009 * Mathe und Tanzen * Di. 6.8. 2019

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Zwei Stunden Englisch. Vorm Wachwerden. Also – nicht vorm Aufstehen. Aaaaaber vorm Wachwerden. Doch mit Herrn Knörz haben wir immer sehr viel Spaß, weil er ein großer Fan vom typisch englischen schwarzen Humor ist. Nach der ersten Pause kommt dann Mathe.

Wir wissen ja schon, dass nicht Frau Hartmann sondern Frau Süß zur Tür reinkommen wird. Trotzdem kann ich mich mal wieder nicht zurückhalten. In dem Moment, wo die junge Lehrerin den Raum betritt und das Pult ansteuert, tue ich seeeeehr erstaunt.
„Ich glaub, ich bin im Märchenland. Kuckt mal, Leute. Der Mathedrachen ist weg, und dafür ist jetzt ein Mathezwerg da."
Alle Augen richten sich auf unsere Lehrerin, denn die Wortduelle zwischen mir und Frau Süß sind fast schon berühmt.

Die setzt sich auf ihr Pult, schlägt die Beine übereinander und hat natürlich schon ihre Antwort parat.
„Solange Sie auch märchenhafte Leistungen abliefern, bin ich mit dem Setting durchaus einverstanden."
Das Witzige ist ja, dass einer von uns beiden zwangsläufig immer das letzte Wort haben muss. Aber ich habe nie das Gefühl, ich hätte „verloren", wenn sie die Nase vorn hat. Es geht überhaupt nicht ums Gewinnen oder stärker sein oder um Autorität. Es macht einfach nur Spaß.
„Kein Problem. Ich leih mir einfach den Zauberer von Oz, der hext dann meine Hausaufgaben und Arbeiten clean. Das wird schon."
Frau Süß grinst. Und ich kann sehen, dass sie sich heimlich über irgendwas freut.

„So, meine Damen und Herren. Auch hier die Frage nach dem „Du" und „Sie", denn Lore Braun ist auch in Mathe zu uns gestoßen."
Lore läuft schon wieder rot an.
„Mir ist das egal. Ich find das 'Sie' komisch, Sie können gerne 'Du' sagen, wenn alle anderen das auch wollen."
Alle anderen atmen auf. Und auch ich denke mir meinen Teil. Kein Sebastian, kein „Sie". Das ist nämlich einfach nur bescheuert.

Mich juckt es schon wieder.
„Ich bin gespannt, wie lange Sie das durchhalten, uns in Sport konsequent zu siezen und in Mathe dafür zu duzen. Was kriegt derjenige, bei dem Sie sich versprechen?"
Frau Süß hatte sich grade zur Tafel gedreht. Ihre Hand mit der Kreide schwebt einen Moment in der Luft. Dann dreht sie sich lächelnd zu mir um.
„Meine aufrichtige Hochachtung, wenn er oder sie es schafft, vollständig 'Mööp' zu brüllen, bevor ich das nächste Wort gesprochen habe."
Seelenruhig dreht sie sich wieder zur Tafel und schreibt das erste Thema dieses Halbjahres an. „Statistik". Sie dreht sich wieder zur Klasse.
„Wenn dieses Thema durch ist, Max, dann kannst du sicher problemlos berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich das ein ganzes Halbjahr lang fehlerfrei durchhalte."
Mir fällt die Kinnlade runter vor Entsetzen, während der restliche Kurs in schadenfrohes Gelächter ausbricht. Aber schließlich muss ich doch auch mitlachen und zwinkere Frau Süß zu, die mich breit angrinst.

Ich weiß, dass ich meine Chance nutzen muss, und versuche darum, mich wirklich zu konzentrieren. Aber in meinen Ohren klingt alles, was ich höre, chinesisch, egal, wer da vorne steht.
Mensch, hoffentlich kriege ich wirklich Nachhilfe. Sonst wird das nix.

Nach dem Unterricht bittet sie mich, noch einen Moment zu bleiben. Als alle anderen weg sind, fragt sie nach ihrem Brief.
„Wie hat dein Vater reagiert?"
„Ich weiß nicht, ob er es nicht kapiert hat, oder ob es ihm egal ist, vor wem er mich blamiert. Jedenfalls hat er es geschluckt. Im Grunde ist mir das auch egal. Ich weiß selbst, was ich in diesem Schuljahr tun und erreichen muss, damit ich das Abi und die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen bestehen kann."
„Und das wäre?"
"Viiiieeeeeeeel nachholen in Mathe. Ich hab heute schon wieder wie Ochs vorm Berg gestanden. Viiieeeel Tanzen. Und insgesamt viiiieeeeel klotzen. Ich bin bereit dazu. Mich machen nur die in der Regel völlig ungerechtfertigten Attacken von Frau Hartmann mürbe. Und mein Vater, der mir ständig sagt, dass ich ein Versager bin und nicht zur Familie gehöre und blablabla. Ich hab bald keine Kraft mehr, da gegenan zu halten."

„Max, nachdem ich begriffen habe, mit welchen Hürden du im Moment zu kämpfen hast, habe ich mich entschlossen, dir selbst Nachhilfe zu geben. Dann kann ich gezielt die Lücken in deinem Wissen so schließen, wie du das für die jeweils nächste Klausur brauchst. Ich arbeite dann sozusagen mit mir selbst Hand in Hand."
Klingt cool. Wo ist der Haken?
„Ich werde am Donnerstag sehen, wieviel ich bei deinem Vater rausholen kann, werde aber keinen üblichen Preis pro Stunde nennen. Und du machst dir bitte keinen einzigen Gedanken um meine Bezahlung, das regle ich."
Ich strahle sie an.
„Aber du wirst hart, hart arbeiten müssen. Bist du dazu bereit?"
Ich nicke bloß, bin völlig überwältigt.
Was für eine Chance!

„Und mit Frau Hartmann werde ich in den Ring steigen. Das muss ein Ende haben. Für alle Schüler. Und nicht erst, wenn sie nächstes Jahr in Pension geht."
Sie lächelt mich an, steht auf und geht raus. Ich muss mich kurz sammeln, bevor ich registriere, dass ich jetzt wohl auch mal den Raum verlassen sollte, damit sie abschließen kann.

Nach Mathe kommt Geschichte, das haben wir auch noch zusammen. Thema ist wie wahrscheinlich überall in Deutschland im letzten Jahr „Faschismus, Drittes Reich, 2. Weltkrieg" und dazu so philosophische Fragen wie „wie konnte Faschismus entstehen?" oder „der autoritäre Mensch" von Theodor Adorno.
Das wird spannend.
Ich mag es, nicht nur Zahlen und Namen zu lernen sondern gründlich hinter die Kulissen zu schauen. Moritz und Paul rollen immer die Augen zur Decke, wenn ich anfange zu schwärmen.

Meine letzte Stunde für heute ist die erste Stunde im Deutsch-LK. Herr Erdmann hat immer witzige Ideen. Und auch heute kommt er mit einem schrägen Ding um die Ecke. Denn wir müssen den Faust 1 von Goethe lesen. Und damit wir das auch tun, kriegt am Ende vom Halbjahr derjenige 10,-€ von Herrn Erdmann, der beim Lesen im Faust die meisten gängigen deutschen Sprichwörter gefunden hat.
Na, da bin ich ja mal gespannt.

Tanja hat heute besonders für mich gekocht, doch ich krieg irgendwie nichts runter. Denn in dem Moment, als ich eben in mein Zimmer kam, ist mir meine Sporttasche aufgefallen, und das wars dann. Die drei anderen haben heute Tanztraining. Ohne mich. Ich muss Luis überhaupt noch sagen, dass ich nicht mehr tanzen darf.

Also stochere ich stumm im selbstgemachten Kartoffelbrei mit meinen Lieblingswürstchen rum und schaue Tanja nicht an.
„Max? Du bist traurig, weil heute Training ist, oder?"
Ach neeee!
Ich nicke bloß.
„Ich ... habe das nicht mit deinem Vater abgesprochen, aber ... ich denke, du solltest heute zum Training gehen, damit du das deinem Trainer in Ruhe erklären und über eine Lösung beraten kannst. Du brauchst das Training für deinen Leistungskurs und für dein Studium. Und dafür brauchst du diesen Mann. Ich gehe heute mit Axel essen und hole ihn dafür direkt von der Firma ab. Du hast also freie Bahn."
Diese Frau zu heiraten, war das zweitbeste, was er je in seinem Leben getan hat!
Ich falle Tanja um den Hals, esse mit viel Appetit das leckere Essen auf und stürze mich auf meine Hausaufgaben. Um 16.30 packe ich meine Tasche, winke Tanja nochmal durch die Wohnzimmertür zu und schwinge mich draußen auf mein Rad.
Gott, freue ich mich aufs Tanzen!
Lasse kommt auch raus, und wir flitzen zusammen los.

Meine Kumpel schauen ziemlich erstaunt, als ich zur Tür des Studios reinkomme. Aber ich vertröste sie auf später. Zunächst tanzen Moritz und ich zwei Stunden lang mit der fortgeschrittenen Contemporary-Gruppe, was da so dran ist. Paul ist nebenan beim Ballett, im dritten Saal sind die Gesellschaftstänzer. Danach macht Luis immer mit uns noch weiter. Doch diesmal hocken wir uns einfach in die Runde, denn wir haben viel zu besprechen.

Als erstes erzählen wir ihm, was in den Ferien alles passiert ist und dass es jetzt gilt, mein Abi und mein Studium zu retten. Luis ist geschockt. Daraufhin wollen Moritz und Paul ihm einen dicken Briefumschlag in die Hand drücken.
„Luis, wir haben in den Ferien gejobbt, damit wir wenigstens einen Teil von Max Tanzstunden bezahlen können."
Aber der schiebt die Hand mit dem Umschlag sofort wieder zurück.
„Das warten wir jetzt mal ab. Am Donnerstag ist das Gespräch mit Eurer Tutorin, die klingt ziemlich kampfbereit. Und ansonsten wirst du, Max, vielleicht nicht mehr so oft ins Training kommen, aber wir werden dich einplanen. Die Stunden, in denen wir deine Facharbeit vorbereiten, wird deine Lehrerin mindestens rausholen. Und den Rest werden wir sehen."

Ich habe nicht viel Hoffnung, dass da mehr zu holen ist, aber die Solidarität von allen Seiten tut mir einfach gut. Also plane ich weiter mit, als ob ich dabei sein könnte. Luis erzählt uns von seinen Ideen.
„Ich habe in den Ferien viel nachgedacht, wie wir das anpacken sollen. Erstens haben wir wie immer am Anfang der Osterferien die große Jahresaufführung für Eltern und Publikum. Die Gruppe wird da sicher was zeigen, aber ich wollte mit euch zu viert noch was extra machen. Und zwar so, dass ihr das sowohl für eure praktische Abi-Prüfung als auch für die Aufnahmeprüfungen brauchen könnt. Irgendwas, was eure verschiedenen Tanzstile und Stärken gut hervorhebt, wo ihr aber trotzdem alle alles mal zeigt. Und ich wollte euch dafür als Extrazeitschiene den Sonntag Nachmittag anbieten. Meine Freundin studiert jetzt für ein Jahr im Ausland, also habe ich für sowas Zeit."

Wir starren ihn mit großen Augen an.
„WOW! Das ... klingt echt cool. Und spart im Grunde Arbeit, wenn es uns gelingt. Das heißt, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und das eine Ding wirklich richtig intensiv zu proben. Aber Sonntag nachmittags lässt mein Vater mich ganz sicher nicht unbeobachtet. Das wird schwierig."
„Ich dachte mir das so, dass ihr ganz normal zu den beiden Trainingseinheiten am Dienstag und Freitag zu euren Gruppen kommt. Anschließend trainiere ich mit euch eure Disziplinen so, dass alle am Ende mehr oder weniger auf dem gleichen Stand sind. Ihr habt so unterschiedliche Schwerpunkte, dass wir da dran arbeiten müssen."

Wir müssen grinsen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir zusammen tanzen, denn Paul tanzt klassisches Balett, Moritz ist am anderen Ende der Skala mit seinem Fable für Street Dance und HipHop, Lasse hat am meisten Spaß am Gesellschaftstanz und auf Turnieren mit seiner Formation inzwischen ziemlich oft Erfolg. Und ich befinde mich mit dem Contemporary irgendwo in der Mitte von allem.
„Das heißt, dass ihr euer jeweils eigenes am Sonntag einbringen werdet, dass wir aber an den beiden Abenden uns darauf konzentrieren, dass ihr das andere auch gut drauf habt, sonst besteht ihr keine Aufnahmeprüfung. Vor allem Moritz muss aus der Exotenecke raus."

Er schaut Moritz an.
„Bis die Knochen krachen. Ohne Spitzentanz kommst du an keine Uni, soweit muss du in dem dreiviertel Jahr kommen."
Moritz schluckt.
„Eiei, Käptn. Heile Füße adé."
Paul lacht ihn aus.
„Du hast'n Vogel. Ich hab auch keinen Bock, mit 30 schon mit'nem Rollator durch die Gegend zu schlurfen. Das geht auch ohne!"
„Das Schlurfen?"
„Kopp dicht, Max! Das Tanzen geht, ohne die Knochen zu ruinieren."

„Und wie stellst du dir das vor, dass ich da Schritt halte und mitmache bei der Entwicklung der Choreographie, wenn ich praktisch nie dabei sein kann? Und ich hab auch einfach die Kohle nicht!"
„Wie gesagt, das mit der Kohle lasst meine Sorge sein. Die Eltern von Moritz und Paul haben schon die Finanzierung des Sonntags zugesagt. Lasses Eltern werde ich noch fragen. Und ob du nun dabei bist oder nicht, ob du da was zahlst oder nicht, ändert nichts an meinem Aufwand. Der Sonntag geht klar. Eigentlich geht es nur um die direkte Kursgebühr. Und da fällt uns schon noch was ein. Wir warten jetzt erstmal den Donnerstag ab."

Ich kann nicht mehr.
Wer bin ich, dass so viele Menschen bereit sind, so viel für mich zu opfern?
Mir schießen die Tränen in die Augen, und ich falle Luis einfach mal um den Hals. Dann packe ich meinen Krempel.
„Ich sollte mein Glück heute nicht ausreizen. Ich gebe sofort Nachricht, wenn das Gespräch rum ist. Danke euch allen!"
Damit flitze ich raus zu meinem Fahrrad und mache mich auf nach Hause.

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23.9.2020    -    7.4.2021

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