007 ** der erste Schultag ** Mo. 5.8. 2019

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Ich bin schon sehr früh aufgewacht, allerdings eher, weil ich nun die Verantwortung verspüre, selbständig einen LK als Tutorin zu leiten. Außerdem habe ich in den letzten Tagen schlecht geschlafen, weil mir einfach Max nicht aus dem Kopf gehen will. Ich mag diesen begabten jungen Tänzer, der mit seinen losen Sprüchen jede Unterrichtsstunde auflockert. Er überschreitet ja nie die Grenzen. Nicht alle Kollegen mögen das. Aber so weit zu gehen, dass ihm das Abitur verbaut wird, das macht mich zornig.

Ich habe mich intensiv auf das Gespräch mit Herrn Frey vorbereitet, das am Donnerstag Nachmittag stattfinden wird. Und ich bin ein erstes Mal mit Direktor Dr. Horst Miegel in den Ring gestiegen, weil ich nicht weiter zusehen will, wie eine einzige Lehrerin ganze Lebensläufe zerstört. Jeder hier weiß es, auch Dr. Miegel ist total angenervt, aber niemand weist Frau Hartmann in die Schranken, wenn sie sich mal wieder ein mehr oder weniger unschuldiges Kind herauspickt und es regelmäßig vor der ganzen Klasse und auf dem Schulhof zur Schnecke macht. Scharen von Eltern haben Dr. Miegel bereits die Tür eingerannt deswegen. Aber nichts passiert. Heute will ich gleich noch früh die Sportkollegen fragen, was sie in so einem Fall tun würden.

Endlich höre ich Geräusche aus Jennys Zimmer und stecke meinen Kopf bei ihr rein. Hochmotiviert und sehr neugierig schwingt Jenny die Beine aus ihrem Bett und startet in ihren ersten Tag als Referendarin. Sie hat sich mehrfach mit Lennart getroffen, findet sich im Schulgebäude schon etwas zurecht und fühlt sich gut vorbereitet.

Die Schüler des Beethoven-Gymnasiums müssen am ersten Schultag immer erst um 9.00 Uhr in ihren Klassenräumen sein. Die meisten kommen auf den letzten Drücker. Ich dagegen treffe mich immer schon vorher mit Moritz, Lasse und Paul unter der alten Eiche bei den Fahrradständern, wir schlachten höchst förmlich eine Tafel Schokolade als „Nervennahrung" und strunzen dann zu den jeweiligen schwarzen Brettern, um uns in Ruhe unsere Stunden- und Kurspläne abzuschreiben und eventuelle neue Lehrer zu erfahren.

Lasse spürt an diesen ersten Schultagen nach Ferien immer besonders deutlich, dass er einen Jahrgang unter uns anderen ist. Er wäre gerne mit dabei, würde gerne gleich mit uns Abi machen und studieren. Aber er muss noch ein Jahr länger Geduld haben. Wir haben ja die gemeinsamen Pausen, oft am gleichen Tag Mittagessen in der Schulmensa, er kann an den meisten Tagen mit mir zusammen zur Schule radeln. Außerdem trainieren wir gemeinsam Tanz im selben Studio. So sehen wir uns auch außerhalb des Unterrichts jeden Tag. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er das letzte Jahr an dieser Schule ohne uns klarkommen muss.

Moritz wirkt nervös, als wir auf die schwarzen Bretter zugehen. Ich habe in den letzten Tagen nur noch wie paralysiert vor Angst in meinem Zimmer gehockt und die Decke angestarrt. Was mein Vater jetzt ausgekocht hat, geht weit über jede Grenze des Anstands und noch weiter über mein Verstehen hinaus. Er will mich brechen mit aller Gewalt, und er ahnt zum Glück nicht, WIE kurz er davor ist, das auch zu schaffen.

Als erstes schaue ich den Namen über dem Mathekurs an und traue meinen Augen nicht. Dann stoße ich ein unbeschreibliches Siegesgeheul aus, dass durch alle Flure der noch leeren Schule hallt, umarme abwechselnd meine Freunde, tanze durch den Flur – und breche in Tränen der Erleichterung aus.
„Gott sei Dank! Falls es dich gibt. Das ist meine Rettung. Mit der Süß komm ich klar, die kann super erklären, und ich werde der Hartmann nicht mehr so leicht in die Finger fallen."

Moritz packt jetzt aus, dass er am letzten Donnerstag hier war und es schon wusste. Und dass er Frau Süß ein bisschen was von meinen Problemen angedeutet hat.
„Sorry, Max. Aber ich habe mir unglaubliche Sorgen um dich gemacht. Ich habe ihr lange nicht alles erzählt. Nur diese besch... Ferien. Und den Brief von deinem Vater habe ich angekündigt. Sie hat gesagt, dass das Gespräch dann natürlich mit ihr stattfinden wird, zumal sie ja auch deine Tutorin ist."
Noch einmal jubele ich, weil ich kaum glauben kann, wie gut es das Schicksal auf einmal mit mir meint.

