074 ** zwei Schritte vor, einer zurück ** Mi. 11.12.2019

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Noch lange habe ich am Freitag meine eigenen Worte hin und her gedreht und gewendet.
War ich wirklich ehrlich? Ist es wirklich das, was ich fühle? Max macht sich jetzt Hoffnungen. Kann und will ich die erfüllen? Mein Herz sagt ja. Die Stimme in der Ecke ist inzwischen ziemlich heiser und erfreulich leise geworden. Der November ist vorbei ...

Am Wochenende haben Jenny und ich uns viel Zeit für uns genommen. Muss auch mal sein. Die tägliche, von Max verordnete Kanne Tee ist einfach wunderbar. Und die meisten Sorten schmecken tooootal lecker! Ich muss ihn mal fragen, wo er die her hat.

In der Schule merke ich, dass wir uns beide viel entspannter benehmen, nicht mehr so in Habachtstellung sind. Wir reißen sogar wieder den einen oder anderen Witz. Das macht mich sehr froh, denn im Grunde habe ich Max jetzt ja in der Schwebe gehalten. Er hat meine Vergebung, aber noch nicht wieder mein Vertrauen. Und auch keine Garantie, dass das wiederkommt. Wir wissen einfach nicht, ob es für uns eine gemeinsame Zukunft gibt. Doch ihm scheint das völlig zu reichen. Und so kostet es ihn dann hoffentlich auch nicht zuviel Kraft.

Dr. Miegel bittet mich in der zweiten großen Pause, nach der sechsten Stunde zu ihm ins Büro zu kommen.
Aha, da haben die wohl endlich was für mich ausgekaspert.
Ich muss zusehen, dass Max das in Ruhe und von mir erfährt, damit er meine Motive versteht. Aber jetzt kann ich endlich planen.

Ich beende den Sportunterricht in der Zwölften heute sehr pünktlich und mache mich etwas frisch. Dann laufe ich mit Neugierde zum Büro von Dr. Miegel.
„Hallo, Frau Süß. Schön, dass das so schnell klappt. Ich habe mich endlich mit Frau Luckowski über Ihre Verträge für das zweite Halbjahr verständigen können. Unser Plan sieht so aus: Sie werden an der Helen-Keller-Schule alle Stunden übernehmen, die dort in der Klasse der Kollegin anfallen, das sind fünfzehn. Ihre restlichen Stunden machen Sie weiter hier bei uns. Und weil es für die am wichtigsten ist, habe ich gedacht, dass sie einfach Mathe und Sport in der Zwölf weiterführen. Dann haben die jungen Leute nicht kurz vorm Abitur noch einen Wechsel."

Ich erstarre auf meinem Stuhl.
„Die Stundenpläne beider Schulen müssen dafür koordiniert werden, und Sie werden sicher ein Auto brauchen, damit Sie mitten am Vormittag den Standort wechseln können. Das wäre aufwändig, aber es lässt sich nicht vermeiden. Haben Sie ein Auto?"
Mir bleibt jedes Wort im Halse stecken. Wenn ich jetzt auch nur einen Ton sage, kommt entweder Gift und Galle oder Tränen oder die Wahrheit raus.
Schließlich ringe ich mich durch.
„Ja. Ja, wir haben ein gemeinsames Auto. Das geht dann schon. Irgendwie."

„Sind Sie denn einverstanden damit?"
Neeeeeeiiiiiiiinnnnnn!!!!!!!
„Naja, ich hatte gedacht, dass ich für das halbe Jahr ganz rüber wechsele, weil ich hier ja zuviel bin. Und da das nochmal ein neues Lernfeld auch für mich ist, werde ich mich mit einer 15-Stunden-Stelle auch bestimmt nicht langweilen, zumal die Stelle ja eigentlich mit viel mehr Stunden ausgewiesen war. Da muss ich doch ziemlich viel Arbeit reinstecken. Und bei den Standortwechseln geht auch ziemlich viel Zeit flöten. Meine Freizeit. Ich habe dann doppelt Elternabende, doppelt Konferenzen, doppelt Zeugnisse schreiben, doppelt einfach alles. Also ..."
„Ach, Sie sind so gut strukturiert und so versiert. Das schaffen Sie schon. Sie haben das ja studiert."
Hiiiiiiilfe, wie komm ich da raus???

Gar nicht? Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass du so einfach zurückrudern kannst und dann mit heiler Haut davonkommst ...

Kann man dich rausoperieren?

Nö.

Mist!

Ich bin kurz vorm Durchdrehen. Da mache ich den ganzen Affentanz, damit ich mich rechtlich auf der sicheren Seite befinde, damit ich Max und mich nicht in Gefahr bringe. Und dann entscheiden die über meinen Kopf hinweg, dass ich genau das nicht machen darf. Plus dauernd pendeln. Plus Einarbeiten in die neue Schulform.
Ich könnte kotzen.

