028 ** Es geht um mich! ** Di. 20.8.2019

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Ich hab heute Mittag nochmal mit Tanja gesprochen. Mir geht einfach nicht aus dem Kopf, dass meine Probleme ununterbrochen wie riesige Felsklötze mitten in dieser Ehe aufschlagen. Ich will das nicht. Und dafür darf ich mich nicht mehr hinter Tanja verstecken. Ich muss meinen Kampf mit Papa selbst kämpfen. Ich hab Tanja gesagt, dass ich selbst Papa von dem letzten Vorfall erzählen werde, und auch, dass Thorsten nochmal in Aktion treten will. Wie er darauf reagiert, werde ich sehen. Davon beirren lassen werde ich mich nicht mehr. Dazu stehen viel zu viele Menschen fest hinter mir. Ein Risiko, dass ich schlafende Hunde wecke, ist es trotzdem.

Nach dem Mittagessen habe ich mich auf meine „Lerngruppe Max" konzentriert und mal die wichtigen Themen auf die Termine verteilt, damit ich das den anderen nachher geben kann. Bio und Erdkunde für morgen war nicht viel, und darum kann ich sogar noch 6 ½ Minuten chillen, bevor die anderen bei mir eintrudeln. Als erstes stellen sie sich natürlich an meine Zimmertür und lesen sich meine Bucket List-Karten durch. Eine bunte Mischung aus „Au jaaa!" und „Och nööööö!" erklingt, und ich lache mich nur schief über die beiden. Auf einmal dreht Moritz sich um und strahlt mich an.
„Hei! Ist dir eigentlich bewusst, wieviel du wieder lachst? Vor zwei Wochen hab ich echt gedacht, ich seh dich erst wieder im nächsten Juni lachen."
Tja – was soll ich dazu sagen. Ich auch?

Zur Einführung in die Literaturgeschichte habe ich mir was Witziges ausgedacht. Ich habe einen laaangen Zeitstrahl an meine Wand gepappt, von 600 n.Chr. Bis heute. Darunter habe ich die für Deutschland entscheidenden weltgeschichtlichen Ereignisse, politischen Umbrüche und einflussreichen Persönlichkeiten eingetragen. Darüber zeichne ich nun die Literaturepochen ein, während ich davon erzähle und sie in Beziehung zu den historischen Ereignissen und wechselnden Weltanschauungen setze. Welche Gattungen wurden in welcher Epoche bevorzugt, welche Dichter haben diese Epoche maßgeblich geprägt?

Dann setze ich an den entsprechenden Stellen die konkrete Literatur ein, die wir tatsächlich gelesen haben und in diesem Schuljahr noch lesen werden. So können wir auf einen Blick sehen, wann und wo wir uns getummelt haben in den drei Jahren Oberstufe.
„Ich hab diesen Zeitstrahl auch vollständig ausgefüllt für euch ausgedruckt und zusammengebastelt, damit ihr immer wieder nachsehen könnt, wo wir grade sind. Toll ist, dass wir in meinem LK und eurem GK nahezu die gleiche Literatur gelesen haben, so muss ich fast nichts Neues lesen. Wir sind im LK einfach zum Teil mehr in die Tiefe gegangen oder haben noch ein, zwei Sachen mehr gelesen."

„Mir war nie vorher so bewusst, WIE sehr Geschichte, Politik, Literatur, Religion, Kunst und Weltbild miteinander verwoben sind. Aber so auf deinem Zeitstrahl sieht das völlig klar aus. Im Absolutismus entsteht natürlich andere Literatur als bei einem fahrenden Minnesänger oder einem Nachkriegsphilosophen."
„Genau, Paul. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich ein Theaterstück schreibe unter einem Diktator oder in einer Demokratie. Heute gibt es Kabarett ganz offen im Fernsehen, und da fliegen die Fetzen. Vor achtzig Jahren wäre man für weit weniger im KZ gelandet. Als mir der Zusammenhang klar geworden ist, habe ich mich immer als erstes kurz mit dem Autor und seiner Zeit beschäftigt, bevor ich die Lektüre gelesen habe. Wenn wir einfach loslesen – egal, ob die Bravo oder den Faust – dann lesen wir das mit unserem heutigen Weltbild, unserem heutigen Wissen und unserem ganz persönlichen Filter. Und dann kommt oft ein 'versteh ich nicht' oder ein 'aber warum?' hinterher raus. Natürlich dürfen und müssen wir Literatur am Ende auch auf unsere Zeit übertragen und uns fragen, was das für heute bedeutet. Aber dazu müssen wir erstmal das Damals zumindest verstanden haben."
Ich stocke einen Moment, weil mir spontan noch was einfällt.
„Ach, und da du kein Erdkunde hast, sag ich einfach noch was dazu ... auch die Geologie eines Landes, das Klima, die Bodenschätze oder auch nicht – all das prägt eine Gesellschaft, die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Landes und damit auch die Literatur."

