026 ** Routine ** Mo. 19.8.2019

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Trotz der ganzen Vater- und Hartmann-Katastrophen von Max bin ich nun nach zwei Wochen ziemlich angekommen im neuen Schuljahr. Ich fange an, meine Klassen zu kennen, die Sitzungen werden Routine, die Unterrichtsvorbereitungen gehen glatter von der Hand und auch unser WG-Leben rüttelt sich entlang unserer Stundenpläne wie jedes Jahr neu zurecht. Die Projektwahl lief glatt, das Kollegium nimmt mich für voll – im Großen und Ganzen kann ich echt zufrieden sein mit meinem Leben.

Ich sitze schon am Lehrerpult, als meine Zwölfte nach und nach im Klassenraum für die Sport-Theorie eintrudelt. Ich schaue sie mir nacheinander an. Sie lernen nun seit 1,5 Jahren miteinander, und ich befürchte, ich werde nie wieder in meiner Lehrerinnenlaufbahn einen Kurs haben, in dem alle so miteinander harmonieren, sich tolerieren, sich gegenseitig unterstützen. Ich bin einfach begeistert, wie schnell Lore ihren Platz in der Gruppe gefunden hat. Nur mit Sebastian muss ich mich nochmal näher befassen. Er hält sich zwar sehr zurück seit der klaren Ansage von Moritz, aber er geht auch überhaupt nicht von sich aus auf die anderen zu. Und ich habe den Jungen in den ganzen zwei Wochen nicht einmal lachen sehen.

„Guten Morgen! Schön, dass Sie alle da sind. Ich habe grade eben wieder gedacht, dass Sie einfach ein toller Jahrgang und eine tolle Gemeinschaft sind. Und das wollte ich zum Wochenstart mal loswerden.
Sie haben letzte Woche entschieden, dass Sie mit dem Thema „Leistungssport und Gesundheit" beginnen wollen, und sollten als Hausaufgabe diese Fragestellung auf ihren eigenen Sport beziehen. Ich hätte jetzt gerne, dass Sie noch einmal kurz ihre Hausaufgabe überfliegen, und dann tragen wir doch mal zusammen, wo da die Fallen und die Möglichkeiten sind. Und wie Sie selbst ihren Sport für sich handhaben, damit sie nicht als Wracks mit 30 im Rollstuhl sitzen."

Während die Schüler konzentriert lesen, male ich eine Tabelle mit zwei Spalten an die Tafel – Chancen und Risiken. Dann tragen wir die Ergebnisse, Erkenntnisse und Fragen zusammen, die beim Erledigen der Hausaufgaben entstanden sind. Bei manchen offenbaren sich darin ihre Zukunftsängste, bei anderen spürt man, dass sie eigentlich noch gar nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Und zu meinem großen Erstaunen endet das Gespräch mit einer zutiefst moralischen Frage. Denn auf einmal landen sie bei Doping und anderen Möglichkeiten, Sportergebnisse zu manipulieren. Und bei der Frage, wieviel man bereit ist, dranzugeben, um zu siegen.

Sebastian sagt kein einziges Wort. Aber seine Mimik wechselt ununterbrochen zwischen ganz verschiedenen Gefühlen hin und her. Das lässt mich ahnen, dass er ein Getriebener ist, der all diese Fragen und ganz besonders die letzte, quälend in sich hin und her schiebt und irgendeinem Zwang unterworfen ist, der ihm überhaupt nicht gut tut.

Da fasse ich einen ungewöhnlichen und sehr spontanen Entschluss. Ja, ich sollte genug Abstand zu meinem Job haben und das schön von meinem Privatleben weghalten. Und ich kann nicht im Alleingang die Welt retten. Aber ich kann entweder stumpf meinen Job durchziehen – oder genauer hinschauen, dabei ganz viel lernen und vieles gut machen, was ich sonst übersehen würde.

Wir haben längst die eine Sportstunde hinter uns und sind mitten in der Tutorenstunde. Also binde ich den Sack zu. „Ich traue mich kaum, dieses Gespräch zu unterbrechen, denn Sie sind grade ganz bei sich selbst und sehr ehrlich zu sich selbst. Ich möchte Sie einfach bitten, sich zu Hause die Ruhe und Zeit zu nehmen und aufzuschreiben, was dieses Gespräch für Sie bedeutet und vielleicht in Ihnen bewegt hat. Halten sie bitte diesen Morgen fest, damit er Ihnen nicht verloren geht. Denn ich sehe an einigen Gesichtern, dass das heute wichtig für Sie war."
Einige nicken, andere schauen nochmal auf ihren eigenen Text.