Kurz vor 9.00 Uhr schlendern dann all die Horden von Schülern im Ferienmodus zu ihren Klassenräumen. Auch wir machen uns auf. Die erste Stunde ist für alle Klassen bei den Klassenlehrern oder Tutoren. Darum versammelt sich der Sport-LK vor der großen Turnhalle. Pünktlich um 9.00 Uhr kommt Frau Süß um die Ecke und schließt die Halle auf.

Als ich meine Schuhe ausziehe und die Halle betrete, schlägt mein Puls sofort schneller. Der Geruch von Schweiß und Bohnerwachs, im Ohr das Quietschen von nackten Füßen auf Parkett, im Herzen Musik und im Kopf ein beschwingter Tanz, der die ganze große Halle ausnutzt. Nur mühsam kann ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Realität richten. Ich vermisse das Tanzen so sehr, dass es weh tut. Und meine Haut ist so dünn durch den Terror, dass meine Stimmung sofort wieder in den Keller sackt. Die Mitschüler holen drei Bänke und stellen sie vor dem Tor zur Gerätekammer auf. Stumm hocke ich mich zwischen Moritz und Paul.

Frau Süß holt derweil aus der Kammer eine rollbare Tafel und zwei kleinere Kästen für sich. Sie sortiert einige Papierstapel und legt sie dort ab.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich hoffe, Sie hatten schöne Ferien. Da ich jetzt fertige Lehrerin bin, bin ich ab heute Ihre Tutorin. Alle Belange, Elterngespräche, Fehlzeiten, Vertrauensfragen dürfen Sie mit mir klären, damit Ihre letzte Etappe zum Abitur möglichst stolperfrei verläuft. Es ist mir wichtig, dass wir weiter gut miteinander klarkommen. Da wir zwei neue Mitturner im Kurs haben, muss ich wieder die obligatorische Frage stellen, ob jemand etwas dagegen hat, wenn ich Sie duze wie bisher, im anderen Falle werde ich Sie natürlich siezen."

Wir schauen uns um und entdecken zwischen den bekannten Gesichtern auch zwei Neue – ein großer Typ, der sehr selbstsicher und ein bisschen herablassend aussieht, der dürfte neu hier sein. Und ein Mädel, das eher verschämt zu Boden schaut, weil sie es noch nicht verdaut hat, dass sie im ersten Anlauf das Abi nicht geschafft hat. Ich kenne sie, sie war im Jahrgang über uns. Kaum hat Frau Süß die Frage gestellt, meldet sich schon der Typ und lässt ein vorwurfsvolles „Also, ich denke doch, dass wir hier die Form wahren werden!" vom Stapel.

„Gut, dann ist das geklärt. Wir begrüßen in unserer Mitte Sebastian Mahlzahn und Lore Braun. Schön, dass Sie da sind. Wir machen heute nur eine kurze Stunde. Zunächst möchte ich mit Ihnen ein kleines Spiel spielen, damit Sie alle sich schnell an die Namen gewöhnen. Wir stellen uns in einem großen Kreis auf. Ich habe den Ball, nenne meinen Namen und dazu meine Lieblingssportart. Dann werfe ich den Ball zu jemand anderem und sage dessen Namen."
Bei diesen Worten greift Frau Süß nach einem bereit gelegten Ball und geht in die Mitte der Halle. Mehr oder weniger motiviert folgen wir ihr und bilden einen großen Kreis.

Und schon geht es los.
„Ich bin Frau Süß und mache alle Arten von Outdoorsport."
Dann wirft sie den Ball weiter.
„Sebastian."
Der fängt den Ball. „Ich heiße Sebastian und bin im Ruder-Leistungszentrum. Und du heißt glaube ich Murat."
Murat fängt den Ball.
„Stimmt, ich bin Murat. Ich mache Geräteturnen am liebsten."
Und so wandert der Ball immer weiter durch die Gruppe, bis jeder etwa zweimal dran war und Lore und Sebastian anfangen, sich an die Namen zu gewöhnen.

„Prima. Dann setzen wir uns bitte wieder."
Mit viel Gemurmel setzen sich alle wieder auf die Bänke, wir Tanz-Trio sind natürlich beisammen, Lore schiebt sich schnell neben Annika, wahrscheinlich, weil sie beide als Sportart Langstreckelauf genannt haben. Nur Sebastian setzt sich alleine hin.
Komischer Schnösel, der scheint nicht auf Freunde aus zu sein ...

