073 ** Zerreißprobe ** Do. 5.12.2019

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WOW! Ich dreh noch durch.
Das Training am Sonntag war super, den Montag hab ich gut überstanden. In der Tutorenstunde haben wir sogar über Adventskalender geredet, und Anni hat uns strahlend erzählt, dass sie Pettersson und Findus so liebt und dass ihre Mitbewohnerin ihr einen Tee-Lese-Adventskalender mit dem Buch geschenkt hat. Die Freude in ihrem Gesicht hat mich erleichtert und wirklich berührt. Moritz, Milly und Paul haben unübersehbar gegrinst, aber es scheint ihr nicht aufgefallen zu sein.

Aber dann. Montag die Nachhilfe in ihrer Wohnung, wo sie mir stolz und glücklich den Korb zeigt. Dienstag Mathe. Mittwoch Sport. Und Nachhilfe wieder bei ihr. Und heute gleich Mathe UND Sport hintereinander weg. Ich dreh durch.
Anni, liebe, liebe Anni, bitte verzeih mir. Oder schaffe es bitte wenigstens, den Adventskalender weiter zu genießen, auch wenn du morgen irgendwann erfährst, dass er von mir ist.

Wir haben zwar nachher noch Lerngruppe, aber vorher gibt es im Hause Seitz die Tradition, dass alle gemeinsam in der Küche hocken und all ihre Schuhe putzen. Sogar Ole wedelt mit einer Bürste über seine Gummistiefel. Dann entscheidet jeder, welche Schuhe er oder sie in den Flur neben die Haustür stellt. Wieder überkommt mich ein Glücksgefühl, dass ich einfach so Teil davon sein darf. Allerdings fällt mir dann Papa ein. Der nebenan hockt, und dem niemand die Schuhe füllen wird.
„Tante Jana?"
„Ja?"
„Ich ... muss grade dran denken, dass ... Papa morgen nichts in seinen Schuhen haben wird. Ich finde das so traurig."

Sie schaut mich lange an.
„Das ehrt dich, Max. Wenn du möchtest, stellen wir ihm morgen was vor die Haustür. Dann findet er das, wenn er von der Firma heimkommt. Ach, übrigens. Ich kann das jetzt nicht ausführlich erzählen."
Sie wirft einen vielsagenden Blick in Richtung der Kleinen.
„Aber sowohl Tanja als auch Uwe haben mir erzählt, dass Axel sich wohl langsam innerlich in Bewegung setzt. Tanja und Axel haben sich zum ersten Mal getroffen gestern. Das macht doch Hoffnung, oder?"

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn ich dran denke, wie traurig Tanja am Sonntag war. Wie sehr sie geweint hat – dann ist das wirklich eine gute, eine hoffnungsvolle Nachricht.
„Oh ja! Das ist mein schönstes Nikolausgeschenk!"
Ehrlich. Ich freue mich ehrlich. Und ich bin ehrlich traurig für Papa, dass er so allein ist. Zum ersten Mal seit meinem Umzug habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich Papa richtig vermisse. Und dann kommen MIR die Tränen. Ich drehe mich schnell weg, aber mindestens Lasse hat es doch gesehen.

Ich verabschiede mich schnell, fahre zur Lerngruppe zu Moritz und bitte die beiden anderen, dass sie mir dabei helfen, mich abzulenken und mich zu konzentrieren. Sie fragen nicht viel. Wir lernen einfach. Hinterher bewundern wir noch den Führerschein, den Moritz heute schon abholen durfte, weil er morgen achtzehn wird und dann fahren darf.
„Cool. Paul, wir müssen nie wieder durch den Regen radeln. Ab jetzt haben wir einen echten Nikolaus als Chauffeur!"
Moritz tippt sich an die Stirn.
„Bei euch piepts wohl. Nix Chauffeur. Und innerhalb von Essen schonmal gar nicht."
Paul und ich schmollen ein bisschen gespielt. Dann machen wir uns wieder auf nach Hause. Morgen nach dem Training wollen wir Moritz mit einer kleinen Party überraschen. Milly und Luis haben auch mitgeplant. Das wird bestimmt lustig.