Ich starte einen letzten Versuch.
„Ich ... möchte das aber nicht. Ich habe mich auf EINE Stelle beworben. Sie selbst hatten mich bei Vertragsunterzeichnung sogar darum gebeten. Eine Pendelstelle würde mich zeitlich und kräftemäßig auffressen. Dazu bin ich nicht bereit."
„Durch den Weggang von Frau Hartmann hat sich aber die Situation hier verändert. Darum tut es mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Sie hier nicht entbehren kann. Die Zwölfte muss so kurz vorm Abitur Kontinuität haben. Es wäre absurd, ihnen einen anderen Tutor und Prüfer vor die Nase zu setzen, der sie überhaupt nicht kennt. Drei Stunden am Tag dort, dann herfahren und die Zwölfte unterrichten. Das ist unser Angebot. Oder ganz hier bleiben."

Ist das nicht moderne Sklaverei??? Wieso können die so über mein Leben entscheiden?
Mir stehen die Tränen ganz dicht am Rand.
„Dann kann ich wohl nichts mehr machen. Ich finde es nicht korrekt, dass über mich verfügt wird und ich nicht selbst entscheiden kann, wie ich mein Leben plane. Aber dann muss ich wohl in den sauren Apfel beißen. Guten Tag, Dr. Miegel."
„Ähh ..."

Fluchtartig verlasse ich das Direktorenbüro, schieße in Überschallgeschwindigkeit an Frau Zimmermann vorbei und flüchte mich im Hof auf die alte Eiche. Dort heule ich mir erstmal die Augen aus dem Kopf.
Es hat mich soooo viel Überwindung gekostet, mir selbst einzugestehen, dass dieser Schritt nötig und das Beste für uns alle ist. Und jetzt war alles umsonst! Himmel, ich hab bald keine Kraft mehr. Wie sollen wir das noch ein halbes Jahr lang durchhalten???

Zu Hause muss Jenny mir nur ins Gesicht sehen.
„Was ist los, alter Mann? Wen muss ich verprügeln?"
„Den Miegel."
„Ui! Muss ich hartes Geschütz auffahren? Oder reicht ein Softball?"
„Bitte eine mittelalterliche Kanone. Mit viel Pulver. Es sollte reichen, um ihn auf den Mond zu befördern."
„Spucks aus!"
„Er hat sich mit meiner Demnächstchefin darauf geeinigt, dass ich jeden Vormittag drei Stunden dort die Schwangerenvertretung in der Kernklasse übernehme, dann zum Beethoven rübersause und dort Mathe und Sport ..."
„... in der Zwölften unterrichte. Scheiße!!!"

"Genau. Weil man den armen Schülern ja nicht zumuten kann, dass sie so kurz vorm Abi noch einen Tutorenwechsel aushalten müssen. Stimmt ja auch. Aber es war der einzige Weg."
Ich bin so verzweifelt, dass ich am liebsten die Wände anschreien würde.
„Kannst du das nicht ablehnen?"
„Er hat mir mitgeteilt, dass er mich dann gar nicht weglässt."
„Wie bitte???"
„Gööööönau."
„Sch..."
„Du wiederholst dich ..."


Mi. 11.12.2019

Am Samstag noch der letzte Survival-Tag und zusammen sieben Tage normale Schule. Und dann sind endlich Weihnachtsferien.

Endlich! Die letzte Pause vor dem großen Endspurt.
Anni und ich haben beschlossen, dass wir zwischen den Jahren weihnachtsfrei haben und mit der Nachhilfe erst im neuen Jahr weiter machen werden, dass wir aber stattdessen in den Ferien ab und zu was miteinander unternehmen wollen. Ich hab das nicht ausgesprochen, aber ein bisschen klingt es wie „vertrauensbildende Maßnahmen". Wir wissen beide, dass wir uns lieben. Wir müssen einfach rausfinden, ob es einen Weg für uns gibt, und wie wir ihn gehen können. Das Ende ist offen, und das habe ich akzeptiert.

In der Schule können Anni und ich wieder locker miteinander umgehen und Witzchen reißen. Und es fällt uns gar nicht schwer, das flirt-frei zu halten. Es ist wieder wie vor September. Ich genieße das sehr. Meine Jungs haben das natürlich sofort bemerkt und sich riesig mit mir gefreut.

Mit Onkel Uwe arbeite ich sehr intensiv daran, zu verstehen, durch was dieses Weglaufen in mir ausgelöst wird. Wir spielen sogar ein bisschen Theater, um solche Situationen zu finden. Er schaut mir auch beim Tanzen zu. Ganz allmählich komme ich mir selbst auf die Schliche. Es ist entstanden aus der Wechselwirkung zwischen Papa und mir. Wir haben beide einen Dickkopf, er hat seinen Verlust nie richtig verarbeitet, er wollte mir was überstülpen, ich wollte mir nichts überstülpen lassen – und dann haben wir uns gründlich verrannt und uns gegenseitig immer weiter in die Enge getrieben. Das Gefühl von Ausweglosigkeit, dieses Ausgeliefertsein hat mich dann immer extremer reagieren lassen. Aber Onkel Uwe hat ganz stolz gesagt, dass ich bestimmt nicht in der selben Falle lande wie Papa, da ich ja jetzt schon hart daran arbeite, mich selbst zu reflektieren.

Nun bleibt allerdings die Frage, wie ich denn in Zukunft vermeiden kann, dass ich so ausflippe, bevor ich mein Hirn benutze. Denn das ist gar nicht so einfach – Erkenntnis her oder hin. Also denkt sich Onkel Uwe provozierende Situationen aus, denen er mich immer mal unvorbereitet aussetzt. Wir üben, Körpersprache zu verstehen, weil ich dann vielleicht ab und zu schon vorher wissen kann, dass gleich was kommen wird. Ich lerne, meine Aggression konstruktiv umzulenken. Und wir führen zutiefst philosophische Gespräche darüber, was ein Mensch braucht, um sich sicher zu fühlen.

Antoines Kontaktsperre ist rum, und er hat unser gemeinsames Advents-Verwöhn-Päckchen ausgehändigt bekommen. Er hat uns einen langen Brief geschrieben, dass er zwar viel durch „die alte Scheiße" waten muss, gleichzeitig aber immer dankbar ist, dass sich diese Tür für ihn aufgetan hat. Alle haben riesig Spaß mit ihren Pettersson und Findus-Büchern. Tanja freut sich jeden Tag an den Papiersternen. Es ist kälter geworden und regnet nicht mehr dauernd. Im Moment weiß ich mich vor lauter Entspannung, guter Nachrichten und offener Türen kaum einzukriegen. Ich würde am liebsten quer durch die Stadt und über den Schulhof und überall nur tanzen vor Freude.

Als ich am Nachmittag zur Nachhilfe bei Anni eintreffe, merke ich allerdings sofort, dass ihre Stimmung schon wieder so seltsam gedeckt ist. Ich frage sie gleich, was sie hat, aber sie weicht mir aus.
O.K., das gehört dann auch dazu. Es geht mich eben nicht alles was an, das muss ich aushalten.
„Das ist völlig O.K., Anni. Solange du irgendjemand zum Reden hast, muss das ja nicht ich sein."
Sie wirkt erleichtert. Trotzdem spüre ich, dass sie sich sehr zusammenreißt, um mich nicht so merken zu lassen, dass sie was bedrückt.

Und dann kommt der Knaller. Onkel Uwe kommt nach seinem Mittwochs-Besuch bei Papa zu uns rüber. Sein Gesicht ist viel entspannter als sonst. Er bittet Lasse, die Kleinen ins Bett zu bringen, und setzt sich mit uns anderen ins Wohnzimmer.
„Ich habe gute Nachrichten. Axel war beim Arzt und hat sich eine Überweisung in die Klinik nach Remscheid geben lassen.
Der Nikolausstiefel hat ihn wachgerüttelt. Deshalb hat er die Weihnachtsdeko aus dem Keller geholt und den nächsten Nackenschlag durch die Fröbelsterne von Tanja bekommen. Er sagt zwar, er wisse immer noch nicht, warum, er fühle sich nicht krank. Aber er könne es nicht mehr aushalten, alleine in dem großen Haus zu hocken und zu wissen, dass seine Familie traurig wo anders hockt. Er sagt, er wolle versuchen zu verstehen, was wir alle eigentlich von ihm wollten, wenn das der einzige Weg sei, euch zurückzubekommen. Und er meinte damit ausdrücklich Tanja UND dich, Max."

Ich breche auf der Stelle vor Erleichterung und Freude und irgendwie-überhaupt in Tränen aus. Tante Jana nimmt mich einfach in die Arme und lässt mich heulen. Sie hat allerdings selbst Tränen in den Augen, weil nun die Hoffnung besteht, dass Papa ihre Schwester nicht mehr länger aus der Familie zu verbannen versucht.
Was eine Schiffschaukel heute! Rauf – runter – rauf. Puh.
Ich brauche eine Weile, um mich wieder einzukriegen. Onkel Uwe lächelt mich an.
„Max? Du hast alles richtig gemacht. Du bist für dich eingestanden und hast dich nicht brechen lassen. Aber mit dem Nikolausstiefel hast du ihm praktisch gesagt, dass du ihn trotzdem lieb hast. Axel steht auf gaaaaaanz wackeligen Füßen, aber er hat den Blick gehoben und vorwärts geschaut. Er hat schon angefangen zu organisieren, dass es in der Firma auch mal einige Wochen ohne ihn gehen kann. Er will das jetzt wirklich. Und ich bin darüber genauso glücklich wie ihr."

........................................................

28.11.2020

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro