namens Borretsch und wies ihn an, beim zerstörten Zweibeinerort zu suchen, da sie oft an Brachflächen zu finden war. »Sei vorsichtig, es könnten noch Hunde auf der Wiese sein.«, war sein letzter Ratschlag, dann verabschiedete er sich und begab sich zurück zum Zweibeinernest.

Lilly sah ihm nach. Dann fiel ihr auf, dass Seth nicht mehr da war. Sie sah seinen weißen Pelz den schlammigen Pfad von der Lichtung weg folgen. Schnell lief sie ihm nach. »Warte! Ich helfe dir!« Seth blieb verwundert stehen und ließ sie aufschließen. »Zu zweit können wir mehr tragen.« Seth schnippte mit dem Schwanz und rannte los. Lilly hatte Mühe, den gewaltigen Sätzen des Katers zu folgen und hätte ihn auf dem Weg durch den Wald beinahe zweimal aus den Augen verloren. Dann plötzlich blieb er abrupt vor einer Hecke stehen und Lilly hielt schlitternd neben ihm. Sie duckten sich gemeinsam hindurch und suchten die Wiese vor ihnen nach Hunden ab. Tatsächlich. Das Rudel schien nun hier ihr Quartier aufgeschlagen zu haben. Lilly zählte mindestens zehn Hunde. Nervös warf sie einen Seitenblick auf Seth. »Und wie sollen wir an denen vorbeikommen?« Auch Seth schien ratlos. Er war zwar stark, aber allein mit zehn Hunden konnte er es auch nicht aufnehmen.

Plötzlich erfüllte ein ohrenbetäubendes Rattern die Luft.

Was als nächstes geschah, ging so schnell, dass Lilly erst, als es wieder vorbei war, realisierte, was geschehen war.

Drei riesige, lärmende Vögel brachen durch die tiefen Wolken und kreisten über dem Dorf. Die Hunde stoben in alle Richtungen davon und versteckten sich in Senken auf der Wiese. Seth war auf einmal nicht mehr neben ihr. Als sie ihn entdeckte, war sein weißer Pelz schon am eingestürzten Zaun des Dorfes. Während Zweibeiner sich an Seilen aus den Vögeln zur Erde hinab ließen und durch die Trümmer stiegen, verfolgte Lilly mit gebanntem Blick, wie Seths weißer Pelz hier und dort aufblitzte. Die Zweibeiner zogen andere Zweibeiner auf Brettern in ihren Vogel. Einer nach dem anderen. Plötzlich sah sie, wie Seth über die Wiese zurückgehastet kam. Er war nur noch ein paar Meter von ihr entfernt, als ein kleiner Hund sich von der Seite näherte. Sobald er Seth entdeckte fing er an, laut zu kläffen und jagte Seth nach. Statt vor dem Hund wegzulaufen, rammte der Kater seine Pfoten in die Erde, wirbelte herum und sobald der Vierbeiner ihn erreicht hatte, verpasste er seiner empfindlichen Schnauze blutige Kratzer. Fiepend floh der Vierbeiner.

Seth drückte seine breiten Schultern unter die Hecke, sein Maul voller Blätter, die aromatisch rochen. Er spuckte sie auf den Boden, grummelte »Die Kleinen sind nervig, aber nicht gefährlich. Komm.«, packte die Blätter erneut und sprintete in den Wald hinein.

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