Moritz legt den Kopf schief.
„Im 18. und 19. Jahrhundert sind unheimlich viele verschiedene kleinere Epochen. Da merkt man richtig, wie sich nach der Aufklärung nach und nach die Vielfalt gebildet hat. Manchmal wars nach einer Generation schon wieder vorbei. Und heute ist alles so offen, dass einfach jeder denkt und glaubt, was er will. Auch nicht immer gut."

„So. Und jetzt passt auf. Ich hab da ja schon einige Literatur-relevante historische Ereignisse eingetragen. Ich springe jetzt wieder unter den Zeitstrahl zum Fach Geschichte und vervollständige den Strahl um die Epochen, Themen, Fragestellungen, die wir in dem Fach tatsächlich behandelt haben."

Es macht Spaß, nun die nächsten Informationen einzutragen und dabei immer deutlicher zu sehen, wie alles ineinander greift. Wir reden eine ganze Weile über unsere Welt heute und versuchen zu erfassen, wie diese Autoren vor hundert, zweihundert, dreihundert Jahren gelebt haben. Und auf einmal kommen uns diese Autoren immer näher. Sie haben uns – für heute – was zu sagen.
„Gut. Ich hoffe, es hat euch was gebracht. Das war ja unsere erste richtige Lerneinheit, ich hatte kein Vorbild und hab einfach gemacht, wie es bei mir am besten hängen bleibt."
„Das war cool. Ich hab mir das mit den Lerngruppen schon so vorgestellt. Wir kapieren nochmal die Eckdaten, die wichtigsten Zusammenhänge, und dann reden wir so darüber, dass es im Kopf bleibt. Cool!"

Ich gebe Moritz und Paul die ausgedruckten Listen mit den Lerngruppen-Terminen und -Themen und ihre Zeitstrahl-Papierschlangen. Wir quatschen noch ein bisschen, bis wir Lasse nebenan rausbimmeln und gemeinsam zum Training aufbrechen.

Nach dem Training verabschieden wir uns an den Fahrradständern.
„Jungs? Drückt ihr mir die Daumen?"
„Klar. Wofür?"
„Ich ... will heute Abend versuchen, mit Papa zu reden. Es geht nicht, dass Tanja sich dauernd dazwischen stellt und sogar lügt für mich. Ich hab mit ihr ja keine Probleme. Aber ich will auch nicht diese Ehe zerstören. Darum möchte ich selbst ihm erzählen, was grade abgeht. Ich hoffe einfach, dass er mir glaubt. Und dass er erlaubt, dass Onkel Thorsten als Anwalt aktiv wird."
Paul nimmt mich in die Arme.
„Du bist so mutig, Max. ich hoffe das zahlt sich nachher aus."
„Ihr werdet morgen ja sehen, ob mein Kopf noch dran ist ..."
Zu Hause esse ich schnell was – und dann stehe ich vor der Wohnzimmertür, kneife die Augen zu, hole tief Luft und greife nach der Türklinke.
Du schaffst das, Max. Es ist dein Leben, es ist deine Selbstachtung, es ist deine Wahrheit. Los!
Mit klappernden Knien mache ich die Wohnzimmertür auf und schaue erstmal, was Papa und Tanja grade machen. Leise gehe ich rein und setze mich neben Papa aufs Sofa. Es dauert eine Weile, bis Papa mich wahrnimmt.

