030 ** Gas geben ** Fr. 23.8.2019

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Das Leben ist ein hinterlistiges Miststück. Da haben wir uns grade dran gewöhnt, dass das Schuljahr so richtig läuft, und wollen es uns darin gemütlich machen. Aber in zwei Wochen beginnt die erste Klausurenphase. Hat sich was mit zurücklehnen. Der Mathe-Grundkurs in der Zwölften ist zum Glück nicht gleich am Anfang dran. Aber wir haben mit heute noch zehn Nachhilfe-Termine bis zur Statistik-Klausur. Und Max ist noch nicht mal in Sichtweite des Unterrichtsstoffes. Ich muss heute also das Tempo etwas anziehen. Er macht es mir ja leicht, weil er eigentlich alles so schnell kapiert. Es scheint wirklich nur darum zu gehen, die alten Blockaden zu lösen und die Zusammenhänge herzustellen.

Ich habe Aufsicht im alten Hof. Und wie immer halten sich die Tänzer in meiner Nähe auf. Unser „CSI Essen"-Team ist immer noch mit Feuereifer dabei, die „liebe" Kollegin zu beschatten. Im Moment freue ich mich immer, wenn ich Aufsicht habe, denn nach den zwei Vorfällen letzte Woche ist es im Lehrerzimmer einigermaßen ungemütlich geworden. Keiner sagt das laut, aber es bilden sich Lager – ein kleines verbohrtes und ein großes resigniertes Lager. Und Frau Hartmann selbst stolziert wie die Eiskönigin kommentarlos zwischen allen durch und strahlt Siegesgewissheit aus. Warum auch immer. Ich erzähle Max nichts davon, es würde ihn zusätzlich verunsichern. Aber eigentlich ist klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die nächste Bombe platzt. Und bei allen Versteckspielchen – es ist völlig unkalkulierbar, wann, wo und wie sie das nächste Mal „zuschlagen" wird. Bisher hat sie nämlich einfach geschickt Gelegenheiten genutzt. Es wird aber nicht „keine Gelegenheiten" mehr geben.
Sie wird ihre Lücken finden ...

Am Ende der Pause kommt Max direkt zu mir, und gemeinsam steuern wir unseren kleinen Raum an. Ganz kurz rekapitulieren wir den Stoff der Siebten. Dann macht er sich über eine Probearbeit der achten Klasse her. Zum Teil ist das die Kombination von Brüchen und Dezimalzahlen mit Wurzelnziehen. Max schlägt sich tapfer, weil das meiste noch so frisch ist. Aber dann kommt Geometrie, Satz des Pythagoras – und es tun sich Abgründe auf. Ich male Bildchen, ich erzähle Geschichten, Max gibt sich redlich Mühe, aber da werden wir sicherlich noch zwei Termine verbraten müssen. Und dann wird's langsam eng.

Als ich merke, dass seine Konzentration nachlässt, mache ich Schluss für heute und spreche das Zeitproblem noch an.
„Ich finde es klasse, wie viel Mühe du dir gibst und wie schnell du das meiste begreifst. Wir haben nur ein Problem. Wir haben ab Montag noch neun Termine bis zur ersten Klausur. Und das reicht nicht, um weiter so gründlich zu arbeiten. Obwohl du das eigentlich brauchst. In der achten, neunten und zehnten Klasse kommen Geometrie, Funktionsgleichungen und Stochastik. Und das letzte brauchst du für Statistik auf jeden Fall."
Max schluckt.
„Können wir die Geometrie nach hinten schieben? Würde das helfen?"
„Ja, das würde uns Zeit verschaffen. Dann schaue ich mir jetzt genauer an, was du für Statistik wissen musst und wähle gezielter aus."

Max packt seinen Kram zusammen.
„Dir ging es diese Woche nicht so gut, oder?"
Max hält kurz inne. Dann packt er weiter.
„Nö. Es gab viel Streit zu Hause. Ich ... hab nach der Kiste am letzten Freitag begriffen, dass ich aufhören muss, mich hinter anderen zu verstecken, weil es Tanja mit all dem immer schlechter geht. Also habe ich am Dienstag Abend das direkte Gespräch mit Papa gesucht."
„Und?"
„Es war ein Fiasko. Er hört überhaupt nicht zu. Schließlich hat er mich aus dem Wohnzimmer rausgeschmissen, und dann haben Papa und Tanja bis morgens um wasweißich gestritten. Laut. Am nächsten Morgen war Tanja total verheult und ..."

