079 ** Papas Abreise ** Do. 19.12.2019

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Onkel Uwe ist am Samstag Abend noch mit rüber zu uns gekommen. Ich hatte wieder Redebedarf ... Aber er hat mir viel Mut gemacht. Er sagte, dass meine beiden Besuche so viel in Papa losgerüttelt hätten und dass in den zwei Tagen so viel in die richtige Richtung passiert wäre, dass er jetzt ganz große Hoffnungen hätte, dass Papa die Therapie nutzen und neue Wege üben würde. Er hat sich sogar bei mir bedankt, dass ich Papa aus der Lethargie gerissen habe. Da wusste ich ja gar nicht, wo ich hinschauen sollte.
„Was hab ich denn gemacht? Ich war doch einfach nur da!"
„Ja, genau. Du warst da. Er hat dich den ganzen Sommer lang schikaniert und Ende September endgültig rausgeworfen. Und trotzdem bist du zu ihm gegangen, hast Signale zur Versöhnung gesetzt. Das hat er offensichtlich verstanden und sich zu Herzen genommen. Du weißt gar nicht, WIE stark du bist, Max."

„Du? Wird er dann auch eine Kontaktsperre haben wie Antoine?"
„Da bin ich mir ziemlich sicher."
„Aber ... er sehnt sich so nach Tanja. Das ist an Weihnachten ganz schön grausam."
„Ist es. Er darf alles haben, was er am Donnerstag mitbringt. Aber was danach an Post kommt, bekommt er erst nach der Kontaktsperre ausgehändigt. Da ist Weihnachten keine Ausnahme."
„Das heißt ... wenn wir ihm ein schönes Weihnachtspäckchen packen, Tanja und ich, darf er das haben und an Heilig Abend aufmachen?"
„Das werden sie ihm nicht wegnehmen. Er kann halt nicht sofort reagieren, da müssten wir eben Geduld haben."
„Wir?"
„Na, dachtest du, ich tu da nix mit rein?"

Wir haben eingeschlagen und sofort angefangen zu planen. Was er brauchen könnte. Worüber er sich freuen würde. Als Onkel Uwe weg war, hab ich gleich bei Tanja angerufen. Sie hat geweint vor Freude bei all dem, was ich ihr erzählen konnte.
„Dann müssen da auf jeden Fall meine und deine Sterne mit rein. Außerdem liebt er meinen Stollen, ich backe einen bis dahin."
„Onkel Uwe hat gesagt, dass die Patienten meistens aufgefordert werden, ein Tagebuch zu führen, für Therapiegespräche, Träume, Ängste, ... Wir sollten überlegen, wie Papa das wohl gerne haben würde und ihm dazu legen, denn erstmal kommt er ja gar nicht raus, um selbst eins zu kaufen."
„Gut, das mache ich, ich will sowieso morgen in die Stadt. Und - ich könnte mir vorstellen, dass Axel sich über Fotos von uns allen freuen würde. Da bist du näher dran. Magst du ihm ein paar raussuchen und Abzüge machen?"
„Gute Idee! Du, sag mal, wie lange ist dein letzter Ultraschall her?"
„Deshalb gehe ich ja morgen in die Stadt. Ich hab Termin."
„Cool. Dann kann der neue Zwerg nämlich auch mit zu den Bildern!"

Wir haben drei Tage lang geplant und besorgt und gebastelt und gebacken – und schließlich festgestellt, dass da ein Schuhkarton wohl nicht reichen wird. Also haben wir einen kleineren Koffer genommen, alles schön verpackt und reingetan – und dann einfach eine fette rote Schleife um den Koffer gemacht.

Jetzt stehen wir vor dem Haus, ich hab heute frei bekommen, weil Anni selbst sofort gesagt hat, dass ich mitfahren sollte. Es nieselt vor sich hin, passend zum Anlass. Onkel Uwe klappt grade den Kofferraum auf, und ich schiebe den Weihnachtskoffer hinein, bevor Papa den wahrnimmt. Er hat noch weiter aufgeräumt und sieht schon wieder viel wacher und „ernährter" aus als vor einer Woche. Onkel Uwe packt Papas offizielles Gepäck auch noch hinten rein, und dann steigen wir alle ein. Wir fahren über Werden und Wuppertal nach Remscheid. Am Sonnborner Kreuz muss er ein bisschen aufpassen. Ab da geht es dann rauf ins Bergische Land.

