062 ** ein Entschluss ** Do. 10.10.2019

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Am Donnerstag Vormittag begleite ich Antoine zu diesem Hugo Berg. Wir verabreden, dass ich mich zurückhalte, und dass Antoine schon heute wahllos durch die Sprachen schlittern darf, weil die beiden sich ja kennenlernen sollen. Ich bin einfach da und stehe dem Therapeuten für Rückfragen zur Survivalwoche zur Verfügung. Als er anfangen soll zu erzählen, erstarrt Antoine zu Stein und bringt erstmal kein Wort raus.

Aber dann redet er sich nach und nach frei, noch viel ausführlicher als in der Eifel, und lässt das ganze Elend seiner vergeudeten Kindheit raus. Er hatte am Anfang ein großes Blatt Papier vor sich auf den Tisch bekommen. Und tatsächlich greift er sich immer wieder Stifte, um beim Reden zu kritzeln, eine Szene aufzumalen, seinen Gefühlen Farben zu geben oder einfach, um sich dran festzuhalten. Ein Buntstift zerknackt in seiner Hand, als er von der Gerichtsverhandlung erzählt, bei der seine Eltern frei gesprochen wurden.

Im Laufe der Stunde verbraucht er nach und nach eine halbe TaTü-Box. Irgendwann stellt Hugo Berg einfach den Papierkorb daneben. Wir müssen echt lachen. Aber eigentlich ist das alles nicht zum Lachen ...

Mal reden die beiden Französisch, mal Deutsch, meistens streuen sie nur französische Fachwörter ins Deutsche rein. Dann reden die beiden darüber, warum er jetzt in Deutschland ist, wie es ihm als Quereinsteiger ins deutsche Schulsystem geht, ob er schon Freunde hat, warum er sich zur Therapie entschlossen hat.

Jetzt kommt auch die Survivalwoche zur Sprache. Er schildert sowohl die Begebenheit im Bach als auch seine autoaggressive Panikattacke beim Anblick der kaputten Übungsbrücke. Er erklärt seinen „Rettermodus". Dann bin ich dran und erzähle, wie ich Antoine kennengelernt habe, wie ich meinem Impuls, ihm zu helfen, gefolgt bin, wie ich ihn aus der Dusche geholt und ihn von da an unterstützt habe. Von dem Abend auf der Hollywoodschaukel.

Gemeinsam spüren wir dem nach, wie sich sein Verhalten und seine Möglichkeiten verändert haben während der Wanderung. Dass er mich berühren konnte. Dann kommt nochmal die Bachdurchquerung mit Bernd auf dem Rücken zur Sprache. Ich kriege wieder Gänsehaut vom Zuhören. Und schließlich schauen wir beide Hugo Berg einfach erwartungsvoll an. Der stellt ein paar Rückfragen, überlegt dann einen Moment, schließlich antwortet er.

„Danke für Ihre Offenheit. Ich greife jetzt dem Therapieprozess vor, weil Sie Klarheit brauchen. Ich habe das Gefühl, dass Sie das verarbeiten können, Antoine, denn Sie sind schon mit Maximilians eher laienhafter Unterstützung sehr weit gekommen. Der Wille zu leben, gut zu leben und diese falsche Last loszuwerden, ist ganz stark. Halten Sie sich immer daran fest, zu was Sie in dieser Woche alles in der Lage waren! Dass sich das als normales Lebensgefühl einstellt, das könnte Ihr Ziel sein.
Trotzdem: Es handelt sich um ein sehr altes Trauma, das über viele Jahre hinweg sorgfältig gefüttert und gehätschelt wurde und Sie von klein auf in ihrer Seele erniedrigt und gequält hat. Sie wollen das loswerden, das ist sehr gut so. Aber – je älter, desto hartnäckiger sind die daraus resultierenden Ausweichmechanismen und Ängste.
Ich glaube tatsächlich, dass ich sie lieber in einer Spezialklinik für Traumaarbeit sähe, als sie selbst neben der Schule ambulant zu behandeln. Für das, was da alles hochkommen kann, brauchen und sollten Sie sich einen geschützten Rahmen gönnen. Ich bin zum Beispiel auch froh, dass Sie hier jetzt nicht alleine sind sondern von Maximilian Gersten nach Hause begleitet werden können."

Antoine schluckt. Das klingt richtig ernst. Ist es ja auch! 
„Und wie finde ich so eine Klinik? Und einen Platz dort? Und muss ich dann schon wieder alles von vorn erzählen?"

Hugo Berg lächelt.
„Leicht, bald und jain. Wir sind hier in dieser ambulanten Praxis sechs Therapeuten. Kennen gelernt haben wir uns, als wir gemeinsam Ärzte und Therapeuten in so einer Spezialklinik waren. Uns reichte das aber nicht dort. Patient kommt, Patient lernt ein bisschen was dazu, Patient wird zurück geschickt in sein altes Leben und muss mit einem völlig anderen Therapeuten ganz anders weiterwurschteln. Für viele war das eine Überforderung und ein Rückschritt. Darum haben wir diese Praxis gegründet und arbeiten parallel in der Klinik und hier. Die Klinik liegt etwas südlich von Essen in Langenberg, schön im Grünen, aber Essen ist mit der S-Bahn schnell erreichbar. Wir arbeiten in der Regel dort mit Gruppen. Aber jeder Patient hat einen festen Arzt für Einzelgespräche, einen festen Co-Therapeuten für Akutsituationen und mehrere Angebote wie Musik-, Kunst- oder Bewegungstherapie."

"Das klingt ... machbar. Ich weiß nur nicht, wie ich dann mein Leben und meine Finanzierung regeln soll. Und ich weiß gar nicht, wie das alles in Deutschland funktioniert. Die Wohnung zum Beispiel haben meine Eltern besorgt. Ich weiß nicht, ob ich dann das Stipendium behalte. All sowas ..."

"In Ihrem Falle müssen wir natürlich ihren Aufenthaltsstatus, ihre Wohnverhältnisse, ihre finanziellen Möglichkeiten von Eltern und Stipendium, ihren personellen Rückhalt hier in Deutschland und einiges anderes mehr prüfen und auf sichere Füße stellen. Aber ich würde sagen – in vier bis sechs Wochen haben wir das alles geklärt und einen Platz für Sie frei. Ich werde dann dort Ihr behandelnder Arzt sein. Und Sie bekommen ab sofort einen Sozialarbeiter zur Seite gestellt, der all die offenen Fragen mit Ihnen klärt, denn die deutschen Strukturen dürften Ihnen fremd sein."

Antoine macht große Augen.
„So schnell geht das? ... Dann ... dann ... dann will ich eine stationäre Therapie machen. Sagen Sie mir, was ich tun muss, damit es losgeht. Ich will so nicht weiterleben."
Hugo Berg lächelt, nickt und klärt dann mit Antoine einiges an Papierkram und Unterlagen. Wir bekommen die Adresse der Klinik und werden eingeladen, einfach mal dort hinzufahren und uns umzusehen.

Ich spüre fast sowas wie Mut oder ... Aufbruchsstimmung oder so bei Antoine, als wir rausgehen. Als wir schließlich wieder draußen stehen und unsere Räder aufschließen, seufzt Antoine plötzlich. Er lässt sein Rad zurück an den Zaun plumpsen, dreht sich um und nimmt mich fest in die Arme. Ich bin völlig verblüfft. Vorsichtig erwiedere ich die Geste, damit er sich damit wohlfühlt.

„Kommst du mich mal besuchen?"
Ich zeige ihm einen Vogel.
„Spinnst du? Wehe, ich darf NICHT kommen!"
Seine Augen leuchten auf. Ich habe sie noch nie so lebendig funkeln sehen wie in diesem Moment. Er dreht sich wieder zu seinem Fahrrad, aber ich halte ihn auf.
„Hast du übrigens was gemerkt?"
„Hm? Nö. Was denn?"
„Ich zitiere mich selbst: Der Tag, an dem du mich ohne Angst, mich zu verletzen, in die Arme nehmen kannst, als deinen Freund – auf diesen Tag freue ich mich jetzt schon. Wir werden das so richtig feiern."

Verblüfft schaut er mich an, an sich selbst runter und wieder rauf. Dann schleicht sich endlich eines seiner so seltenen Lächeln in sein Gesicht.
„O.K. - ab zu Möhrchen?"
„Haben die noch auf? Mitte Oktober?"
„Keine Ahnung. Sonst gehen wir in die Frittenschmiede nebenan."
Wie erlöst schwingt er sich auf sein Rad und tritt in die Pedalen, als hätte er seinen weiten Therapieweg schon hinter sich. Allein die Aussicht auf Erfolg beflügelt ihn, und ich freue mich einfach mit. Wir steuern spontan den Grugapark an, kaufen uns dort im Café zwei Coffee to go und eine Tüte mit zehn Berlinern, setzen uns auf die nächste Bank und fressen uns die Wampe voll.
„Boah, Antoine. Vor einer Woche hätte ich niiiieeeeeee gedacht, dass dieser Moment so schnell kommen würde."
„Ich auch nicht. Ich glaube ... es war dein Zorn, der mir die Tür geöffnet hat. Zum allerersten Mal in meinem Leben war jemand FÜR mich wütend. Zum allerersten Mal habe ich ein Gefühl dafür bekommen, dass MIR Unrecht getan wird. Ich vertraue dir so sehr, dass ich das sogar auf Moritz und Paul übertragen konnte. Und letzten Endes auch auf Bernd."
Wir fischen die nächsten beiden Berliner aus der Tüte und stoßen grinsend damit an.

Nach dem Mittagessen, das bei mir eher daraus besteht, dass ich den anderen zusehe beim Essen, arbeite ich dann die ganzen Anregungen und Korrekturen von Onkel Uwe in die Facharbeit ein. Und am Abend drucke ich das erste Exemplar aus und gebe es Tante Jana. Außerdem schicke ich die Datei als Mailanhang an Luis und Tanja.

Ich bin gespannt, was die dazu sagen werden.

Dann erlaube ich mir einen relaxten Abend. Am Montag geht die Schule wieder los. Da sollte ich wenigstens ein paarmal richtig abschalten, damit ich die nächste Etappe bis Weihnachten schaffe.

Zumal die mit der Süß nicht wirklich entspannt werden wird. Bei der nächsten Matheklausur geht's ums Überleben, und das mit Gewitter in der Luft.
Ich schlappe nach nebenan zu Lasse, und wir beiden einigen uns auf glotzen. „Ocean eleven" ist jetzt genau die richtige Dosis Ablenkung vom real life. Albern bis zum Abwinken, ein bisschen spannend und völlig belanglos. Passt. Filme glotzen ist auf meiner Bucket Zettel-List der einzige Punkt, der sich nicht verbraucht. Das machen wir einfach immer wieder mal. Und ich denke so lange nicht an Anni.

Süß. Ach sch...

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15.11.2020

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