Max schultert seine Tasche.
„Und? Du musst mir gar nichts erzählen, das weißt du."
„Hm. Ich glaub, den Rest sollte ich auch nicht erzählen. Aber ich fühle mich unglaublich schuldig, obwohl mir alle sagen, dass es deren Bier ist und nicht meine Verantwortung."
Er zuckt mit den Schultern.
„Ich hab es gut gemeint, wollte versuchen, die Stimmung besser zu machen. Und jetzt? Eine Katastrophe. ... Das Tanzen gestern hat mir unglaublich gut getan. Ich habe es einfach gebraucht. Aber darüber hinaus hat sich all das, was ich schon für die Facharbeit gelesen habe, in mir verselbständigt und ... ES hat MICH bewegt. Das war unglaublich."

Einen Moment schweigen wir, bevor ich leise darauf reagiere.
„Das hat man gesehen. Alle haben es gesehen. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte. Die anderen aus dem Kurs beobachten? Moritz und Paul bestaunen, die so sensibel und genau wussten, wie sie dich sanft aus der Versenkung holen können? Vor Ehrfurcht im Boden versinken, WIE fantastisch ihr aufeinander eingespielt seid? Oder einfach nur deine Ausstrahlung, deine Präzision und deine Leichtigkeit 'einatmen'. Denn das war atemberaubend."
„Danke."

„Ich ... Bitte reiß'  mir nicht den Kopf ab. Max, ich hab intuitiv zum Handy gegriffen und einfach draufgehalten, denn ich hatte das Gefühl, dass du gar nicht mitgekriegt hast, was du tust. Ich habe mir die Aufnahme nicht angesehen. Auch du musst sie dir nicht ansehen. Aber wenn du möchtest, gebe ich sie dir. Vielleicht möchtest du beim Schreiben der Facharbeit oder bei der Vorbereitung für die Prüfungen nochmal hinspüren, wie sich das angefühlt hat. Ansonsten lösche ich das einfach wieder. Dein Wunsch ist mir Befehl, ich wollte nur die Chance für dich nicht vorübergehen lassen."

Stille. Ich kann sein Gesicht überhaupt nicht deuten.
„Danke. Ich glaube, das kann ich brauchen. Könnten Sie mir das brennen oder auf eine Karte ziehen? Nach der Reaktion der anderen hab ich echt überlegt, was ich da eigentlich so tolles gemacht habe. Aber ich wusste es nicht. Ich habe keinerlei Erinnerungen an irgendwelche Bewegungen oder Choreografiefetzen."
Puh. Ich bin erleichtert, dass er das so gut aufgenommen hat.
„Das mache ich gerne. Möchtest du es dir heute Nachmittag oder morgen bei mir rausholen? Dann kannst du es auch eurem Tanzlehrer gleich zeigen."
Max nickt.
„Gut, dann piep mich an, ob ich zu Hause bin, und komm einfach vorbei. Und jetzt – komm gut durch den restlichen Tag und hab ein Wochenende mit ein paar Lücken für dich."
„Mach ich. Ihnen auch ein schönes Wochenende!"

Sa. 24.8.2019

Ein schönes Wochenende für Lehrer ist eines, an dem sie nicht nur am Schreibtisch sitzen und Klausuren korrigieren oder Unterrichtseinheiten vorbereiten. Oder sich durch ihren Haushalt kämpfen, wo in der Woche so viel liegen geblieben ist. Sondern wo sie auch noch einen halben Tag lang was „Schönes" machen können. Für Jenny und mich ist das an diesem Wochenende ein Ausflug nach Hennef bei Bonn in den Kletterwald. Wir wollen rausfinden, ob sich das für einen Kursausflug eignet, und einfach ein paar Stunden unseren Spaß haben. In Essen gibt es am Baldeneysee ja auch einen Kletter"wald". Aber Honnef ist bekannt dafür, dass hier auch Möglichkeiten fürs Bouldern und für Survival sind. Und das reizt uns natürlich sehr.

Auf der Rückfahrt plündern wir noch einen Supermarkt. Wie tausende andere Deutsche gehen wir klassisch am Samstag in irgendeinen völlig überfüllten Laden. Es ist eben immer noch bequemer als den Einkauf irgendwo in die vollgestopfte Woche zu quetschen. Zu Hause verräumen wir unsere Einkäufe und planen das Essen für die Woche. Und schon geht's wieder an den Schreibtisch.

Die gebrannte CD mit seiner Tanzsession vom Mittwoch hat sich Max gleich heute Morgen rausgeholt. Er wirkte wieder gefasster, aber ich habe längst begriffen, dass der arme Kerl sich noch monatelang völlig unkalkulierbar in einer Schiffschaukel befinden wird. Er hat – noch! - die Fähigkeit und Kraft, immer wieder auf Routine zu schalten, damit ihn sein Leben nicht umpustet. Aber ich lege nicht meine Hand dafür ins Feuer, dass er das bis April durchhält. Der schulische Druck wird kontinuierlich steigen. Allmählich habe ich den Verdacht, dass sein Vater in irgendwelchen Zwangsvorstellungen oder hochgradigen Verlustängsten gefangen ist.
Aber dass er dabei nicht merkt, dass er seinem eigenen Sohn das Genick bricht ...

Eigentlich würde ich mir gerne sowohl diese Stiefmutter als auch die Tante schnappen. Aber Max hat so ausdrücklich gesagt, dass er das nicht will – keine Wattepackung, keine Bevormundung, keine Glucke. Das muss ich respektieren. Ich bin nur froh, dass wir wieder eine ganz vertrauensvolle Basis für unsere Arbeit haben und er sich bei mir gut konzentrieren kann.

Zum Abendessen kommt Lennart vorbei. Er hatte nichts gegen unseren Vorschlag, die Vorbereitung für den ersten Survivaltag an unseren Esstisch zu verlagern, und wir haben nichts dagegen, wenn einer mehr am Tisch sitzt.
Uuuund – ich habe die Chance, den beiden mal ein bisschen zuzusehen, wenn es sonst keine Beobachter gibt. Denn irgendwie ...

Jenny hat ihm offensichtlich schon einiges über Survival erzählt und ihm etwas Einsteigerliteratur gegeben. Jetzt reflektieren wir die Survivalwoche vom letzten Jahr und planen für dieses Jahr. Welche Fertigkeiten sie am Ende draufhaben sollten. Wie wir das aufbauen, wer von uns was macht.
„Ich bin echt neugierig, denn im letzten Jahr hast du das ja mit einem anderen Sportkollegen gemacht. Jetzt werde ich mit euch beiden ein eingespieltes Team erleben und selbst mittendrin sein. Aber erwartet von mir bitte keine sportlichen Höchstleistungen."

Der Blick, den Jenny ihm jetzt zuwirft, sorgt dafür, dass ich mich ruckartig umdrehe und einen Hustenanfall vortäusche.
Hauaha – da ist aber jemand verliebt!
Ich wende mich wieder zum Tisch und ordne Papiere.

„Das ist gar kein Problem, Lennart. Zum einen musst du ja Jenny als Mentor beobachten. Und dann gibt es noch jede Menge anderer Dinge, die passieren müssen, als den Tarzan zu spielen. Neben dem sportlichen Anteil und den Überlebenstechniken gilt es nämlich auch, ständig die Gruppe und jeden einzelnen im Blick zu haben und im Zweifelsfalle einzugreifen. Survival bedeutet, sich in Grenzsituationen zu begeben. Und wenn man nicht so geübt ist wie wir, kommt man tatsächlich auch mal an seine körperlichen und mentalen Grenzen. Das hat Einfluss auf die Gruppe. Und die Gruppe muss jeden einzelnen händeln und integrieren – egal, wie es demjenigen grade geht."

„Eigentlich ... sollte ich vielleicht mal mit euch in so einen Kletterwald. Ich kann das noch nicht greifen für mich. Hollywood ist das eine. Aber tatsächlich mit spärlichen Mitteln auf sich selbst gestellt zu sein ist sicher nochmal was anderes. Nicht, dass ich als erster schlapp mache und aus den Latschen kippe. Wenn ich eine Ahnung habe, was auf mich zukommt, dann könnte ich sozusagen diesen pädagogischen Part übernehmen."
„Das meinte ich damit. Du hast so ausgesprochen feine Adern für andere Menschen – das wäre tatsächlich eine wichtige Aufgabe für dich."

„Was machst du morgen Nachmittag, Lennart?"
Hui, Jenny geht aber ran! Und sie weiß genau, dass ICH morgen Nachmittag das Gespräch mit Sebastian habe. Und sie dann mit Lennart alleine ist ...
„Das ist eine gute Idee. Zieht doch einfach morgen zu zweit los."
„Klar, können wir machen, Jenny. Was muss ich beachten, als Ausrüstung dabei haben oder wie auch immer?"

Passenderweise klingelt mein Telefon.
„Ich verabschiede mich mal, ihr könnt ja alleine weiter planen."
Und raus bin ich. Ich flitze zum Telefon, plaudere ein halbes Stündchen mit meiner Mutter und lasse den Tag ohne weitere Arbeit mit einem Glas Wein ausklingen. Das Wohnzimmer gehört Jenny ...

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14.10.2020    -    19.4.2021    -    22.4.2021

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