063 ** ich Idiot! ** Fr. 11.10.2019

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Da wir in den Ferien leider nicht in die Schule können, muss ich für die Nachhilfe heute zur Süß nach Hause.
Auch das noch!
Wieder sträubt sich in mir alles dagegen, dieses Gebäude zu betreten. Ihr so nahe zu kommen. Ich habe keine Ahnung, welcher Art ihre „Auszeit" war, was in ihr vorgegangen ist, wie es ihr jetzt geht mit dem ganzen Schlamassel. Sie hat gesagt, dass sie mich liebt. Dass ich mich nicht verbiegen soll für sie. Sie hat mich getröstet nach dem Alptraum. Sie weiß jetzt praktisch ALLES über mich!
Wie konnte sie da zulassen, ... Örks!

Ich schleiche die Treppe hoch, als ginge ich zum Schaffott.
Das ist doch alles echt nicht mehr normal!
Irgendwas in mir drin zieht mich die Treppe rauf, ein anderer Teil zerrt an mir nach unten. Und das Ergebnis ist symbolischer Hirntod. Ich verbrauche so viel Kraft dafür, zu verdrängen, wieviel wir hier schon gemeinsam gelernt und gelacht haben. Dass sie mir geholfen hat, den Film von meinem Tanz anzuschauen. Dass ...
Bloß nicht drüber nachdenken. Das macht es nur noch schlimmer.

Die Atmosphäre ist seltsam, wie letzte Woche auch. Aber dann kommt der Knaller, denn Frau Süß fängt an, mich Max und Sie zu nennen. Ich zucke zusammen und schaue schnell ins Buch. Es war mein Wunsch, den Resetknopf zu drücken. Ich habe das Ganze beendet, bevor es richtig anfangen konnte, weil mir einfach alles weh getan hat. Trotzdem muss ich mich sehr beherrschen, mir nichts anmerken zu lassen.

Frau Süß scheint mein Zucken nicht bemerkt zu haben. Sie macht einfach Mathe mit mir. Ganz ruhig, ganz gelassen. Ganz klar. Sie akzeptiert dieses Ende und zieht eine klare Linie. Lehrerin – Schüler. Sie entschuldigt sich nicht, ich entschuldige mich nicht. Sie ist zielorientiert, wir schaffen total viel heute. Wir bereiten uns jetzt vor auf das Thema der nächsten zwei Monate und eben auch auf die Klausur in fünf Wochen. Sie erklärt mir alles so weit, dass ich selbst schon sagen kann, welche vorherigen Themen ich als Grundlage dafür brauchen werde. Sie ergänzt das, und wir machen uns einen Plan, wann wir bis zur Klausur woran arbeiten, damit uns nicht wieder die Zeit davonläuft.

Und die ganze Zeit habe ich das Gefühl, ich sitze in einem Kühlschrank. Die zauberhaften Momente in der Eifel rennen wie kleine Teufel durch mein Hirn. Mathe? Geht. Fühlen, denken, handeln, reagieren, entscheiden, guten Tag und auf Wiedersehen sagen? No go. Alles außer Mathe ersäuft in gestottertem Nonsens. Und das MIR! Dem größten Mathe-Muffel der ganzen Stadt ...

Erst, als ich wieder vor der Tür stehe, registriere ich plötzlich, was das alles bedeutet. Und was ich dazu fühle. Es ist, als wäre ich vor eine Wand gerannt. Ich liebe diese Frau! Es ist nicht Bewunderung, nicht das Gefühl von Geborgenheit bei der Älteren, Erfahreneren, nicht diese atemberaubend schönen Küsse, die uns beide überrumpelt und mitgerissen haben. Es ist ihr Humor, ihre Schlagfertigkeit, nicht nur mit Worten sondern ganz allgemein ihre Haltung gegenüber dem Leben, ihr Mut, für andere einzustehen, ihre Gabe, Menschen zuzuhören, es ist, dass sie für ihre Schüler kämpft, dass sie keine halben Sachen macht. Und es sind diese unglaublichen, grünen Augen. Ich liebe sie, und es ist auf einmal scheißegal, wer da wen oder auch nicht verraten, vergessen, versprochen, ver-achwasweißich-t hat. Ich habe sie verloren, und sie hat nun ganz klar die Grenze gezogen.

Ich Idiot!

Die Erkenntnis trifft mich wie mit einem Hammer, und ich suche verzweifelt in meinem Hirn nach Hilfe. Die Jungs können mir zuhören – aber helfen können sie mir nicht. Und alle anderen wissen ja nichts davon. Trotz des Nieselregens radele ich mal wieder raus zum Friedhof. Ich weiß in diesem ganzen Gefühlschaos einfach nicht mehr weiter. Mama muss ran.

Ich setze mich in der Nähe des Grabes fröstelnd unter eine große, alte Kiefer und klappe die Augen zu. Es riecht wunderbar nach Wald und nach Regen und nach Leben. Manchmal habe ich hier schon Eichhörnchen beobachtet. Auf den Gräbern blühen die letzten Astern, da und dort sind Kerzen angezündet. Und dann schütte ich Mama mein ganzes Herz aus. Es ist ganz anders als bei Onkel Uwe. Da bin ich ja zum Reflektieren. Hier bin ich jetzt zum Ausheulen und mich trösten lassen. Hier bin ich Gefühl und Sinn und Ausdruck – wie beim Tanzen. Nichts hat Mama und mich je so verbunden wie das.

Anni hat aufgehört zu kämpfen. Sie hat einfach aufgehört zu kämpfen. Aber was heißt das? Dass sie mich doch nicht liebt? Dass ich ihr doch zu jung und unreif bin? Dass sie will, dass ich mich erstmal austobe und auswüte? Dass ich mich gefälligst zusammenreißen und nur noch arbeiten soll? Erwartet sie noch was von mir? Dass ich mich entschuldige? Wird sie weiter für mich da sein? Oder bin ich in Zukunft wieder schutzlos Frau Hartmann ausgeliefert? Werden wir noch unsere Witzchen reißen? Oder ist das jetzt auch vorbei?

Irgendwie finde ich mich selbst grade dezent unverschämt. Verrat her, blauer Brief hin. Wieso erwarte ich eigentlich nach dem Knall immernoch so selbstverständlich, dass sie für mich da ist und für mich kämpft? Ich hab es doch am Anfang des Schuljahres selbst gesagt, ja, richtig eingefordert: bitte keine Wattepackung, lass mich selbst entscheiden, lass mich selbst kämpfen, lass mich selbst meinen Weg suchen und finden. Also lautet die Devise jetzt: Sport, Mathe, Nachhilfe – Schluss. Sachliche Ebene, normale Namen, ackern – und siegen.
Leb wohl, meine wunderbare Anni. Welcome back, Frau Süß.

Ich lasse die Tränen einfach laufen. Ich fühle mich immernoch ungerecht behandelt, aber der Sturm wütet nicht mehr in mir. Wir hatten die eine Chance, wir haben sie vergeigt. Und das tut scheiße weh, aber ändern können wir das nicht mehr. Es ist zuviel Porzellan zerschlagen innerhalb so kurzer Zeit. Das wäre sowieso alles auf einmal nicht gegangen. Jetzt konzentrieren wir uns auf den Endspurt. Augen zu und durch. Ich werde mich ab jetzt nur noch aufs Tanzen und auf die Schule stürzen. Mit mündlicher Mitarbeit kann man auch 'ne ganze Menge reißen.
Ich schaff das!
Und wenn das Abi rum ist, sehen wir uns nicht mehr, dann wird es hoffentlich bald ganz vorbei sein.

Ich radele direkt zu Tanja und hole mir ihr Feedback zu meiner Facharbeit. Sie hat sie als wohlwollender Laie gelesen und macht mir einige Anmerkungen und Komplimente, die ich mir notiere. Zu Hause erwartet mich außerdem eine ausführliche Stellungnahme von Tante Jana. Sie ist sehr berührt, weil sie gerade bei den Kapiteln über Tanz als Therapieform so viel über Mama zwischen den Zeilen gefunden hat. Sie versteht sehr gut, was meine Anteile daran sind und wieviel mich darum mit Mama verbindet. Das macht mich richtig froh.

Ich bleibe gleich unten und decke den Tisch, weil Mittagszeit ist. Lasse holt Ole aus dem Kindergarten ab, und bald sitzen wir alle um den großen Tisch. Heute gibts Würstchen, selbstgemachten Kartoffelbrei und eine große Schüssel Salat. Ole stürzt sich natürlich auf die Würstchen und muss echt genötigt werden, den Kartoffelbrei zu essen. Ich dagegen liebe ihn, ich könnte mich reinsetzen und mich nudeldick fressen, weil der sooo viel besser schmeckt als das Instant-Packungs-Labberzeug.