Fr. 6.12.2019

Nur sehr mühsam wache ich auf. Und zwar nicht von meinem Wecker, was ich bei näherer Betrachtung ziemlich seltsam finde. Bis ich begreife, dass Jenny mich schon um 6.00 Uhr aus den Federn reißt und mich energisch in den Tag schubst. Fragen werden nicht beantwortet, sie scheucht mich einfach ins Bad und empfängt mich dann mit einem herrlichen Frühstück. Ich darf mich einfach an den gedeckten Tisch setzen.

„Hei, Kater. Womit habe ich mir das verdient?"
„Damit."
Jenny hält mir einen Briefumschlag hin, mit einer großen roten Sechs drauf und einem Holzstern daran.
„Toni? Tu dir bitte den Gefallen und lies ihn gleich nach dem Frühstück mit mir zusammen. Dann haben wir noch Zeit zum Reden."
„Na, du tust ja geheimnisvoll. Was soll das denn?"
„Meine Lippen sind versiegelt."
„Na, dann bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, als zu frühstücken."
„Göööönau."

Ich lasse mir die frischen Brötchen und den heißen Tee schmecken. Aber mein Blick fällt immer wieder neugierig auf den Briefumschlag. Irgendwie kommt mir der Schwung dieser Sechs auch bekannt vor. Aber ich kann an der einen Zahl nicht genug ablesen, nur eines ist sicher: Jennys Schrift ist es nicht. Schnell schmiere ich mir auch für die Schule noch ein Brötchen.
„Darf ich jetzt?"
Jenny steht auf, räumt die Lebensmittel in den Kühlschrank, fasst mich bei der Hand und zieht mich mitsamt dem Brief ins Wohnzimmer.
„Jetzt."

Ich habe den Umschlag schon auf, bevor ich ganz auf dem Sofa sitze. Und dann erkenne ich die Schrift sofort. Der Brief ist von Max. Ich muss schlucken.
„Woher ..."
„Der war an dem Adventskalender dran. Von wem ist der denn?"
„Tu nicht so! Das weißt du ganz genau. Denn auf dem Umschlag steht mein Name nicht. Woher hättest du wissen sollen, dass der nicht für uns sondern für mich ist?"
„Erwischt. Bitte sei nicht böse. Und lies einfach."

Mir zittern die Hände, als ich wieder nach dem Brief greife und anfange zu lesen.

Guten Tag, Frau Süß!
Es fühlt sich sehr komisch an, so einen Brief an Sie zu beginnen. Aber ich weiß im Moment tatsächlich überhaupt nicht, wie ich Sie/Dich im Privaten anreden soll.
Dieser Adventskalender soll kein Versuch der Wiedergutmachung sein, denn was ich Ende September angerichtet habe, lässt sich nicht wieder gut machen. Ich habe vor kurzem endlich begriffen, was ich da nach der Busfahrt eigentlich getan habe.
Ja, ich war krank und müde und geschockt von dem Rauswurf. Aber vor allem war ich furchtbar kindisch und furchtbar gemein. Ich bin beschenkt worden mit Vertrauen und mit Achtung. Und ich habe es gedankt mit aggressiver Zurückweisung. Sie haben immer um und für mich gekämpft, und ich mache Sie verantwortlich für die Gemeinheit einer anderen.
Ich möchte im Boden versinken vor Scham bei dem Gedanken an „den Resetknopf". Sogar da haben Sie noch ein Signal zur Versöhnung setzen wollen, und ich habe es abgeblockt. Das war schlicht und ergreifend gemein, geboren aus meiner Hilflosigkeit und Verwirrung und dennoch gemein."

Dass mir die Tränen in Strömen übers Gesicht laufen, merke ich erst, als Jenny mich in die Arme nimmt.
„Lass laufen, Süße. Du hast allen Grund dazu."
Max! Mein lieber, lieber Max! Was bin ich froh. Nun haben wir doch noch eine Chance. Denn natürlich habe ich dir längst verziehen. Ich wollte mich einfach nur schützen!
Ich greife wieder nach dem Brief und lese weiter.

Ich kann nur demütig um Vergebung bitten. Ich weiß, dass ich diese Vergebung wahrscheinlich nicht sofort und vielleicht auch nie bekommen werde. Dann ist es so. Ich habe viel Porzellan zerschlagen mit meinem Verhalten, und das lässt sich nicht einfach so wieder kitten. Aber ich möchte sagen, dass ich es bitter bereue.
Ich habe – als dann der Groschen ENDLICH gefallen war – auch mit meinem Therapeuten darüber geredet. Es war eine ziemlich unangenehme Entdeckung, als ich begriffen habe, wie sehr ich mit diesem Verhalten meinem Vater ähnele - um mich schlagen und dann weglaufen. Es tut mir unendlich Leid. Ich kann verstehen, wenn Sie sich jetzt (erstmal) vor mir schützen wollen, denn es war ja auch nicht das erste Mal."

Ich halte das Blatt so, dass nun auch Jenny mitlesen kann.
„Keine Ahnung, warum der meint, dass er für dich zu jung ist. Sooo reflektiert habe ich noch keinen Siebzehnjährigen gesehen!"
Ich nicke bloß. Schon wieder laufen die Tränen. Er hat so viel verstanden. Und ich weiß einfach, dass dieser Brief absolut ehrlich ist.

Bitte passen Sie gut auf sich auf, und bitte sagen Sie mir, was ich tun kann oder lassen soll, damit Sie sich wieder wohler fühlen in meiner Gegenwart, der Sie nicht entkommen können.
Ich habe viel zerstört und dabei selbst so viel verloren. Ich wiederhole mich wohl: ich bin ein Idiot!

Ich habe gesehen, dass es Ihnen in den letzten Wochen nicht gut ging. Ich habe Ihnen sehr weh getan. Als ich dieses Buch fand, hatte ich einfach die Idee, dass ich Ihnen – ganz unabhängig von mir – damit ein paar fröhliche, zauberhafte Momente in diesem Advent schenken kann. Ich hoffe, Sie schaffen es jeden Tag, diesen Moment gemeinsam zu erleben, eine Kanne Tee und ein witziges Buch zu genießen.
Ich wünsche Ihnen und Frau Tucher eine unbeschwerte Adventszeit mit diesem Buch, Ihr Max"

Ganz still greife ich nach Jennys Hand und drücke sie einfach fest. Mir bleibt jedes Wort im Halse stecken, und die leidige Stimme knurrt böse in ihrer Ecke. Aber gleichzeitig regt sich ein winziger Funken Hoffnung in meinem Herzen.
Ja, ich sollte vorsichtig sein. Aber hoffen will ich auch. So sehr!

Es ist nun ziemlich spät geworden, und so raffen wir nur unsere Schulunterlagen zusammen und schwingen uns auf unsere Räder. Unser Fahrstil ist heute ein bisschen ... unorthodox würde ich sagen. Aber wir kommen dann jedenfalls grade noch rechtzeitig in unseren jeweiligen Unterricht. Bevor wir uns trennen, nehme ich Jenny nochmal in die Arme.
„Danke, du beste aller Freundinnen. Das war gut so heute morgen."
Und schon spritzen wir in verschiedene Richtungen davon.

In der ersten großen Pause habe ich mal wieder Aufsicht auf dem neuen Hof. Die vier Tänzer hocken wie immer in der Eiche. Von weitem kann ich erkennen, dass sie ganz viel miteinander knuddeln.
Na, da braucht Max wohl grade etwas Nestwärme, damit er es gleich aushält, mir gegenüber zu treten.
Ich richte meine Augen wieder auf die wuselnden Kinder um mich drumrum.
Und ich könnte jetzt auch etwas Kuscheln vertragen.
Kaum habe ich das gedacht, kommt Jenny und umarmt mich ganz feste.
„Warum soll Max auch einen Vorteil haben. Der wird geknuddelt - also knuddele ich dich!"
Ich muss lachen. Das ist soooo typisch für Jenny. Sie weiß genau, was grade in mir abgeht.

„Wirst du darauf eingehen, oder brauchst du noch Bedenkzeit? Irgendeine Reaktion solltest du ihm gönnen."
„Klar werde ich drauf eingehen. Es ist ein Wunder, dass er nicht die ganze Woche am Rad gedreht hat. Ich hab jedenfalls nichts gemerkt."
„Stimmt, er hatte sich bewundernswert im Griff, dafür, wie er geflattert hat, als er mir den Korb übergegeben hat."

Ich hole meine Unterlagen für Max aus dem Lehrerzimmer, straffe meine Schultern und laufe den Gang entlang, wo Max schon vor der Tür zu unserem Raum steht und auf mich wartet. Ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht einfach hier auf dem Flur zu umarmen und zu trösten, denn er schaut mir mit so viel Angst und Unsicherheit im Blick entgegen, dass er mir richtig leid tut.
„Komm mit rein, Max. Lass uns reden."

Er registriert genau, dass ich ihn erstens geduzt habe und zweitens gelassen und weich klinge. Trotzdem sitzt er nur auf der Kante vom Stuhl, als wolle er am liebsten ganz schnell weglaufen.
„Max? Schau mich an."
Zögernd hebt er den Blick.
„Danke. Ich danke dir für diese wunderbare Idee, ich danke dir für all die Liebe, die du in diesen Korb gesteckt hast. Und ich danke dir für deinen Brief."
Max atmet hörbar aus und setzt sich etwas aufrechter hin.
„Das ist wieder der Max, den ich kenne. Der Max, in den ich mich verliebt habe. Der Max, der die Reife hat, sich selbst zu reflektieren und aus seinen Fehlern zu lernen. Ich weiß, dass das keinen Spaß macht, und darum danke ich dir dafür."
„Ich ... ich fühle mich aber gar nicht reif. Ich fühle mich ... doof. Ich muss noch sooo viel lernen, damit man es mit mir aushalten kann."
„Papperlapapp. Du meinst, damit eine Frau, damit ICH es mit dir aushalten kann. Richtig?"
Er nickt bloß.
„Das ist Unsinn. Ja, Max, du hast mir sehr weh getan. Aber ich habe dir das längst verziehen."
Seine Augen leuchten auf.
„Außerdem weißt du ja immernoch nicht, warum mir genau das so weh getan hat. Und ich werde es dir auch jetzt noch nicht erzählen. Aber das hat das alte 'mit mir kann mans ja machen!'-Gefühl wieder rausgeholt. Und den Reflex, mich davor zu schützen. Deshalb musste der Abstand erstmal sein. Ich habe es gebraucht, dass du das von alleine kapierst."

„Ich weiß nicht, was ... Danke! Auf dieses Wunder hab ich nicht zu hoffen gewagt. Ich will gar nicht wieder vorpreschen. Ich glaube, ich sollte noch eine Weile an dem Thema für mich rumkauen, bevor ich ... ach, weiß nich ..."
„Das wollte ich auch vorschlagen, Max. Wir haben uns ausgesprochen, du hast mit dem süßen Geschenk mein Herz im Sturm zurückerobert, aber das Vertrauen muss erst wieder wachsen. Wir ziehen also unser wöchentliches Programm weiter durch. Allerdings ... Bitte, sag im Privaten nicht Frau Süß zu mir. Anni ist so viel schöner ..."

Max fallen bald die Augen aus dem Kopf.
„D.Das ... echt? WOW! Ich ... danke!!!"
und nach einer kleinen Pause ...
„Ich hab dich so lieb, ich wollte nie, dass du so leidest. Ich weiß ja nicht, was 'das' damals war. Aber ich habe längst kapiert, dass es ziemlich furchtbar gewesen sein muss. Und ich habe gespürt, dass es dich durch mich wieder eingeholt hat. Das hat sich grausig angefühlt. Das hab ich nie gewollt."
„Das warst gar nicht du allein. Es war einfach die passende Jahreszeit. 'Es' ist mit dem November verbunden. Und der ist jetzt rum. Der Dezember ist jedes Jahr für mich wie eine Versöhnung mit dem Leben. Und deine Holzsterne gehören jetzt dazu."

Ich sehe Tränen in seinen Augen glitzern und höre sein leise geflüstertes „Gott sei Dank!"
„Komm her!"
Ich nehme ihn kurz aber fest in die Arme und freue mich, dass er das erwidern kann.
„Mathe?"
„Mathe!"

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27.11.2020

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