„Was gibt's, Max?"
Jetzt!
„Papa, ich mag dir erzählen, wie es jetzt in der Schule läuft."
Tanjas Gesicht wird vollkommen ausdruckslos.
„Na, dann schieß los."
„In allen Fächern ist der Unterricht jetzt so richtig in Fahrt gekommen, aber ich habe mir einen genauen Wochenplan gemacht, wo Schule, Training, Nachhilfe und Abi-Lerngruppen so verteilt sind, dass ich das bis jetzt gut schaffen kann. In der Nachhilfe läuft es auch gut. Langsam, aber gut, weil Frau Süß ausprobiert hat, wie ich eine Erklärung brauche, damit ich schnell verstehe. Und das hilft echt. Außerdem vertraue ich ihr und hab deswegen den Kopf frei für Mathe."
„Na, das klingt schon etwas besser. Meinst du denn, dass du es so packst?"

„Schulisch gesehen dürfte das kein Problem werden. So schnell sind in Mathe zwar nicht alle Lücken geschlossen, aber es wird. Und alle anderen Fächer laufen gut. Außerdem haben wir mit Luis die Vorarbeiten für die Facharbeiten abgesprochen. Wir wollen alle übers Tanzen schreiben und haben erst mit ihm beratschlagt, wie wir unsere Bereiche trennen können. Dann haben wir das Ganze zusammen mit Frau Süß besprochen und die Themen abi-tauglich festgeklopft. Manche wissen noch gar nicht, worüber sie schreiben wollen. Wir haben jetzt schon mit der Recherche angefangen für unsere Themen. Ach, und in dem Survival-Projekt sind wir auch alle drin. Wir waren schnell genug."
„Na, dann hoffe ich mal, dass die Nachrichten alle so gut bleiben."
Hmpf. Nö?

„Eigentlich habe ich nur ein Problem. Das ist dafür aber ein ziemliches Dickes. Bzw. Altes. Kannst du dich erinnern, dass ich ab der siebten Klasse mit einer Mathe-Lehrerin so große Schwierigkeiten hatte, dass sogar der Schulelternbeirat eingreifen musste?"
„Nur dumpf. Was ist mit der?"
„Es ... klingt wie ein schlechter Krimi. Aber: sie hat mich in all den Jahren nie aus den Augen gelassen. Und neuerdings sucht sie richtig nach Gelegenheiten, mich zu schikanieren. Und das kostet mich richtig viel Kraft. Diese Woche sind wir zum Beispiel vorm Direx gelandet, weil ich verhindern wollte, dass fünf Siebtklässler zwei Fünftklässler vermöbeln. Und dann ist sie dazugekommen und hat einfach behauptet, dass ich die Prügelei angefangen hätte. Da lagen die beiden Kleinen schon blutend am Boden. Also sind wir mit elf Mann zum Direx, und alle haben bezeugt, dass die Frau das zusammengelogen hat. Die Kleinen sind jetzt übrigens im Krankenhaus."

„Na, wundervoll. Mein Sohn ist doch kein Schläger! Oder spinnst du das jetzt zusammen, um bei mir gut Wetter zu machen?"
Ich halte die Luft an. A...
„Ne, ganz bestimmt nicht. Aber es ist seltsam. Bei der Initiative des Schulelternbeirats damals hat das Schulamt die Beschwerde ausgebremst. Und auch diesmal hat der Direx ausgesehen, als würde er sie am liebsten ermorden. Aber sie hat nichtmal einen Verweis bekommen, dass sie ihren zugeteilten Aufsichtsplatz verlassen hat. Auch die Lehrer, die Zeugen waren, und meine Jungs haben alle gesagt, dass die Frau so seltsam sicher auftritt, als ob sie wüsste, dass ihr gar nichts passieren kann. Deshalb hat Lasse das ganze Onkel Thorsten erzählt. Und der will jetzt wieder in den Schulelternbeirat gehen, damit er nochmal versuchen kann, ob er die Frau nicht doch bremsen kann."

„Der soll tun, was er nicht lassen kann. Aber warum erzählst du mir das alles?"
„Weil wir in diesem Sommer viel zu viel gestritten haben und ich das furchtbar finde. Ich hab gedacht, wenn ich dir öfter erzähle, was bei mir so los ist, wird es vielleicht wieder besser. Außerdem ... habe ich das Gefühl, dass Tanja zwischen uns beiden ... irgendwie zwischen allen Stühlen sitzt. Und das finde ich doof. Sie ist deine Frau und für mich schon seit einigen Jahren wie eine Mutter. Eine tolle Mutter. Ich möchte nicht, dass sie bei jedem Streit zwischen uns beiden das Gefühl hat, dass sie sich für einen von uns entscheiden muss."