Frau Süß hockt sich auf einen der Kästen.
„Sie wissen sicher, dass es für den Abschlussjahrgang immer zusätzlich zum normalen Unterricht ein Projekt gibt. Da Sie alle nach dem Abitur in eine Ausbildung oder ein Studium durchstarten wollen, ist es sinnvoll, einige 'Überlebenstechniken' zu erlernen. Darum gibt es Angebote wie den Job-Knigge für zukünftige Büroangestellte, das Führen eines Haushaltsbuches und alles, was man für ein selbständiges Wohnen wissen muss, ein Angebot konzentriert sich darauf, Ihnen preisgünstiges Kochen beizubringen, das dürfte vor allem die interessieren, die zum Studium in eine andere Stadt ziehen werden und nicht ausschließlich von Tiefkühlpizza leben wollen. Herr Erdmann macht wieder die Abi-Feier-Vorbereitung.
Und in diesem Jahr gibt es zum zweiten Mal das Angebot „Survival-Training", das auf mehrere Ganztagsveranstaltungen und eine Woche vor den Herbstferien verteilt stattfindet. Das Projekt ist limitiert auf zwölf Teilnehmer und beinhaltet folgendes: es gibt die Gelegenheit, an einem Erste-Hilfe-Kurs für Outdoor-Aktivitäten teilzunehmen. Wir werden die Grundlagen fürs Klettern und Boldern lernen. Und wir werden vor allem in der Projektwoche solche Fertigkeiten wie Teambuilding, Ernährung aus der Natur, Überwinden von Hindernissen, Erkennen von Gefahren, Übernachten ohne Campingausrüstung, Feuer machen ohne Feuerzeug und einiges mehr üben, womit man in freier Wildbahn überleben kann. An diesem Angebot können alle teilnehmen, die mit einem ärztlichen Attest vorweisen können, dass sie körperlich gesund sind."

Ein Raunen geht durch die Runde. Das klingt total spannend. Jetzt sitze auch ich kerzengrade und konzentriert auf der Bank.
„Alle Projekte sind auf der Schul-Homepage aufgelistet, und dort können Sie auch den Anmeldebogen mit Erst-, Zweit- und Drittwahl ausfüllen. Gibt es zum Projekt noch Fragen?"
Alle schütteln den Kopf. Wir drei sehen uns an.
„Das ist unser Ding!"
Moritz fängt an zu hibbeln.

„Gut, dann darf ich Ihnen noch erzählen, wie dieses letzte Schuljahr für Sie aussehen wird. Die Q3 wird verkürzt sein und nur bis zu den Weihnachtsferien gehen. Ab Januar gibt es für Sie die Q4. Vor den Osterferien werden die Abitur-Klausuren geschrieben. Im Mai folgen dann die Mündlichen und natürlich für den Sport-LK die praktische Prüfung. Der allgemeine Unterricht endet eine Woche nach den Osternferien. Aber ich empfehle Ihnen dringend, sich schon in Lerngruppen zu finden und gemeinsam ab jetzt zu büffeln, was das Zeug hält. Sie werden froh sein, wenn der Berg kurz vor den Klausuren nicht mehr zu groß ist.
Eine Sport-LK-Klausur in der Q3 können Sie ersetzen durch eine Facharbeit über ein mit mir abgesprochenes Thema. Aber auch ohne Facharbeit sollten Sie frühzeitig ein Thema mit mir aussuchen, denn Ihre praktische Prüfung wird sich an der Facharbeit oder eben diesem Thema orientieren. Alle Fristen dafür stehen in diesen Unterlagen, die ich nun rumgebe."

Ich weiß schon lange, was ich als Facharbeit und praktische Prüfung machen will – meine Lieblingsart, mich zu bewegen – Contemporary Dance.
Aber die Facharbeit muss mit praktischen Erfahrungen belegt werden. Ohne Tanzunterricht?
Schon wieder sackt meine Laune ein Stück tiefer.

Frau Süß gibt einen Stapel Papier in die Runde und wartet ab, bis das Geraschel sich wieder gelegt hat.
„Sind dazu noch Fragen?"
Wieder schütteln alle den Kopf.
„Gut. In Zukunft haben Sie montags in der ersten Stunde die Sport-Theorie. Den Raum entnehmen Sie bitte den Aushängen. Je eher Sie sich mit Ihrem persönlichen Stundenplan vertraut machen, desto leichter starten Sie ins Halbjahr. Wir sehen uns dann am Mittwoch hier in der Halle wieder. Ich wünsche Ihnen einen guten Start!"

Alle stehen auf, die Bänke wandern zurück an ihre Plätze und nach und nach leert sich die Halle. Nur ich stehe noch unschlüssig neben der Tür, bei mir meine Freunde Moritz und Paul.
Schön wärs. Ohne Tanzen keine Arbeit über Tanz ...
„Max? Haben Sie eine Frage?"
Zögerlich gehe ich auf Frau Süß zu, sage aber nichts.
„Max, irgendwas stimmt doch mit Ihnen nicht. Sie haben heute nicht einen einzigen flapsigen Spruch losgelassen. So kenne ich Sie gar nicht. Wo ist Ihr freches Grinsen geblieben?"
Kurz schaut sie Moritz an, der ihr zunickt.
„Ihr Freund Moritz war am Donnerstag in der Schule, weil er sich Sorgen um Sie gemacht hat und rausfinden wollte, ob Sie weiter bei Frau Hartmann Unterricht haben würden. Er ... hat mir auch von dem Brief Ihres Vaters berichtet. Sie haben sicher schon auf den Plänen gesehen, dass der Mathe-Unterricht ab jetzt von mir erteilt wird. Daraufhin habe ich mich mit den Leistungen des Kurses im letzten Halbjahr beschäftigt und möchte Ihnen meine Hilfe anbieten."

Abwartend schaut sie mich an, also gebe ich mir endlich einen Ruck.
„Ich ... hab nicht nur das Mathe-Problem. Ich bin nicht doof, ich denke, mit guter Nachhilfe bekäme ich das in den Griff. Aber mein ... Vater ... hat sich so über mein Zeugnis aufgeregt, dass er mir das Tanzen verboten hat. Und damit bin ich eigentlich hier raus, denn ich kann keine Facharbeit schreiben und keine praktische Prüfung ablegen, wenn ich keinen Sport mehr ausübe. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll."
Meine Stimme wird immer verzweifelter und immer leiser, ich kann das gar nicht verhindern.

„Max?"
Nun schaue ich doch hoch.
„Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Das Gespräch, um das Ihr Vater gebeten hat, wird nun natürlich mit mir stattfinden, zumal ich Ihre Tutorin bin. Und ich werde Ihnen ganz bestimmt nicht jetzt den Stuhl vor die Tür stellen. Sie sind hier im LK, und wir werden Wege finden, wie Sie weiter tanzen können. Es wäre vergeudetes Talent, Ihnen das Tanzen zu verbieten."
„Aber ... er dreht mir den Geldhahn ab. Ich kann von meinem Taschengeld keine drei Trainingseinheiten pro Woche bezahlen, er wird meine Abwesenheiten von zu Hause kontrollieren, ich ..."
„Luft anhalten und zuhören. Ich habe mir die Bedingungen für die Teilnahme am Sport-LK und für die Zulassung zum Abitur nochmal angesehen. Ihr Vater hat wie alle anderen Eltern dieses Leistungskurses auch unterschrieben, dass er als Voraussetzung für die Teilnahme garantiert, dass Sie bis zum praktischen Abitur einen externen Sport ausüben müssen und werden. Das ist ein Vertrag, den er mit der Schule geschlossen hat. Ich werde sehr energisch darauf bestehen, dass er sich daran hält."

Meine Augen werden gefühlt immer größer, und Hoffnung keimt in mir auf.
„Ach, hier ist die Antwort an Ihren Vater. Das Gespräch ist am Donnerstag Nachmittag. Wenn Sie am Mittwoch nach der Sechsten noch etwas Zeit haben, können wir beide uns auf eine Strategie für das Gespräch verständigen. Wie wäre das? Dann fühlen wir uns nicht so hilflos."
Ich atme tief durch.
„Danke! Ja, damit fühle ich mich besser. Vielleicht habe ich dann doch noch eine Chance aufs Abi."
„Kopf hoch, soooo schlimm sieht es nicht aus. Das kriegen wir hin. Und jetzt ab mit Ihnen. Die Pause ist schon fast um."

Während wir aus der Halle gehen, unsere Schuhe anziehen und uns zu unseren verschiedenen nächsten Kursen begeben, sehe ich aus dem Augenwinkel, dass Frau Süß kopfschüttelnd mitten in der Halle stehen bleibt. Sie ist noch nicht lange in diesem Job unterwegs. Und ihre Solidarität tut mir gut. Ich muss jede Hilfe annehmen, wenn ich das noch gebacken kriegen will. Kurz darauf kommt eine „enthusiastische" siebte Klasse zur Halle geschlurft, und wie ich sie kenne, schaltet Frau Süß jetzt gleich auf Sklaventreiber. Das kann sie nämlich hervorragend ...

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21.9.2020    -    4.2.2021    -    6.3.2021

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