Ole nutzt das schamlos aus. So kein, wie er ist, so raffiniert ist er auch.
„Max, darf ich deine Würstchen?"
Tane Jana hakt sofort ein.
"Was willst du denn mit seinen Würstchen? Willst du sie anziehen oder umdrehen oder ein Bild davon malen oder ..."
Ole kuckt total kariert, weil er nicht versteht, was seine Mutter von ihm will. Ich dagegen verschlucke mich fast vor lauter Lachen.
„Ach, Ole. Deine Mama will, dass du in ganzen Sätzen sprichst. Das kannst du nämlich schon ganz toll. Du hast nur gesagt ‚Darf ich deine ...', nicht, WAS du damit willst."

Ratter Ratter Ratter Ratter Ratter ...
„Haben! Was denn sonst???"
„Hm, schade. Ich hab selbst noch so großen Hunger. Aber eins kann ich dir noch abgegeben, wenn du vorher den Kartoffelbrei auf deinem Teller ratzeputz wegisst ..."
Tante Jana verkneift sich das Grinsen, und der Teller von Ole ist im Handumdrehen leer. Feierlich überreiche ich ihm das Würstchen. Ole strahlt.

Nach dem Essen verdonnert Tante Jana Ole und Lotta zum helfen. Ich gehe hoch in mein Zimmer und fahre meinen PC hoch. Die lockere Familienatmosphäre hat mir geholfen runter zu kommen. Ich bin nicht mehr so überdreht in der Birne.

Also räume ich meine Mathesachen weg und hole meine Zitate-Sammlung für die Facharbeit raus. In der Mailbox finde ich die Rückmeldungen von Luis und nochmal Uwe. Luis hat noch wieder andere interessante Aspekte bemerkt. Und Uwe hat nur noch zwei Formulierungsfehler gefunden. Das arbeite ich alles ein. Die ganze Arbeit fühlt sich immer runder und richtiger an.

Dann konzentriere ich mich nochmal darauf, dass ich wirklich alle Zitate markiert, alle Quellen genau angegeben habe, dass Gliederung vorne und Anhang hinten stimmen. Ich konzentriere mich auf meinen Lieblingsfehler: verrutschte Seitenzahlen ... Ich gestalte das Titelblatt und unterschreibe die Erklärung, dass ich das Ding alleine produziert habe. Dann halte ich einen Moment inne. Eigentlich schade. Es hat mich so fasziniert, an dem Thema zu arbeiten. So viele Menschen haben inhaltlich und persönlich dazu beigetragen.
Kurzerhand gehe ich auf die nächste Seite und schreibe eine Widmung. Ich möchte diesen Menschen danken, dass ich so weit gekommen bin. Dann ziehe ich alles auf einen Stick. Morgen geht's ab in den Copyshop, dann kann ich die Arbeit am Montag fristgerecht abgeben.

Das Wochenende wird komplett vergammelt.
Muss auch mal sein.
Aber am Sonntag Nachmittag beim Training sind die anderen kollektiv verwirrt.
"Was ist denn mit dir passiert? Raus aus dem Tal der Tränen? Hast du irgendwie'n Schalter im Kopp, den du einfach umlegen kannst?"
„Lasst gut sein, Jungs und Mädel. Ich erklär euch das gerne später, aber jetzt will ich tanzen, mich völlig darauf konzentrieren und unsere Choreo weiterbringen."
Ich glaube, im Moment schlage ich in so kurzen Abständen Purzelbäume im Hirn, dass ich nicht immer sofort eine Wasserstandsmeldung geben sollte. Bevor ich ganz fertig bin damit, ist die doch eh schon wieder überholt. Und ich habe grade einfach schon genug gefühlt und gedacht und geredet.

Inzwischen stehen die Einzelelemente unserer kleinen getanzten „Geschichte" einigermaßen. Wir drücken sauber jeweils unser Spezialgebiet aus und zeigen, was wir da alles draufhaben. Als nächstes machen wir uns an die Brückenstücke, die unsere Einzelelemente verbinden sollen, da sind viele Auf- und Abgänge dabei, die gut geplant und mit sehr kurzen, prägnanten Dialogen gewürzt sein müssen. Schon heute merken wir, dass Paul und Moritz beim Spezialgebiet des jeweils anderen beide richtig geackert und viel dazu gelernt haben. Moritz tanzt zwar noch keinen Schwanensee, aber immerhin kommt er jetzt auf die Spitze und kann damit was anfangen. Paul ist beweglicher geworden und kommt eher ins Improvisieren als früher. Und nach Weihnachten werden wir dann den gemeinsamen Schluss auskaspern. Unsere Ziele rücken näher, die Vorfreude wächst und die Energie ist wieder da.
Endlich.

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16.11.2020

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