008 * Hilflosigkeit * Mo. 5.8. 2019

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Als ich mittags mit Jenny nach Hause radele, bin ich schon wieder ganz in Gedanken.
„Erde an Toni, alles klar?"
„Äh, ja."
„Hei, die Ampel war übrigens rot, du Nase. Grübel zu Hause weiter!"
Schnell mache ich eine Vollbremsung, bevor ich noch vom Querverkehr überrollt werde. Jenny fährt kopfschüttelnd hinter mir her und lotst mich mit peinlichen Kommandos durch den Mittagsverkehr, bis wir zu Hause ankommen.

„So, meine Liebe. Spucks aus. Das ist doch nicht normal. Ich habe dich immer als sachliche, zielorientierte Studentin und Referendarin erlebt. Du warst in all den Jahren noch nie soooo weggetreten."
Ich beiße die Zähne zusammen und sage nur ein Wort.
„Max."
„Und? Hat er sich heute schon wieder Rededuelle mit dir geliefert?"
„Nö. Das ist es ja grade. Er hat stumm auf der Bank gesessen, sich alles angehört, stumm mitgemacht. Er ist nicht er selbst. Als ich ihn hinterher angesprochen habe, hat er eigentlich nur gestottert. Ich habe noch nie einen jungen Menschen innerhalb so weniger Wochen so in sich zusammenfallen gesehen. Was sein Vater da mit ihm macht, ist Psychoterror."

„Aaaaaaaber – das ist nicht dein Terror. Du kannst Max nicht im Alleingang retten, wenn sein Erziehungsberechtigter einen Knall hat. Du hast am Donnerstag das Gespräch, sieh zu, was du reißen kannst. Und dann lass Max da, wo er hingehört – raus aus deinem Privatleben."
Zweifelnd sehe ich meine Freundin an. Genau das habe ich auch immer gesagt.
„Lerne zu trennen, sonst gehst du unter!"
Aber so sachlich und strukturiert ich sonst immer bin – diesmal will es mir einfach nicht gelingen.
„Vielleicht hast du recht, und das Gespäch am Donnerstag hilft uns allen. Ich hoffe es jedenfalls."
Dieser Stoßseufzer kam aus tiefstem Herzen, und deshalb weiß Jenny auch, dass ich das Problem nicht so schnell loslassen werde. Ich stecke schon viel zu tief drin. Sie schüttelt den Kopf, lässt mich jetzt aber in Ruhe.

„Wir müssen aber nicht immer nur über mich reden. Erzähl mir, wie dein erster Tag gelaufen ist. Ich bin schon ganz neugierig."
Jenny sieht mich skeptisch an.
„Na gut, dann lenke ich Dich eben ab."
Bewaffnet mit zwei Gläsern, einer Flasche Wasser und dem Milchreis mit Zucker und Zimt, den ich heute morgen aufgesetzt habe, pflanzen wir uns wieder auf den Balkon.

„Hmmm. Gib mir doch nochmal Zucker und Zimt rüber. ... Danke! ... Also, pass auf. Lennart hat mich an meinem Platz im Lehrerzimmer empfangen mit einem kleinen Blumenstrauß und einer Tüte Gummibärchen in Turnschuhform. Er meinte dazu, ich bräuchte in den nächsten eineinhalb Jahren viel Ausdauer, die richtige Nervennahrung und ab und zu den Duft von Freiheit in der Nase."
Ich grinse und erinnere mich.
Ja, das ist Lennart.
„Als erstes sind wir natürlich in seine siebte Klasse gegangen, in der er Physik und Ethik unterrichtet. Er hat mich einfach kurz vorgestellt und dann seine Begrüßungsstunde durchgezogen. Die Schüler haben übrigens auch alle Gummi-Turnschuhe bekommen. Fand ich richtig süß.

Nach der Stunde, als die Schüler draußen waren, hat er mich angesehen.
'Sei mal ganz spontan, Jenny. Wenn du diese Stunde in EIN Wort fassen müsstest, welches wäre das? Nicht denken! Einfach antworten!' Ich war ganz verblüfft."
„Und? Welches Wort ist dir eingefallen?"
„Zugewandt. Er ist jedem Menschen, der ihm gegenüber steht, konzentriert und freundlich zugewandt. Ich konnte spüren, dass seine Schüler ihn mögen."
„Lass mich raten. Und dann hat er dich gebeten, dir ein kleines Notizbuch oder eine bestimmte Ecke im Lehrerkalender einzurichten und zu wirklich jeder einzelnen Schulstunde, die du im Laufe der Zeit erlebst, genau ein Wort aufzuschreiben."

„Hä? Woher weißt du das denn???"
„Ich hatte den selben Mentor. Schon vergessen?"
„Und warum hast du mir das nicht erzählt?"
„Hab ich. Ganz bestimmt. Ich hab am ersten Tag genauso von Lennart geschwärmt wie du jetzt. Du kannst dich nur nicht mehr dran erinnern, weil du ein Gedächtnis wie ein Sieb hast."
„Pö! Solange ich meinen Namen noch weiß ..."
„Na, das wär ja auch noch schöner. 'Guten Morgen, liebe Schüler. Ich bin die neue Lehrerin, Ich muss zwar immer erstmal nachschauen, wie ich heiße, aber wir werden bestimmt viel Spaß miteinander haben.' - So etwa?"

Scheppernd fällt der Löffel in meine leere Milchreisschüssel, denn Jenny ist aufgesprungen. Also wird es höchste Zeit, mich in Sicherheit zu bringen. Ich flitze in die Wohnung, brülle ein „muss aufs Klo" über die Schulter und verschwinde im Bad.
„Feige Nuss, dich krieg ich noch!"
Doch kaum sitze ich wirklich auf dem Klo, werde ich wieder ernst. Ich liebe diese spritzigen Wortkabbeleien. Aber mein bester Sparringspartner ist grade völlig außer Gefecht und bangt um seine Zukunft.
Und wenn ich ihm kostenlos Nachhilfe gebe. Das wär ja wohl gelacht! Das kommt doch überhaupt nicht in Frage, dass seine beiden Freunde sich die Ferien lang den Rücken krumm schuften, weil der Herr Papa seiner elterlichen Pflicht nicht nachkommen will.
Meiner lieben Jenny erzähle ich hinterher lieber nichts von diesen Gedanken, die hat eben schon so fragend gekuckt ...

Als ich aus dem Bad komme, lauert zum Glück keine Jenny hinter der Tür. Die hat sich stattdessen brav in ihr Zimmer verzogen, um was für die Schule zu tun und ihr Tagebuch zu füttern. Also gehe auch ich in mein Zimmer und bereite meine Stunden für morgen vor. Außerdem ist Dienstag immer der lange Tag, weil am Nachmittag die Gesamtkonferenz stattfindet. Es ist erstaunlich, aber sie finden tatsächlich jede Woche genug zu bequatschen, dass die Zeit dann doch wieder nicht reicht. Ich schaue also auch schonmal, was für mich am Mittwoch dran ist.

Nach der Sportstunde müssen wir uns dank Kurssystem aufteilen. Ich gehe zum Biosaal, während Moritz zum Chemielabor geht und Paul sich extraordinär über zwei Freistunden freut. Er geht also in die Schul-Bibliothek, um sich für diese Zeit dort einen Arbeitsplatz zu reservieren. In der fünften Stunde sitze ich dann mit Moritz in Erdkunde, Während Paul Physik hat. In der Mittagspause treffe ich Paul in der Mensa, anschließend sitzen wir noch zwei Stunden Spanisch ab. Moritz – Neid! - darf nach Hause. Und die ganze Zeit knistert dieser Brief von Frau Süß an meinen Vater in meiner Tasche. Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht weiß, was darinnen steht.
Ist das nur der Termin? Oder noch mehr? Und wie wird mein Vater das aufnehmen, dass er nun DIE Mathelehrerin gar nicht zu Gesicht bekommt? Naja, bald werde ich es wissen.

Um 3.15 darf ich mich endlich auf mein Rad schwingen und nach Hause fahren. Tanja erwartet mich wie immer. Wenn ich Redebedarf habe, hört sie zu, wenn ich meine Ruhe haben will, ist es auch o.k. Nur wenn ich gerne über Papa reden würde, um irgendwie zu verstehen, was in dem vorgeht, dann traue ich mich bei Tanja nicht. Die beiden sind verheiratet, da kann ich doch nicht dazwischen funken mit meinen persönlichen Problemen. Wenn mir sowas auf dem Herzen liegt, dann gehe ich eine Tür weiter und quatsche mich bei Tante Jana aus. Und wenn mir alles auf den Keks geht, radele ich zum Friedhof und erzähle einfach alles meiner Mama. Die antwortet zwar nicht, aber sie hört zu. Und das tut gut.

Zu Hause angekommen, begrüße ich erstmal Tanja und erzähle ihr von der neuen Mathelehrerin, die ich ja schon aus dem LK kenne. Dann verkrümele ich mich in mein Zimmer.
Hab ich noch genug Zeit zu tanzen, bevor Papa nach Hause kommt? Achja ... die Anlage funktioniert ja noch immer nicht.
Ich hab zwar mit Tanjas energischer Hilfe mein Handy wieder, aber das Kabel zur Anlage hat er behalten. Also mache ich auf fleißiger Sohn und packe die Hausaufgaben für Spanisch und Bio aus. Vokabeln, fürs neue Thema den Begriff „Ökologie" definieren.

Am spannendsten ist aber Erdkunde. Thema ist: „Der Zusammenhang zwischen der Geologie eines Landes, dem Klima, der geografischen Lage und der Wirtschaft dieses Landes." Und damit nicht alle dasselbe Land nehmen, soll sich jeder irgendein Land auf der Welt rauspicken, das mit demselben Buchstaben anfängt wie der eigene Vorname. Max. M. Ich schmeiße meinen PC an und suche nach Ländern mit M. Marokko, Malaysia, Myanmar –
Puh, alles solche Exoten.
Mexico, Malta!
Hei, das ist sogar Europa.
Mikronesien??? -
Wo ist das denn??? -
Mali, Malawi, Malediven –
denen fällt auch nix neues mehr ein.
Monaco.
Da ist der Zusammenhang ganz schnell erklärt. Kein Land, kein Boden, keine Bodenschätze oder Erträge. Wirtschaft: das Fürstenhaus und die Spielbank. Fertig.
Ganz so leicht will ich es mir aber auch nicht machen. Mauritius, Magyar, Madagaskar.
Madagaskar? Warum nicht? Na gut. Madagaskar. Ab zu Papa Wikipedia.

Zwei Drittel der Insel werden von präkabrischen Gesteinen aufgebaut, die mehrfach, zuletzt während der Entstehung Gondwanas vor 540 Millionen Jahren, deformiert und metamorph geprägt wurden. Im äußersten Osten um die Bucht von Antongil und bei Mananjary sind archaische Gneise mit Altern um 3,2 Milliarden Jahren aufgeschlossen, die mit identischen Gesteinen im Dharwar-Kraton in West-Indien korreliert werden.

Daran schließt sich nach Westen eine schmale Zone mit hochmetamorphen Sedimentgesteinen und Basalten an, die Überreste eines ehemaligen Ozeanbeckens dokumentieren, das am Ende des Präkambriums subduziert wurde. Das zentrale Hochland wird von spätarchaischen Graniten und Gneisen aufgebaut, in die drei große, rohstoffreiche Grünsteingürtel eingefaltet sind.

Im Süden der Insel treten Gesteine mittelproterozoischen Alters auf, die besonders hohen Metamorphose-Temperaturen von mehr als 1000 °C ausgesetzt waren. Der nördliche Teil der Insel enthält jungproterozoische Vulkanite, Granite und Sedimentgesteine eines Inselbogens, der erst im Kambrium angegliedert wurde.

Ja großartig! Bin ich der Brockhaus? Jedes sechste bis achte Wort ist ein Fremdwort. Bis ich die drei Absätze kapiert habe, habe ich halb Wikipedia durchgelesen!
Ich kann nur entsetzt den Kopf schütteln.
Vielleicht doch ein anderes Land? Aber die sind wahrscheinlich genauso metamorph wie Madagaskar, und dann ist es auch egal.
Seufzend mache ich mich daran, all diese Wörter zu verstehen und die Bedeutung zu notieren.

Als draußen vor meinem gekippten Fenster eine Autotür zuklappt, stellen sich mir sofort die Nackenhaare auf. Intuitiv greife ich nach meiner Tasche, in der der Brief steckt wie eine Bombe, die jeden Moment hochgehen könnte. An Lernen ist jetzt eh nicht mehr zu denken, also kann ich es auch hinter mich bringen. Ich lasse meinem Vater noch ein paar Minuten zum Ankommen, dann gehe ich nach unten.

„Hallo, Papa. Meine Tutorin Frau Süß hat mir eine Antwort auf deinen Brief mitgegeben."
Ich lege den Umschlag auf den Wohnzimmertisch, wo mein Vater es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hat. Doch der reagiert gar nicht, denn er checkt irgendwas auf seinem Handy. Schließlich legt er es weg.
„Gut. Kein Youtube in deinem heutigen Suchverlauf. Wollte ich auch gehofft haben."
Ich zucke zusammen.
Dieses Misstrauen, diese ganze Hetze tut so weh, vom eigenen Vater.
Dann greift mein Vater nach dem Umschlag, schlitzt ihn sorgfältig und quälend langsam mit dem kleinen Finger auf und fängt an zu lesen. Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt und drehe gleich durch.

„Donnerstag um 16.00. Das könnte ich schaffen, wenn die Sitzung nicht zu lange dauert. Sei du bloß pünktlich, ich komme dann direkt von der Arbeit."
Das war alles? Puh!
„Ich habe am Donnerstag eh Mensa und nachmittags noch Sport, ich bleib gleich da, dann bin ich auf jeden Fall pünktlich."
„Und die Hausaufgaben?"
Kontrollfreak!
„Die fang ich in der Pause zwischen Sport und dem Gespräch an."
„Na dann. Mach dich wieder an deine Aufgaben."
Möglichst unauffällig, aber zügig trete ich den Rückzug an und bin froh, als ich meine Zimmertür hinter mir schließen kann. Schnell texte ich in unseren Tänzer-Chat, dass mein Kopf noch dran ist. Dann mache ich mich wieder an meine Notizen über Madagaskar.

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22.9.2020    -    7.4.2021

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