„Das ist echt schön hier, Papa. Spaziergänge im Winterwald sind bestimmt schön."
„Hm. Ich sollte auch Wanderschuhe und wetterfeste Kleidung einpacken, weil alle Patienten regelmäßig wandern müssen. Da ist mir dann Schnee allerdings lieber als Strippenregen."
Stimmt.
Mein Blick fällt auf die Frontscheibe, wo kleine Nieseltropfen abperlen und vom Fahrtwind nach oben gedrückt werden.
Das würde mir auch keinen Spaß machen ...
„Mal' den Teufel nicht an die Wand, Bruderherz. Du wirst eine Weile hier sein. Es kann ja nicht wochenlang nur regnen. Sogar hier nicht."

Die nächsten fünf Kurven schweigen wir wieder. Ich sitze mit Papa zusammen hinten und freue mich, dass diese Nähe möglich ist. Da seufzt er plötzlich.
„Ich hab Angst."
Ich greife nach seiner Hand, die unruhig am Polster der Rückbank pult.
„Ich habe Angst, dass ich mich hinterher nicht mehr wieder kenne. Dass ich zusammenbreche, wenn ich erstmal genauer hinschaue. Dass ich dauernd anfange zu weinen. Dass ... ich mich hasse, wenn ich verstanden habe, worum es geht."

„Das kann dir keiner abnehmen, Axel. Und ich finde es auch sehr wichtig, dass du da hinkommst, das nicht für Tanja, Max und das Baby zu machen sondern für dich selbst. Wir wünschen dir, dass du Altlasten loswirst, dass du dich freischwimmst, dass du zuversichtlich und stabil nach Hause kommst und in die Zukunft blicken kannst. Keiner will dich brechen. Nur neu aufbauen. Es ist dein Weg."
Papa antwortet nicht. Er kämpft mal wieder vergeblich mit den Tränen. Ich drücke seine Hand etwas fester.

„Papa?"
„Ich ... hab einen Freund aus der Schule, der als Kind etwas ganz Schreckliches erlebt hat. Und seine eigenen Eltern haben ihn gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen und die Schuld auf sich zu nehmen. Was er erlebt hat, war tausendmal schlimmer als das, was wir beide miteinander erlebt haben. Wirklich. Viel schlimmer. Du bist kein Monster. Du bist nur immer noch nicht über den Tod von Mama weg und hast irgendwie versucht, damit zu leben."
Papa hält erschrocken die Luft an.
„Antoine sagt:'Therapie ist kein Strandurlaub. Es regnet fast jeden Tag, Gewitter macht einem Angst und es tut oft weh, wenn einen die Hagelkörner treffen. Aber es tut deshalb weh, weil man sich endlich trennen darf von all den Lebenslügen, die einen bisher belastet haben. Am Ende hat man Muskelkater, weil man es nicht mehr gewohnt ist, aufrecht zu gehen. Aber das Aufrechtgehen ansich ist toll."
Papa nickt.
„Verstehe. Es macht keinen Spaß. Aber es macht einen am Ende frei. Oder, Uwe?"
„Ganz genau. Dieser Antoine hat ein ziemlich gutes Bild gewählt. Lass dir Zeit und lerne neu, dass das Leben schön sein kann. Tanja und Max warten auf dich."

Wir lassen Papa die Zeit, diese Bilder zu verdauen. Als wir auf den Parkplatz der Klinik rollen, schweigen wir noch immer. Papa schaut an der Fassade des alten Hauses hoch. Ich kann an seinem Gesicht nicht ablesen, was er denkt. Oder fühlt. Erst jetzt merke ich, dass er immer noch meine Hand hält und sie noch einmal drückt, bevor er loslässt und aussteigt.
„Seh ich euch nachher nochmal, wenn ich mich angemeldet habe?"
„Klar. Wir warten und gehen noch mit dir auf dein Zimmer, wenn wir das dürfen. Dann können wir Tanja erzählen, wie es bei dir aussieht."

Papa greift seinen Koffer und geht die Eingangstreppe hoch. Wir schauen uns an. Und Onkel Uwe nimmt mich in den Arm.
„Mach dir keine Sorgen, Max. Es ist wirklich, wie Antoine es geschildert hat. Und denk dran – es hat überhaupt keinen Spaß gemacht zu erkennen, dass du Anni weh getan hast. Oder dass du manchmal bist wie dein Vater. Aber es hat dich weiter gebracht. Das Tolle ist ja, dass du deinem Vater in den letzten Tagen ganz deutlich gezeigt hast, dass er trotz allem Teil deines Lebens ist. Dass du ihn bei dir haben willst. Ich hoffe, dass er sich daran festhalten kann, wenns hier ganz dicke kommt. Und du machst dir bitte nicht zuviel Gedanken. Er ist hier wirklich gut aufgehoben."

Papas Kopf kuckt aus der Eingangstür.
„Ich kriege jetzt mein Zimmer gezeigt, und ihr dürft mitkommen."
Schnell greifen wir Papas Rucksack, die Tasche mit Wanderschuhen und Regenzeug und natürlich den Weihnachtskoffer und folgen ihm und einem Pfleger durch Gänge und Türen. Wir bekommen den Aufenthaltsraum für die Therapiegruppe gezeigt und kommen schließlich bei seinem Zimmer an, das er sich mit einem etwas jüngeren Mann teilen wird. Der ist grade nicht da, vielleicht grade in einer Therapiesitzung.

Das Zimmer ist ziemlich groß und hell. Über Papas Bett hängt eine große Pinnwand, die er ganz nach seinem Geschmack gestalten darf. Ansonsten darf im Raum nichts verändert werden.
Kann ich verstehen. Sonst müssten sie wahrscheinlich nach jedem Patienten erstmal renovieren ...
Es gibt einen Tisch mit mehreren Stühlen und einen eigenen Sanitärbereich. Der Schrank ist groß genug für all seinen Kram. Während der Pfleger Papa einiges erklärt, schiebt Uwe den kleinen Koffer einfach auf Papas Schrank drauf. Die fette rote Schleife lächelt verführerisch zu uns herab. Papa wird das sicher bald entdecken und dann auf einem kleinen Schild lesen, dass er diesen Koffer erst an Weihnachten aufmachen darf.

Der Pfleger zeigt uns auf dem Rückweg zum Ausgang noch die Gemeinschaftsküche, wo die Patienten sich mal einen Kaffee kochen und private Lebensmittel in einem eigenen Kühlschrank unterbringen können. Und schon stehen wir wieder vor dem Eingang der Klinik.
„Uwe?"
„Ja, Bruderherz?"
„... Danke! Danke, dass du mich nie aufgegeben hast. Ich werde euch an Heilig Abend ganz schrecklich vermissen. Aber ich weiß jetzt wieder, dass wir alle eine Chance miteinander haben. Vielleicht ... könnt ihr mir schreiben, damit ich Post habe, wenn die Kontaktsperre rum ist?"
„Klar machen wir das. Du sollst an Weihnachten nicht ohne unsere guten Gedanken sein. Warts ab. Das wird bestimmt anders, aber auch schön hier. Und die drei Wochen gehen schnell rum."
Er nimmt Papa in den Arm und zwinkert mir hinter seinem Rücken zu. Dann drückt Papa ihm noch eine kleine Tüte in die Hand, dreht sich um und geht ins Haus.

Die Heimfahrt verläuft sehr schweigsam. Onkel Uwe setzt mich an der Schule ab, wo ich noch Mathe und Sport mitkriege. Aber – hei, es ist der vorletzte Schultag vor den Weihnachtsferien, da passiert in Mathe nicht mehr viel, und in Sport kann ich mich nach Herzenslust auspowern. Es tut gut, beim Handball hin und her zu flitzen und diesen seltsamen Tag nach und nach abzuschütteln.

Nach der Sportstunde schaut Anni mich kurz an und setzt sich einfach auf den Mattenwagen.
Soll ich das Angebot annehmen? Sie weiß, dass dieser Tag seltsam für mich ist. Aber ist das nicht zu gefährlich?
Ich kann mich tatsächlich nicht entscheiden. Aber meine Jungs lassen sich mit dem Umziehen genauso Zeit wie ich. Und als wir als letzte aus der Umkleide kommen, schieben sie mich wortlos zur Hallentür.
„Wir lassen heute die Lerngruppe ausfallen. Es muss auch irgendwann mal gut sein. Wir sind mit allem gut in der Zeit, und jetzt sind erstmal Ferien."
Moritz zwinkert mir zu und geht mit Paul zu den Fahrrädern.

Ich schaue mich noch einmal um und gehe dann auf Socken zurück in die Halle. Ich stelle meine Schuhe neben den Mattenwagen und lasse mich neben Anni fallen.
„Schön, dass du noch Zeit hast."
Sie berührt mich kurz an der Schulter, und das tut gut.
„Du hast heute unglaublich gepowert. War es schlimm heute Morgen?"
Ich denke einen Augenblick nach.
„Nö. Schlimm in dem Sinne nicht. Aber wenn dein eigener Vater neben dir sitzt, sich an deine Hand klammert und sagt 'ich hab Angst vor dem, was kommt' – dann schluckst du schon."

„Wie kommt es eigentlich, dass ihr wieder miteinander redet?"
„In meiner Familie ist es üblich, am fünften Dezember gemeinsam alle Schuhe zu putzen. Ich hab da gesessen und plötzlich gedacht, wie einsam Papa nebenan sein muss. Darum haben Tante Jana und ich ihm am Nikolaus einen gefüllten Stiefel vor die Tür gestellt. Ein paar Tage später hat mein Onkel mir erzählt, dass Papa sich eine Einweisung in eine Klinik geholt hat. Er will jetzt wirklich an sich arbeiten, damit wir wieder eine Familie sein können. Darum habe ich ihn am letzten Freitag besucht."
Anni drückt meine Hand und hört weiter zu.

„Es war furchtbar und hoffnungsvoll zugleich. Es ist ihm so wahnsinnig schwer gefallen, von seinem eigenen Sohn Hilfe anzunehmen. Er hat dauernd versucht, seine Tränen vor mir zu verstecken, weil er sich so geschämt hat. Deshalb musste ich auch bald wieder gehen. Am Samstag war ich dann nochmal da und habe ihm geholfen, das Haus aufzuräumen. Wir haben zusammen Pizza gebacken. Das hat sich gut angefühlt. Onkel Uwe sagt, dass ich ihm damit eine Portion Kraft für die Zeit in der Klinik gegeben habe."

Die Halle verschwimmt vor meinen Augen, ich spüre wieder seinen Händedruck im Auto.
„Lass laufen, Max. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer das für euch beide gewesen sein muss. Aber du hast das gut gemacht. Du hast ihn reich beschenkt damit, dass du heute mitgekommen bist."
Eine Weile lässt Anni mich still vor mich hin weinen und streicht nur ab und zu über meinen Rücken.

„Dann ist er an Weihnachten in der Klinik und nicht bei euch?"
Ich nicke bloß.
„Das ist bestimmt auch für deine Stiefmutter schwer."
„Hmm. Und er hat drei Wochen Kontaktsperre. Alle Post bekommt er erst hinterher ausgehändigt."
„Auwei. Das ist an so einem Tag echt gemein."
Ich wische mir mit dem Ärmel die Tränen weg.
„Naja, wir haben diese Regelung überlistet. Tanja hat ihm seinen Lieblingsstollen gebacken, ich habe ihm besonders schöne Fotos von uns allen für seine Pinnwand und sogar eine Kopie vom aktuellen Ultraschallbild gemacht, Wir alle ..."

„Ultraschall? Sag bloß ... Max, wirst du großer Bruder?"
„Hab ich dir das noch gar nicht erzählt? Papa und Tanja haben jahrelang versucht, dass sie schwanger wird. Und ausgerechnet in dem Moment, wo Papa abdreht, kommt endlich das lang ersehnte Baby. Irgendwann im Mai. Bis dahin kann Papa schon lange wieder zu Hause und viel stabiler geworden sein."
„Wie schön! Und wie furchtbar muss das für Frau Frey sein!"
„Jedenfalls haben wir ihm einen kleinen Koffer mit Geschenken und guten Worten gepackt und einfach mit in sein Zimmer gestellt. Wenn er den an Heilig Abend aufmacht, dann hat er uns alle bei sich."

Anni wuschelt mir durch die Haare.
„Das habt ihr großartig gemacht. Echt cool. Das wird ihn sicher sehr freuen."
„Hm. Oder er wird die ganze Zeit weinen. Und sich dann dafür schämen."
„Max? Er wird es lernen. So wie du. Und wie ich. Und wie jeder Mensch. Tränen sind O.K."
Ich hole tief Luft und setze mich grade hin.
Bin auch grade wieder ein Springbrunnenmodell ...
"Wie sieht bei dir Weihnachten aus, Anni?"

„Ich werde morgens mit Jenny frühstücken. Dann fahre ich einfach zu meinen Eltern nach Heisingen für ein, zwei Tage. Also ganz unspektakulär. Und wie werdet ihr Weihnachten feiern?"
„Das wird spannend. Mittags darf Antoine für 24 Stunden aus der Klinik. Moritz und ich holen ihn ab. Dann ist er bei uns, und wir schlafen einfach, genauso wie Tanja, in unserem Haus, weil da ganz viel Platz ist. Antoine und Tanja, die Familie Seitz und ich werden gemeinsam zum Krippenspiel in die Kirche gehen, weil Lotta da mitspielt. Danach gibt's Kekse, Singen und Geschenke. Wir wetten immer, welche Kerze am Baum als letztes ausgeht. Staunen, welche Figuren dieses Jahr zu der Porzellanstadt dazu gekommen sind. Spielen Spiele und essen Kartoffelsalat mit Würstchen. Am 25. kommen dann Moritz, Paul, Milly und Sebastian dazu, und wir werden mit allemann bei uns drüben ein großes ausgiebiges Brunch haben, das wir Jungs vorbereiten werden. Dann bringen wir Antoine zurück nach Langenberg und fallen anschließend für drei Tage ins Verdauungskoma."

Ich mag es, wenn Anni so unbeschwert auflacht. Es klingt so frei und zufrieden.
Schön.

......................................................

3.12.2020

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro