✧ 5. Kapitel ✧

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DAS JAULEN von Katzen drang aus dem Wald. Verdutzt blieben die beiden Hunde stehen. Sie hoben verwirrt die Schnauzen und versuchten die herannahenden Gerüche zu erkennen.

Keine Minute später stürzte ein blutüberströmter Kater aus dem Dickicht. Ihm folgten ein ebenso schmutziger Schwarzer und drei völlig erschöpfte Katzen. Lilly hätte am liebsten geweint vor Erleichterung.

Sie hatten es geschafft. Sie hatten es wirklich geschafft. Sobald der Riesenkater die zwei Hunde sah, stieß er ein Jaulen aus und stürzte sich auf den größeren Hund, der unter der Wucht des Angreifers zu Boden ging. Tatsächlich. Er war genauso groß wie der Hund, mit dem er kämpfte. Lilly konnte es nicht fassen.

Auch der schwarzrote Streuner warf sich ins Gefecht. Mit einem gewaltigen Prankenhieb schlug er den Kopf des zweiten Hundes zur Seite, als dieser seinen weißen Freund beißen wollte. Mit einer Schnelligkeit, die man dem stämmigen Körper niemals zugetraut hätte, schnellte er vor und verbiss sich in der Schnauze des Hundes. Dieser stieß ein gequältes Jaulen aus, schüttelte den Kater ab und floh mit eingezogenem Schwanz von der Lichtung.

Der weiße Riese hatte ebenfalls Erfolg. Lilly sah ihn einen Fetzen Hundeohr ausspucken und das dunkle Fell des besiegten Hundes zwischen den Büschen verschwinden. Stille legte sich über die Lichtung.

Nach ein paar Minuten des Schocks kam Lilly langsam zu sich. Immer noch benebelt und verwirrt löste sie langsam den Blick von den heldenhaften Katzen vor ihr und sah über die Schulter. Unzählige Augenpaare starrten aus den Ruinen zurück.

Sie lebten. Sie selbst lebte. Lilly stiegen Tränen der Ungläubigkeit in die Augen. Was war gerade passiert?

Die Sonne ging langsam auf. Sie sandte zarte und warme Strahlen hinab auf die zerzausten Pelze der Katzen, vertrieb die Schrecken der Nacht und wärmte die schockstarren Glieder. Nebel waberte über den Boden, benetzte den aufgewühlten, schlammigen Boden mit hauchfeinen Tautropfen und legte einen Teppich mystischen Glitzerns über die Lichtung. Vögel begannen wieder zu zwitschern. Insekten erhoben sich aus den Gräsern und flogen in einem Freudentanz über die Lichtung, ihre Körper schimmerten im Sonnenlicht. Ein Schmetterling flog über Lillys Kopf hinweg.

Sie war gerade erst aufgewacht. Noch während alle überlebenden Katzen die Helden der gestrigen Nacht umringt, gefeiert und bejubelt hatten, waren ihr vor Erschöpfung die Augen zugefallen. Nun blinzelte sie der Sonne entgegen und konnte immer noch nicht glauben, dass sie am Leben war.

Nachdem Lilly mit feuchten Augen das friedvolle Treiben auf der Lichtung ein paar Minuten lang genossen hatte, begann sie damit, ihren völlig verdreckten Pelz zu waschen. Mit sanften Bewegungen genoss sie die Wärme, die ihre Zunge in ihrem Fell ausbreitete.

»Lilly! Du lebst! Als der Hund dich...«

Lilly fuhr beim Klang der Stimme herum. Da stand Hagel. Sein Pelz war unversehrt. Seine Augen waren groß vor Verwunderung. Lilly kniff die Augen zusammen.

»Als der Hund dich gepackt hat... Ich dachte, es wäre aus mit dir! Ich bin so froh, dass du lebst, ich... es...« Seine Stimme überschlug sich, er kam mit eingezogenem Schwanz auf sie zu. »Hagel.« Der eisige Ton ihrer Stimme ließ ihn zusammenzucken. Geduckt blieb er stehen.

»Lilly, ich... es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte...« »Du hättest was? Was, Hagel, was hättest du tun sollen?« Lillys Brust bebte vor Wut und Enttäuschung. Sie war aufgestanden und hatte sich mit gesträubtem Pelz vor dem Kater aufgebaut. Dieser duckte sich unterwürfig und sah mit flehenden Augen zu ihr auf. »Ich hatte so Angst, Lilly. Versteh das doch! Ich habe nach einem Versteck gesucht, ich... ich dachte, du wärst schon in Sicherheit! Bitte... ich hatte so Angst um mein Leben!«

»Was ist mit meinem Leben, Hagel? Du hättest mich sterben lassen!« Schmerz schnürte ihre Kehle zu. Tränen brannten in ihren Augen. Sie fletschte die Zähne. »Elender Feigling. Nicht einmal versucht hast du es! Nicht einmal versucht!« Ihr Schweif peitschte durch das Gras. »Lilly... bitte versteh doch...« Hagels weinerliches Miauen fachte ihre Wut noch weiter an. »Was verstehen? Dass ein unbekannter Kater für mich gestorben ist, während du dich bei den Hauskätzchen und Jungen versteckt hast? Er ist gestorben, Hagel! Er kannte mich nicht einmal, aber er hat sein Leben gegeben, um meins zu retten! Und wo warst du?« Ihr Fauchen wurde zum bitteren Knurren. Ihre Ohren waren fest angelegt, ihre Augen weit aufgerissen.

Hagel sah gekränkt zu ihr auf. Dann gab er seine geduckte Haltung auf und erhob sich langsam. Bedrohlich. Seine Augen blitzten vor brodelnder Wut. »Ich habe verdammt noch mal um mein Leben gefürchtet. Wie kannst du von mir erwarten, dass ich für dich sterbe? Dass ich mich allein einem riesigen Hund stelle und mich zerfetzen lasse, bloß um eine Katze zu retten, die ich gerade erst kennen gelernt habe?« Seine Stimme klang verletzt. Doch sein Blick zeigte nun etwas anderes. Verachtung. Er ragte über ihr auf, sein Fell war aufgeplustert, seine Krallen ausgefahren. Eingeschüchtert wich Lilly einen Schritt zurück. Doch der Schmerz machte es ihr unmöglich, Verständnis aufzubringen. »Du hast mich nicht einmal gesucht, als wir auf der Lichtung waren! Nicht einmal, als die Hundemeute noch weit weg war! Du warst nicht mehr da! Einen Moment, nachdem du mich aufgeweckt hast, warst du weg! Du hast mich im Stich gelassen!« Die Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen. Sie blickte in die Augen, in die sie sich verliebt hatte. Suchte nach irgendetwas, das ihr zeigte, dass Hagel noch etwas für sie empfand. Suchte nach seiner Wärme, die in seinem Blick gelegen hatte, während sie die Mäuse verspeist hatten. Suchte nach seiner Liebe, die in diesem Türkis geschimmert hatte, als er ihr sanft über die Ohren geleckt hatte. Doch stattdessen starrte ihr die kalte Wahrheit entgegen. Lilly keuchte vor Schmerz, als sie es erkannte.

»Ja, ich habe dich verlassen. Um mich selbst zu retten.« Seine Worte waren kalt und schneidend.

»Und ich würde es wieder tun. Ich glaube, ich empfinde einfach nicht genug für dich.«

Und mit diesen Worten sprang er über die Lichtung davon.

Lilly fühlte sich, als hätte man ihr das Herz aus dem Brustkorb gerissen und es brutal zertrümmert. Zitternd presste sie sich auf den Boden, legte ihren Schweif schützend um sich, als könnte sie sich damit vor dem Schmerz, der nun in ihr loderte, schützen. Sie kniff die Augen zusammen. Tränen rannen über ihre Schnauze, tropften ins Gras und versickerten im Boden. Warum? Warum hatte er sie verlassen? War sie ungerecht gewesen? Hatte er Recht? War es nicht verständlich, dass er Todesangst hatte? Lilly wusste nicht, was sie denken sollte. In ihrem Kopf herrschte Chaos, der Schmerz um ihre verlorene Liebe benebelte jeden ihrer Sinne, raubten ihr die Luft zum Atmen.

»Lilly!«

Als hätte man einen Schwall Wasser über sie geschüttet, sprang Lilly auf.

»Mo!«

Vor Freude jauchzend fielen die beiden Freundinnen übereinander her. Glücklich schnurrend rollten sie über den Boden und blieben keuchend, Pelz an Pelz liegen.

Der Schmerz war nicht weg, aber von so einem Glück über die Wiedervereinigung mit ihrer besten Freundin überwältigt, dass die Tränen der Trauer zu Freudentränen wurden.

»Du lebst! Du lebst, Lilly, du lebst!« Mos Schnurren war so laut, dass Lilly ihr eigenes nicht mehr hörte. Stürmisch leckte sie ihrer Freundin die Wangen und schmuste sie von oben bis unten ab. »Du auch, Mo, du auch! Wir haben es geschafft!« Und lachend und kichernd jagten sie über die Wiese, als wären sie auf einmal wieder Junge. Die Erfahrung, beinahe gestorben zu sein, hatte einen Hauch von Wahnsinn über ihren Geist gebracht, ließ sie verrücktspielen und das Leben mit kindlichem Glück umarmen wollen.

Lange tollten sie über die überfüllte Wiese, kümmerten sich nicht um das Knurren und Fauchen um sie herum, immer wenn sie aus Versehen jemandem in die Quere kamen. Sie trafen Schimmer und Tau, die sich ihrem kleinen Fangenspiel anschlossen und bald rollten sie in einem riesigen Knäuel über das Gras. Nach Stunden des Herumtollens und Spielens lagen die vier beisammen, wuschen sich gegenseitig das struppige Fell und schnurrten sich gemeinsam heiser.

Doch als die Nacht langsam hereinbrach, wurden sie unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Es war Zeit, die Toten zu begraben.

Alle Katzen versammelten sich schweigend vor dem Zweibeinernest. Sie bildeten einen großen Halbkreis um den großen, weißen Streuner, der sie alle gerettet hatte. Immer noch ein bisschen glücklich und immer noch ein bisschen traurig ließ sich Lilly zusammen mit ihren Freunden in der Menge nieder.

»Wir haben uns hier versammelt, um die Katzen zu ehren, die für uns ihr Leben gaben.« Heute war die Stimme des Katers nicht mehr so stark. Sie klang müde und traurig. Sein Blick ruhte auf den sechs Leichen, die vor ihm in einer Reihe aufgebahrt worden waren. Neben jeder Katze war ein Loch gegraben worden und ein Haufen Erde stand bereit, um die erschlafften Körper vor dem Antlitz der Lebenden zu verbergen.

»Zuerst möchte ich der tapferen Kätzin gedenken, die sich todesmutig einer ganzen Hundemeute gestellt hat, sie fortgelockt hat, damit wir die Zeit hatten, einen einzelnen Hund zu bekämpfen. Sie starb, als einer der Hunde sie einholte. Sie stolperte und wurde von der Meute getötet. Ein Leben wurde genommen und dadurch so viele andere gerettet. Sie tat es freiwillig und sie tat es stolz. Ich kann mich nur verneigen vor so viel Mut und Aufopferung.« Er trat vor und leckte der kleinen, schwarzen Kätzin sanft über die Stirn. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Gesichtszüge friedlich, doch ihr Körper war durchlöchert von Bisswunden. Eine kleine Kätzin, die ebenfalls schwarzes Fell hatte, sich aber durch ein weißes Ohr unterschied, kauerte ganz in der Nähe. Mit einem Blick unendlicher Trauer sah sie auf den Leichnam ihrer Schwester. Lilly wandte den Blick ab. So mutig wie diese Katze wäre sie nie gewesen. Scham und Dankbarkeit vermischten sich und als die Katzen zu einem Abschiedsjaulen anhoben, jaulte Lilly ihre Gefühle in den Nachthimmel.

»Als wir den Anführer verjagen konnten und die Meute ihm folgte, haben wir euch, so schnell wir konnten, gesucht. Wir dachten, alle wären in Sicherheit, doch als wir hier ankamen, hatten zwei Hunde bereits fünf Katzen getötet. Ein unschuldiges Junges...« Mit trauerndem Blick leckte er den winzigen Kopf eines Junges, welches furchtbar verdreht auf dem Boden lag. Lilly wimmerte, Mitleid trieb ihr erneut Tränen in die Augen. »Ein Kater, der schon so viel überlebt hatte...« Auch ihm erwies der Weiße die Ehre. Er schritt weiter. »Eine Kätzin, die das ganze Leben noch vor sich hatte...« Bis auf zwei rote Löcher in ihrem Nacken sah ihr Leichnam seltsam unberührt aus, das Blut war vollständig aus ihrem weißen Fell gewaschen worden. Lilly erinnerte sich mit Grauen an ihr Jaulen, als sich die Zähne in ihr Fleisch gruben. »Und zwei heldenhafte Krieger, die die Hunde aufhielten, bis wir eintrafen.« Lilly beobachtete, wie er den Tigerzwillingen die letzte Ehre zuteil kommen ließ. Immer noch konnte sie nicht glauben, dass die Kater für sie gestorben waren. Womit hatte sie diese Heldentat verdient?

Gemeinsam erhoben sie erneut ihre Stimmen zu einem kläglichen Jaulen. Es war ein schauerlich schöner Laut, der sich in einem einzigen Ton über die Lichtung verbreitete. Lilly half noch bis spät in die Nacht, die Gräber zuzuschütten.

Mit einem traurigen Seufzen stampfte sie den letzten Rest der Erde fest, die das Grab für ihren Retter bedeckte. Sie gähnte.

»Gute Arbeit.« Müde blickte Lilly auf und erkannte den langgliedrigen Kater, der sich freiwillig für die Lockvögel gemeldet hatte. Vor Ehrfurcht senkte sie den Kopf. »Das ist doch gar nichts... Im Vergleich zu dem, was du geleistet hast.« Verständnisvoll stupste der Kater ihre Schulter an. »Blödsinn. Jeder tut das, was er am besten kann.« Seine warmen Augen blinzelten freundschaftlich. »Leg dich schlafen, es war ein langer Tag.« Lilly sah sich auf der Lichtung um. Dann wandte sie sich wieder an den weißschwarzen Kater, der sich gerade die Erde von den Pfoten leckte. Angewidert verzog er dabei das Gesicht.

Lilly legte den Kopf schief. »Ich weiß nicht, wo noch Platz ist. Ich konnte schon vorher keinen Schlafplatz finden.« Die Schnurrhaare des Katers zuckten und er sprang auf. »Prima, dass ich noch einen kenne. Komm mit!« Mit schweren Pfoten folgte sie ihm. Beunruhigung stieg in ihr auf, als sie ihn zwischen zwei Bretter ins Nest steigen sah. Doch sie war viel zu müde, um sich bei der Aussicht auf einen Schlafplatz noch sträuben zu können. Im Nest war es dunkel und muffig, aber auch angenehm warm. Katzengeruch hing an jedem Stein, an jedem Brett, an jeder noch so kleinen Spinnwebe, denn auch hier war alles voller schlafender Katzen. Vorsichtig, eine Pfote nach der anderen hebend, führte er sie bis an die hinterste Ecke des Unterschlupfs. Dort war ein kleiner Fleck mit Gras ausgepolstert und keine Katze hatte ihn für sich beansprucht. Nachdem sie dem Kater gedankt hatte und sich auf dem Nest eingerollt hatte, konnte sie keine zwei Sekunden mehr ihre Augen offenhalten.

Sie schlief sofort ein.

Als Lilly einen äußerst merkwürdigen Geruch wahrnahm, öffnete sie die Augen. Sie konnte kaum etwas erkennen, Licht blendete sie. Schemenhaft konnte sie die Umrisse einer Katze erkennen. Ihre Augen leuchteten blau und sahen sie eindringlich an. Lilly kniff die Augen zusammen. Das Licht war zu grell. »Hm...« Melodisch und in Echos streifte eine Stimme durch ihre Gedanken. »Du...bist es nicht...« Und damit löste sich der Schatten langsam im Licht auf.

Am nächsten Tag konnte sie sich nicht mehr an ihren Traum erinnern. Sie wusste nur, dass sie seit langem wieder einen Traum gehabt hatte, doch was sie gesehen hatte, konnte sich Lilly beim besten Willen nicht mehr zurück ins Gedächtnis rufen. Mit steifen Gliedern wühlte sie sich aus ihrem Nest. Sie hörte die Stimmen anderer Katzen um sie herum, das leise Zwitschern von Vögeln hinter den Brettern und Mauern.

Ein neuer Tag. Bitte lass ihn gut werden...

Lilly gähnte herzhaft und streckte ihre Beine. Sie wollte sich gerade auf den Weg nach draußen machen, als sie ein Loch in der Wand, an der sie geschlafen hatte, erkannte. Ihr fiel auf, dass in der gleichen Wand eine Tür eingelassen war, ähnlich der, die sie aus ihrem ehemaligen Zuhause kannte. Nur war diese hier aus Holz. Neugierig untersuchte sie das Loch genauer. Ein leichter Luftzug umwehte ihre Nase.

Geht es da nach draußen?

Lilly konnte allerdings weder den saftigen Geruch von Gras noch den Frühlingswind, der seit längerem durch das Tal wehte, wahrnehmen. Stattdessen roch es verbrannt, nach Katzen und - entsetzt schrak sie zurück - nach Tod. Sofort wich sie ein paar Schritte zurück. Was auch immer da drin war: Sie wollte damit nichts zu tun haben. Eilig machte sie kehrt und schob das Gras vor das Loch, um es so gut, wie es eben ging, zu verdecken. Sobald sie fertig war, gähnte sie ein letztes Mal und stieg über ihren Nachbarn hinweg... als ein leises Miauen an ihr Ohr drang. Augenblicklich erstarrte Lilly.

Ein Junges?

Erneut erklang der seltsame Laut. Es kam von hinter der Wand. Lilly schob das Gras zur Seite und lauschte. Da miaute wirklich ein Katzenjunges! Aber es klang seltsam verzerrt. Quäckender.

Als sie es ein drittes Mal hörte, konnte Lilly nicht mehr warten. Sie presste sich durch das viel zu kleine Loch. Natürlich blieb sie stecken, doch sie schob und zerrte, drehte sich so lange, bis das morsche Holz aufbrach und das Loch vergrößerte. Mit einem letzten Ruck war sie auf der anderen Seite.

Hier war es viel heller als sie angenommen hatte. Das Dach fehlte komplett, es war eingestürzt und verbrannt. Große Holzbalken lagen in einer Ecke des Nests. Der Boden war schwarz von ruß und sämtliche Zweibeinergegenstände, wie die großen Platten und Sitzhölzer waren angebrannt. Sie musste Husten, Asche wirbelte überall durch die Luft und kratzte in ihrem Hals. Vorsichtig wagte sie sich tiefer in den Raum. Als sie an dem Stapel der Holzbalken vorbeikam, bemerkte sie den Geruch eines Zweibeiners. Wachsam stellte sie die Ohren auf und schlich näher heran. Sie konnte es nicht glauben, als sie die Pfote eines Zweibeiners unter dem verkohlten Holz entdeckte. Als sie ihn anstupste, war sie kalt.

Er ist tot. Erschlagen von den Trümmern, die vom Dach heruntergefallen sind.

Schnell entfernte sie sich. Lilly sah, dass die Steinwände von diesem Teil des Nests noch standen. Bis auf einzelne Steine, war sie noch vollständig intakt. Deswegen hatte also niemand diesen Raum entdeckt.

Wieder dieses quäkende Miauen.

»Wo bist du?« Lilly sah hilflos umher. Überall lagen glänzende Käfige, manche verkohlt, manche zerbrochen, manche noch ganz intakt auf aufgetürmten Brettern an der Wand. In der Mitte des Raumes fehlte der Holzboden, stattdessen war eine Art Zaun aus einem seltsamen Material um einen runden Sandplatz gespannt worden. Lilly hatte nicht die geringste Ahnung, was Zweibeiner mit so etwas anstellen sollten. Als sie um die Konstruktion herumschlich, konnte sie einen starken Katzengeruch wittern. Jetzt war sie noch verwirrter. Was sollten Katzen an einem Ort wie diesen?

Meeeoouu...

Da! Zwischen zwei Holzstapeln waren zwei große Wandsteine auf einen der silbernen Käfige gefallen. Das Dach war unter der Last völlig eingedrückt, die Gitter verbogen und teilweise herausgebrochen. Plötzlich schrak Lilly zusammen, als sich eine kleine Pfote durch das Gitter schob und schwach am Holzboden kratzte. Das Junges war in diesem Ding? Voller Erstaunen, dass das Kleine in dieser zusammengefalteten Box überlebt hatte, packte Lilly sofort die Gitterstäbe mir ihren Zähnen und zog daran. Sie musste das Baby so schnell wie möglich befreien! Sie zog abermals. Ein schmerzvolles Quieken ließ sie loslassen. Anscheinend hatte sie durch ihr Zerren etwas bewegt, was dem kleinen Ding weh tat. Verzweifelt ließ sie davon ab. Sie presste sich auf den Boden und versuchte einen Blick auf das Wesen im Inneren zu erhaschen. Dunkle Augen blickten angstvoll zurück.

»Hey, ich hol dir da raus. Halte durch.«

»Mit wem sprichst du?«

Lilly erschrak sich halb zu Tode, als plötzlich der weiße Held neben ihr stand. Verdattert blickte sie zu dem Loch und sah, dass es noch etwas größer geworden war, nachdem sich der gewaltige Körper des Streuners hindurchgezwängt hatte.

»Ich ... Ich habe dieses Junge gehört und will ihm helfen.« Sie deutete mit der Schnauze auf die gequetschte Metallbox. »Aber ich glaube, ich tue ihm weh, sobald ich versuche, das Gitter wegzuziehen...«

»Lass mich einmal sehen.« Sie trat zur Seite und ließ den riesigen Kater vor dem Käfig Platz nehmen. Seine muskulösen Schultern versperrten ihr die Sicht auf das, was er tat, doch bereits nach ein paar Sekunden hörte er das Quietschen des Gitters und das schwache Miauen des Jungen. Er richtete sich auf und hielt ein kleines, rußschwarzes Fellbündel im Maul. Es hustete und keuchte, sein Atem ging rasselnd und Lilly konnte nur erahnen wie ausgetrocknet und verhungert das arme Ding sein musste. »Du hast es geschafft!« Der Kater beugte sich zu ihr herunter und übergab ihr das Junge. Sofort begann sie, es stürmisch zu waschen. Doch als sie erkannte, dass es über und über mit Asche bedeckt war, beschloss sie, es erst einmal nach draußen zu bringen und ihm dort etwas zu Essen und Trinken zu geben. Das war das Wichtigste. Alles andere später.

Gemeinsam mit dem Kater, der sich als Seth vorgestellt hatte, vermieden sie die Blicke der anderen Katzen und zogen sich zu einem ruhigen Fleck am Waldrand zurück. »Warte hier«, sagte Seth und verschwand im Wald. Ruhig und liebevoll leckte sie über den ausgemergelten Körper der kleinen Katze. Sie miaute nicht mehr und Lilly nahm an, dass sie schlief, denn sie hatte ihre Augen geschlossen und atmete tief und regelmäßig. Während sie auf Seth wartete, hörte Lilly kein einziges Mal auf zu schnurren. Dieses kleine Wesen an ihrer Brust war ein Geschenk des Himmels, ein kleines Wunder, das genau dann aufgetaucht war, als sie es am Nötigsten brauchte. Und genauso wie Lilly das Junge brauchte, brauchte das Junge sie. All das Übel der letzten Tage, all die Verluste, all die Trauer rückten in den Hintergrund, stattdessen war da nur noch ihr Junges. Ein Bauchgefühl sagte Lilly, dass es ein Weibchen war. Ohne zu wissen warum, hatte sie die kleine Kätzin sofort ins Herz geschlossen. Vielleicht war sie das Ventil für die Liebe, die sie für Hagel empfunden hatte. Jetzt, da er nicht mehr da war, sehnte sie sich nach jemanden, der sie bedingungslos liebte und dem sie diese Liebe zurückgeben konnte. Langsam kam die Farbe unter dem Schwarz wieder zum Vorschein. Der Ruß schmeckte fürchterlich, doch das störte Lilly kaum. Mit geradezu mütterlichem Stolz bewunderte sie die sonderbare Fellzeichnung ihres Jungen, solche Flecken hatte sie noch nie an einer Katze gesehen. Je länger sie das Baby studierte, desto verwirrter war sie. Die Schnauze... war sie nicht etwas zu lang? Die Ohren... waren sie nicht etwas zu groß für eine Katze? Sie drückte ihre Nase zärtlich in das Fell der Kleinen und sog den Geruch ein. Unter dem Gestank von Verbranntem Holz konnte sie klar den Geruch von Katze erkennen. Sie schnurrte laut und leckte ihr weiter über das kleine Köpfchen.