„Dann packen Sie jetzt Sport einfach weg, denn wir haben längst Tutorenstunde, und ich möchte den Rest der Zeit auch dafür nutzen."
Allgemeines Geraschel, entspannte Haltung.
„Wir haben jetzt die ersten zwei Wochen hinter uns gebracht, allmählich zieht das Tempo an, und Sie ahnen inzwischen wahrscheinlich, was dieses Schuljahr Ihnen abverlangen wird. Ich weiß, dass sich schon einige Lerngruppen gebildet haben, ich habe sogar schon erste Entwürfe für Facharbeiten gesehen. Ich möchte Sie bitten, gut auf sich selbst aufzupassen, gut in sich selbst reinzuhorchen und sich selbst treu zu bleiben.
Dieses Schuljahr stellt ganz viele Weichen. Für ihren Berufsweg wie für Ihre Persönlichkeitsentwicklung. Es stellt Sie vor Herausforderungen, und es öffnet Ihnen Türen. Sehen Sie dieses Jahr bitte nicht als einen unüberwindbaren Berg, der vor Ihnen liegt. Sondern als eine Herausforderung, an er Sie wachsen werden, auch wenn es zwischendurch ab und zu nicht danach aussehen wird.
Ich habe eben bei Ihrer Diskussion über Sport und Moral still zugehört und mich ganz viel gefreut, gewundert, gestaunt. Ich kenne die meisten von Ihnen, seit ich an dieser Schule bin, habe sie fast die ganze Oberstufe lang begleitet. Trotzdem hatte ich eben bei manchen das Gefühl, dass ich sie immernoch nicht kenne. Und dass ich das schade finde."

Allmählich merken die SchülerInnen, dass es mir nicht um Kurse, Noten oder sonstwas Schulisches geht, und ihre Aufmerksamkeit steigt merklich an.
„Ich würde gerne – sagen wir mal zwischen jetzt und den Herbstferien – mit jedem und jeder von Ihnen einmal einen schönen Spaziergang machen, einen Kaffee trinken gehen oder ein Eis essen. Ich bin neugierig auf Sie, auf die Menschen, für die ich noch ein knappes Jahr lang verantwortlich bin. Jede und jeder, der das möchte, kann in den nächsten Tagen auf mich zukommen und mit mir einen Termin machen. Ich biete Ihnen an, dass dieses letzte Jahr für Sie nicht nur Stress und Paukerei bedeutet, sondern dass Sie sich in einer entscheidenden Phase Ihres Lebens gesehen und verstanden fühlen."

Die Augen der jungen Leute werden immer größer. Und ich sehe in den Gesichtern genau, wer das toll oder doof findet, wer die Gelegenheit nutzen wird oder eben nicht. Zu meiner großen Freude ist Sebastians Gesicht bei meinen Worten immer weiter aufgegangen. So habe ich ihn in den ganzen letzten zwei Wochen noch nicht kucken sehen – mit einem Funken Hoffnung auf was auch immer in den Augen.
Hoffentlich kommt er wirklich!

„So. Wenn Sie kein Anliegen mehr haben, machen wir Schluss für heute."
„Stop. Ich ... hab noch was."
Lore???
„Ich bin ja neu hier in dem Kurs, und ich mag euch alle jetzt schon richtig doll. Ich fühle mich wohl hier bei euch und möchte einfach danke dafür sagen. Ich ..."
Sie schaut direkt Max an.
„... hab in den letzten Jahren nicht viel von euch mitgekriegt und hatte irgendwie auch nie Frau Hartmann im Unterricht. Aber was letzte Woche zweimal mit Max passiert ist, hat mich echt geschockt."
Auwei! Niiiiiicht! Max will das nicht!
„Max, ich möchte dir einfach sagen, dass ich auch gerne kucke, dass sie dich nicht mehr alleine erwischen kann. Ich bin mir sicher, dass du einfach ein normaler Schüler sein und dieses letzte Jahr genießen willst wie wir anderen alle auch. Aber wenn es Schwierigkeiten damit gibt, dann bin ich da."
Puh! Ich staune immer wieder über Lore. Sie wirkte so eingeschüchtert am Anfang. Und sie ahnt wohl selbst nicht, wie viel Empathie und Kraft in ihr steckt.

Max wollte am Anfang spontan unter den Tisch kriechen und konnte sich grade noch beherrschen. Aber jetzt schlägt er mit Lore ein.
„Danke, das tut gut zu wissen. Ja, ich möchte einfach ganz normal dabei sein dürfen. Aber es sieht so aus, als ob mir das nicht gegönnt ist. Und dann brauche ich echt jeden Menschen, der mir den Rücken stärkt und mich in diesen Situationen nicht alleine lässt."

Murat springt auf, grinst breit, schiebt sich seine obligatorische schwarze Sonnenbrille vor die Augen und reckt die Siegerfaust.
„Na dann! 'CSI Essen' auf geheimer Mission. Die Hartmann beschatten!!!"
Die Situation löst sich in Gelächter auf, und die meisten gehen nach und nach nach draußen. Ich ordne noch was in meinen Papieren und will dann schon gehen. Da sehe ich, dass Sebastian vor mir steht. Unschlüssig und unsicher.
„Sebastian, was kann ich für Sie tun?"

Er schaut auf seine Schuhspitzen und scheint sich nicht zu trauen. Also gehe ich hin, mache die Tür des Raumes nochmal zu und schiebe einen Stuhl zu ihm. Ich selbst setze mich ohne das Pult dazwischen zu ihm und warte ruhig ab. Und plötzlich bricht es aus ihm heraus.
„Ich ... hab sowas noch nie erlebt. Noch nie! Noch nie hat jemand zu mir gesagt: es geht um deine Persönlichkeit. Noch nie hat jemand wissen wollen, wer ich eigentlich bin, wovon ich träume, was meine Moralvorstellungen sind, wie ICH leben will. Noch nie hat jemand mich sehen und verstehen wollen. Ich kann damit gar nicht umgehen. Was heißt das???"
Hm. So etwa dachte ich mir das ...

„Sebastian, ich weiß fast nichts über Sie. Alles, was ich bisher gesehen habe, hat nur Fragezeichen in mir aufgeworfen. Ist Ihnen bewusst, dass Sie – zumindest in meiner Gegenwart – in den ganzen zwei Wochen noch nicht ein einziges Mal gelacht haben?"
Erschrocken und mit großen Augen schaut er mich an.
„Wer sind Sie, Mensch Sebastian? Wo kommen Sie her? Was hat Sie hierhin verschlagen, wo Sie so offensichtlich gar nicht sein wollen? Wovon träumen Sie, wenn grade niemand an Ihnen rumzerrt? Haben Sie selbst sich jemals erlaubt, diese Fragen auch nur zu denken?"

Sebastian schüttelt den Kopf.
„Warum wollen Sie das wissen? Sie müssen mir doch einfach nur ein paar Noten geben. Was interessiert da, wo ich herkomme?"
„Alles? Ich weiß bis jetzt nur, dass Sie rudern und Handball spielen. Und dass Sie in irgendeiner grausamen Zwangsjacke stecken müssen, so, wie Sie mit sich selbst und allen anderen umgehen."

Erst langsam, dann immer flüssiger bahnt sich sein Inneres den Weg nach draußen, als würde ein Staudamm erst Risse bekommen, dann brechen und schließlich das ganze Tal fluten.
„Ich bin der Sohn meines Vaters. Und ich habe zu sein wie mein Vater. Ich habe mich zu benehmen. Ich habe zu funktionieren. Ich habe von klein auf nichts anderes erfahren, als dass das Leben ernst und anstrengend ist und dass man nur so viel wert ist, wie man leistet. Ich kenne meine Eltern nur in Anzug und mit Laptop unter dem Arm, von hinten und auf dem Weg zur Tür. Ich habe früher meine Kindermädchen Mama genannt. Daraufhin bekam ich jedes Jahr eine Neue, damit ich keine Bindung aufbaue. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht im Kino, weil ich immer entweder Schule oder Nachhilfe oder Training oder Wettkämpfe hatte.
Ich rudere, seit ich fünf bin. Ich wurde rausgepickt und gefördert. Nicht ein einziges Mal war einer von beiden bei einem meiner Wettkämpfe. Registriert haben meine Eltern nur erste Plätze und Einsen, schon der zweite Platz war unter ihrer Würde. Schließlich haben sie mich ins Landesförderungszentrum Magdeburg und ins Internat gesteckt. Weil ich ja „so schwierig" war. Erfolg, Erfolg, Erfolg. Ich habe nie mit anderen Kindern gespielt, ich hatte nie Freunde. Ich weiß überhaupt nicht, wie das geht! Freunde haben ..."

Er verstummt. Und leidet offensichtlich wie Hund.
Das Blöde ist nur ...
„Es tut mir selbst weh, dass ich nun bremsen muss. Die Pause ist fast rum, wir müssen beide in den nächsten Unterricht. Aber wir beide sehen uns in der nächsten Pause vorm Lehrerzimmer, und dann machen wir einen Termin, nur für uns beide. Ja, ich möchte Sie sehen. Ja, ich möchte wissen, wer Sie sind. Und ja, ich möchte Sie in Ihrer Persönlichkeit fördern. Bitte vertrauen Sie mir. Fast bin ich ein bisschen stolz, dass Sie mir soviel anvertraut haben."

Sebastian lächelt. Zum allerersten Mal.
„Sie machen sich keine Vorstellung, wie seltsam und ungewohnt und fast falsch sich das anhört. Aber ich will das. Genau das. Ich will nicht das A...loch sein, das alle anderen fertigmacht."
„Dann ändern wir das. Gemeinsam. Und ich kann Ihnen sagen, dass Sie dafür in keinem besseren Kurs hätten landen können als in diesem. Moritz hat das wirklich so gemeint. Sie werden integriert – wenn Sie es zulassen."

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10.10.2020

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