„Das wäre ja noch schöner. Tanja zieht mit mir an einem Strang. Bilde dir bloß nicht ein, dass du daran was ändern kannst."
Glatteis!!! Aber jetzt hab ich angefangen, jetzt ziehe ich das durch.
„Das meine ich doch gar nicht, Papa. Wir kommen gut klar miteinander, und ich möchte einfach nicht, dass ..."
„Ich denke, die Führung unserer Ehe kannst du ruhig uns überlassen. Tanja und ich wissen, was wir aneinander haben."
Ich gebs auf. Jetzt hört er wieder nicht mehr zu.
Ich beiße die Zähne zusammen. Ich weiß nicht mehr weiter.

„Bist du dir da so sicher, Axel?"
„Wie bitte??? Tanja, was ..."
„Ja, ich frage mich tatsächlich, warum du dir da so sicher bist. Denn ich habe mir jetzt zwei Monate lang angesehen, wie du Max getriezt und im seine letzten Sommerferien weggenommen hast. Ohne das irgendwie mit mir abzustimmen.
Aber für uns beide geht es gar nicht darum. Da müssen wir bitte Max und unsere Ehe sauber auseinanderhalten. Was ich dabei nämlich noch gemerkt habe, ist, dass du nicht nur Max zum Waschen und Kochen verdonnert hast. Sondern du bist außerdem völlig selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich das genauso sehe. Und dass ich ihm also Waschen und Kochen beibringe. Du hast im Grunde über mich genauso verfügt wie über ihn. Und das alles war NICHT abgesprochen.
Ich möchte das nicht mehr. Ich möchte nicht mehr zusehen müssen, wie Max Angst vor seinem eigenen Vater hat. Ich möchte nicht mehr erleben müssen, dass über mich verfügt wird. Ich möchte nicht mehr als Argument benutzt werden, dass du versuchst, Max zu etwas zu zwingen, was er nicht möchte."
„Tanja! Wir waren uns damals doch einig, dass ..."
„Nein, Axel. Waren wir nicht. Du hast das nur wieder verdrängt. Ich habe nie gewollt, dass Max gezwungen wird, sich von mir adoptieren zu lassen und dadurch automatisch meinen Namen anzunehmen. Und das habe ich auch immer wieder gesagt. Das wolltest immer nur du. Ich hätte tatsächlich gerne Gersten geheißen."

Auwei, jetzt ist der Ofen aus.
Papa läuft dunkelrot an und stiert Tanja wütend in die Augen.
„Max. Raus!"
Ich schaue Tanja an. Sie nickt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die beiden alleine zu lassen. Und zu hoffen, dass Tanja ihr mutiges Einschreiten und ihre ehrlichen Worte nicht bereuen wird.

Mitten in der Nacht knallt meine Tür auf, und zwei erschöpfte und wütende Stimmen reißen mich aus dem Schlaf.
„Axel, nun lass doch den Jungen in Ruhe. Ich bin erwachsen, habe Augen im Kopf und denke mir meinen Teil. Das müssen wir miteinander klarkriegen. Und DU musst da was klar kriegen."
„Stell du dich nicht auch noch gegen mich!"
Dann höre ich Schritte in meinem Zimmer und plötzlich Atem neben meinem Ohr.
„Und dass dir das klar ist: wenn du mit deinem Trotz meine Ehe zerstörst, dann hast du ein Problem!"
„Axel!"

Ich liege stocksteif da, warte, bis die Schritte wieder verklungen sind und die Tür wieder geschlossen ist. Mein Wecker sagt 1.17 Uhr.
Haben die allen Ernstes bis jetzt gestritten? Wegen mir? Oh nein. Der Schuss ging ja wohl nach hinten los. Ach, Tanja. Es tut mir so leid. Das hab ich echt nicht gewollt!
Ich falle zurück in unruhigen Schlaf mit seltsamen Träumen.

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12.10.2020    -    19.4.2021

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