Mein kleines Wunder.

Seth war mit einem Maul voll nassem Moos und einer Kätzin zurückgekehrt. Die Kätzin stellte sich als Nelli vor, ein Hauskätzchen, welches ihre Jungen bei der Geburt verloren hatte und nun einiges an Milch übrig hatte. »Oh, das tut mir wirklich leid«, flüsterte Lilly betroffen und legte ihr vorsichtig das schlafende Junge vor die Pfoten. Ebenso vorsichtig schob Nelli das Baby an ihren Bauch. Sie hatte sich neben Lilly hingelegt, seitlich, sodass das Findelkind gut an die Zitzen kommen konnte. Bei dem Geruch frischer Milch blinzelte das Fellbündel und drückte sich sofort in das dichte Fell der Kätzin. Zufrieden schnurrten die beiden, als es gierig zu saugen begann. Als Lilly den liebevollen Blick der Säugenden sah, konnte sie einen Anflug von Eifersucht nicht verhindern.

»Ich habe euch etwas zu trinken mitgebracht«, miaute Seth und legte ein großes Stück Moos zwischen sie. Es troff vor Nässe. »In der Nähe gibt es einen Fluss. Wenn ihr mehr braucht, fragt Brock, den großen schwarzen Kater - ich glaube ihr wisst, wen ich meine.« Er richtete sich auf. Seine Muskeln waren ein einziger, wunderschöner Tanz unter dem dichten Pelz und stachen im Halbschatten noch deutlicher hervor. »Ich gehe jagen. Ihr werdet hungrig sein.« Wie zur Bestätigung grummelte Lillys Bauch. Sie schnurrte nur und widmete sich wieder ihrem neuen Jungen.

»Ich brauche einen Namen für sie...«, murmelte sie. Nelli blickte auf. »Stimmt, den brauchen wir.«

Wir?

Lilly war kurz davor, ihr das Baby vom Bauch wegzureißen. Was bildete die sich eigentlich ein?

Aber sie beruhigte sich schnell wieder, als sie sah, wie zufrieden die kleine Kätzin an dem Bauch der Katze ruhte.

»Ich kenne kaum Namen. Hast du eine Idee?«, fragte sie Nelli freundlich. Sie hatte wirklich nicht die geringste Idee, wie sie das Junges nennen sollte. Nelli überlegte eine Weile. »Streuner werden oft nach etwas benannt, was bei ihrer Geburt besonders auffällig war. Werden sie auf einem kiesigen Boden geboren, zum Beispiel Kiesel. Verstehst du was ich meine?« Lilly nickte und sah sich um. Viele Bäume umgaben die Lichtung.

Baum? Bäumchen? Ganz sicher nicht.

Sie lagen auf Gras. Sehr viel Gras.

Gras ist definitiv kein guter Name.

Sie inspizierte gerade die Holzmauern des Zweibeinernests, als Nelli auf den Moosball zwischen ihnen deutete. »Wie wäre es mit Moos?« Wie zur Verdeutlichung ihres Vorschlags leckte sie ein paar Tropfen davon auf. Lilly überlegte. Sie wollte ihrem Jungen eigentlich selbst einen Namen geben. Schließlich schnurrte sie.

»Ein schöner Name.« 

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