090 ** Schutzengel ** Mi. 1.1.2020

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Fieberhaft überlege ich, was ich jetzt tun soll.
Ganz ehrlich? Die Krankenwagen sind wahrscheinlich jetzt schon alle im Einsatz, auf dem Weg zu irgendwelchen Wohnungsbränden und abgerissenen Händen. Also? Taxi!
Ich rufe sofort in der Taxizentrale an, mache klar, dass das hier ein Notfall ist, und kümmere mich wieder um Anni.
„Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich bin da."
Ich gebe ihr einen Kuss auf die eiskalte Stirn, leuchte den Boden ab und finde zum Glück sofort den Holzengel, den ich ihr geschenkt habe.
„Hier, ich hab ihn gefunden. Kannst du laufen?"
Sie schüttelt den Kopf. Die Hand ist so steif, dass sie auch den Engel nicht greifen kann, also stecke ich ihn ein.
„Gut. Oder nicht gut. Aber dann trage ich dich."

Erst gebe ich ihr ein paar Schlucke von dem immernoch warmen Tee. Dann setze ich meinen Rucksack auf, hebe sie hoch und laufe aus der Ruine. Das Taxi kommt uns kurz vor der Hauptstraße entgegen. Ich setze Anni auf die Rückbank und rutsche daneben.
„Bitte so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Ich kann nicht beurteilen, wie schwerwiegend die Erfrierungen sind."
Der Taxifahrer fragt nicht lang. Er schmeißt seine Warnblinkanlage an und gibt Gas.
„Das nächste von hier aus dürfte das Huyssen-Stift sein. Ich fahre sie da hin."
Er rast Richtung Stadtwaldplatz und dann runter Richtung Rüttenscheid. Auf der Müller-Breslau-Straße gibt er nochmal so richtig Gas und fährt einfach direkt bei der Notaufnahme vor. Ich habe derweil die zitternde, weinende Anni im Arm und rede beruhigend auf sie ein.

„Ich will kein Geld, Hautsache, dem Mädel geht's gut. Aber hier ist meine Karte. Bitte melden Sie sich bei mir. Ich bin über ein paar rote Ampeln geschossen und brauche Sie als Zeugen."
„1000 Dank! Ja, mach ich."
Ich ziehe Anni zu mir ran und nehme sie wieder auf die Arme. Ich renne an mehreren Krankenwagen, die offensichtlich schon im Einsatz waren, vorbei, ins Gebäude rein und auf den nächstbesten weißen Kittel zu.

„Ich habe diese Frau im Wald gefunden. Sie hat offensichtlich Erfrierungen, denn sie konnte nicht mehr stehen und auch nicht ihr Handy halten."
Der weiße Kittel setzt sich ruckartig in Bewegung, ich einfach hinterher. Unter kaltem Neonlicht, durch kahle Flure, vorbei an vielen geschlossenen Türen, in ein Behandlungszimmer.
„Legen Sie sie da hin. Hat sie getrunken?"
„Mit Sicherheit nicht!"
Der Arzt riecht trotzdem, ob Anni eine Fahne hat, und schält sie dann aus dem Schlafsack.
„Helfen Sie mir bei den Schuhen? Wir müssen sehr vorsichtig sein, falls das Erfrierungen dritten Grades sind."
Die Boots haben zum Glück tiefe Schnürungen. So können wir sie ganz weit aufmachen und Annis Füße vorsichtig rausdrehen. Der Arzt zieht ihr auch die Socken aus und seufzt erleichtert auf.
„Gott sei Dank. Da beginnen sich Bläschen und Ödeme zu bilden, aber die Füße sind nicht verfärbt, und ich kann einen schwachen Puls fühlen. Also ist noch nichts verloren."

Irgendjemand reißt die Tür auf, registriert, dass der Raum belegt ist, und rennt mit einem anderen Notfall weiter. Ich schließe die Tür wieder. Wir kontrollieren gemeinsam auch die Hände und den Kopf. Es scheint so, als wäre alles noch zu retten.
„Wie gut, dass sie rechtzeitig reagiert haben und sofort hierher gekommen sind. Es scheint, dass Sie die Frau kennen?"
„Ja. Sie ist ..."
Halt die Klappe!
„... eine Bekannte. Aber ich wusste nicht, dass sie auch zur Isenburg wollte heute Nacht. Ich hab mich ja ausgerüstet mit Schlafsack und so. Und so eine Unvorsichtigkeit sieht ihr auch gar nicht ähnlich. Wahrscheinlich war das eine spontane Entscheidung, und sie hat die Gefahr einfach nicht gespürt."
„Können Sie abschätzen, wie lange sie in der Kälte war?"
„Ich war etwa um 23.25 dort, und sie muss schon da gewesen sein, denn sonst hätte sie an mir vorbeigehen müssen."
„Das ist eine sehr lange Zeit. Hoffentlich gibt es nicht noch in den nächsten Tagen Komplikationen. Wir behalten sie auf jeden Fall hier."

Während ich den Arzt mit den nötigen Informationen versorge, kontrolliert er Blutdruck, Puls und Körpertemperatur und legt vorsichtig warme Tücher auf die Extremitäten. Anni wimmert und streckt ihren Arm nach mir aus. Ich ziehe mir einen Stuhl ran, setze mich neben ihren Kopf und nehme sie irgendwie in die Arme.
„Schschsch. Hab keine Angst, du schaffst das! Und ich gehe nicht weg, bis es dir wieder gut geht. Versprochen!"
Der Arzt zieht ihr nun auch den Mantel aus und legt Anni richtig auf die Liege. Dann deckt er sie mit mehreren Decken zu, damit sie langsam auftauen kann. Immer wieder kontrolliert er, ob sich die Hände oder Füße verfärben.

„Könnten Sie mir das Formular ausfüllen, damit wir die Personalien festhalten können?"
„Anni, hast du deinen Perso oder deine Krankenkassenkarte dabei?"
Anni nickt. Sie scheint Schmerzen zu haben.
„Mantel."
Ich durchsuche die Taschen des Mantels und reiche dann dem Arzt die Karten aus der Brieftasche. Der dreht sich zum Computer und gibt Annis Daten ein.

„Engel!"
Der Engel. Wo hab ich den in der Hektik vorhin bloß hingetan???
Ich taste meinen Skianzug ab und fühle etwas Hartes. Zum Glück ist es der Engel.
„Kannst du den wieder halten?"
Ich lege ihr den Engel in die Hand und schließe ihre Finger darum.
„Hier. Heute war er dein Schutzengel. Wäre er dir nicht runtergefallen, dann hätte ich nicht kurz das Licht von deinem Handy gesehen und dich vielleicht gar nicht bemerkt."

Anni laufen ununterbrochen Tränen übers Gesicht.
„Herr Doktor, es sieht aus, als ob sie große Schmerzen hat. Woher kommt das?"
Sie klammert sich an den Engel und starrt mir angstvoll ins Gesicht. Der Arzt wendet sich wieder zu uns.
„Zum einen werden ihre Glieder jetzt allmählich wieder besser durchblutet, und das tut leider richtig weh. So wie, wenn einem die Füße eingeschlafen waren und wieder aufwachen, nur doller. Und außerdem hat sie wahrscheinlich die Angst noch in den Knochen, denn der Moment, wo man begreift, dass man sich nicht mehr selbst helfen kann, ist ein schrecklicher Moment. Ich könnte ihr jetzt mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln helfen. Aber eigentlich hätte ich sie gerne noch eine Weile wach, damit ich ihre Reaktionen kontrollieren kann."

„Bleiben wir in diesem Raum, oder wird sie gleich auf ein Zimmer verlegt?"
„Darum kümmere ich mich als nächstes. Bitte schauen Sie in der Zeit immermal nach Verfärbungen. Das würde bedeuten, dass das Gewebe abstirbt, und dann müssten wir operieren. Ich bin gleich wieder da."
Anni reißt ihre Augen schreckensweit auf und schluchzt.

Ich hocke mich direkt vor ihrem Kopf auf den Boden und schaue ihr in die verweinten grünen Augen.
„Anni, ich bin da. Noch ist nichts verfärbt. Ich habe das Gefühl, dass dieser Arzt genau weiß, was er tut. Wir können ihm vertrauen."
Zaghaft nickt sie.
„Und ..."
Ich lächele sie an.
„... Ich liebe dich. Ich möchte weiter von dir unterrichtet werden. Ich möchte, dass du mir die Prüfungen abnimmst. Du sollst vor lauter Freude auf und ab hüpfen, wenn wir alle die Aufnahmeprüfung an der Folkwang geschafft haben. Und du sollst beim Abiball mit mir tanzen. Versprichst du mir das?"

Ich streichele ihr Gesicht mit meinen warmen Händen und schiebe ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Anni nickt wieder und schenkt mir ein winziges Lächeln. Dann verzieht sich erneut ihr Gesicht, die nächste Schmerzwelle rollt wohl heran. Ich nehme ihr Gesicht zwischen meine Hände und küsse sie ganz sanft auf die zugekniffenen Augen, auf die nicht mehr ganz so tiefgekühlte Nasenspitze und auf ihre nun nicht mehr blau gefrorenen Lippen.
„Ich liebe dich! Und ich bin da. Soll ich den Arzt bitten, dir wenigstens ein Schmerzmittel zu geben, wenn er wieder kommt?"
Anni beißt die Zähne zusammen.
„Hmm."
„Gut. Denn so kannst du ja gar nicht schlafen."

Kurz darauf kommt der Arzt wieder rein, in seiner Begleitung ist eine Krankenschwester mit einem Bett. Ich hebe Anni rüber und packe all unser Gepäck auf das Fußende.
„Ich bin übrigens Dr. Rojek. Und danke ich Ihnen für Ihre Geistesgegenwart. Wir bringen sie jetzt auf Station, wo sie weiter beobachtet wird."
Anni greift sofort nach meiner Hand und klammert sich fest.
„War das grade eine Verabschiedung? Ich möchte nicht gehen. Ich möchte bei ihr bleiben. Sie hat Angst, sie braucht mich jetzt bei sich."

Dr. Rojek zögert einen Moment.
„Das ... ist eigentlich nicht vorgesehen ..."
„Wissen sie was? Das ist mir ziemlich egal. Ich werde bei Frau Süß bleiben. Ob sie mir ein Bett dazustellen oder nicht, ist mir auch egal. Aber mich kriegen keine zehn Pferde von ihrer Seite."
„Eine Bekannte. Soso. - Na, dann kommen Sie mit."

Der Arzt drückt mir Annis Akte in die Hand, und die Schwester schiebt das Bett zum nächsten Aufzug. Wieder diese sterilen Flure und schwingenden Glastüren. Draußen fährt mit lautem Tatütata ein Krankenwagen weg. Wir fahren drei Etagen höher, wo wir in ein Zimmer gebracht werden. Der Arzt macht eine kurze Übergabe an den diensthabenden Arzt, informiert ihn, dass ich da bleiben will, weil die Patientin dies so wünscht, und verabschiedet sich dann endgültig. Ich ziehe mir wieder einen Stuhl ran und bleibe einfach direkt bei ihr, während Anni erneut untersucht wird. Der neue Arzt legt einen Zugang an der Hand und bittet die Schwester um etwas. Die läuft los.

„Ich bin Dr. Wenzel. Und ich werde Sie jetzt erlösen, Frau Süß. Die Durchblutung verbessert sich zusehends, und die Ödeme und Bläschen werden nicht größer. Ich werde häufig zur Kontrolle kommen. Aber da Sie wieder überall Gefühl drin haben, kann ich Ihnen jetzt ein Schmerzmittel geben. Dann wird es auch erträglicher."
Die Schwester kommt wieder und gibt dem Arzt eine Infusion, die der sofort an Annis Zugang hängt. Kurz darauf kommt die Schwester wieder mit einem schmaleren Bett für mich, das sie neben Annis Bett schiebt.
„So. Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie beide nach dem Schreck und der Aufregung schlafen können. Ich versuche, Sie nicht zu wecken, wenn ich zur Kontrolle komme oder eine neue Infusion dranhänge. Gute Nacht!"

Es dauert noch ein paar Minuten, bevor ich realisiere, was da eigentlich grade alles passiert ist, und es läuft mir kalt den Rücken runter.
Anni wäre erfroren, wenn ich nicht da gewesen wäre!
Apropos kalt – ich ziehe endlich all die vielen warmen Sachen aus, denn im Gegensatz zu Anni schwitze ich wie in der Sahara. Ich schiebe mein Bett direkt an ihres und lege mich neben sie.
„Wird es schon besser?"
Sie schüttelt den Kopf.
„Max? Kannst du mich bitte in die Arme nehmen und nie wieder loslassen?"
Also krabbele ich einfach rüber zu Anni und lege von hinten meine Arme um sie.
„Alles, was du willst, mein Herz. Hauptsache, es geht dir dann besser."

Es wird still im Zimmer. Es leuchtet nur die Notbeleuchtung an der Tür, und erst jetzt allmählich entspannt sich Anni.
„Wirkt es?"
„Hm."
„Das ist gut! Dann versuch, bald zu schlafen. Ich pass auf dich auf."
In dem Augenblick beginnt mein Handy hektisch zu brummen. Ich taste hinter mir danach und schaue aufs Display.
„Ach, sch... Die habe ich ja ganz vergessen!"
„Was denn?"
„Paul. Die machen sich wahrscheinlich Sorgen, wo ich bleibe. Ich schreib denen grade mal."

Ich tippe eine etwas längere Nachricht und erkläre, was passiert ist. Telefonieren will ich jetzt nicht. Ich will nicht, dass Anni zuhört, wenn ich laut sage:"Anni wäre sonst erfroren."

Das wird sie noch früh genug realisieren ...
Sofort kommen entsprechend entsetzte Reaktionen zurück. Sie sind heilfroh, dass mir nichts passiert ist und dass ich für Anni rechtzeitig zur Stelle war. Wir verabschieden uns bis morgen. Ich lege wieder meine Arme um Anni, und nach einer Weile wird endlich ihr Atem regelmäßig. Sie ist eingeschlafen.

Wieder beginnen meine Gedanken zu rasen.
Wenn Anni heute Nacht an der Isenburg gestorben wäre, wäre ich das schlechte Gewissen mein ganzes Leben lang nicht mehr losgeworden, denn ich war es, der im letzten halben Jahr ihr Leben so auf den Kopf gestellt hat. Dann hätte ich mich gleich auf Antoines Bett in Langenberg bewerben können, sobald der da fertig ist.
Aber der Engel ... war heute wirklich ihr Schutzengel! Der wird runtergefallen sein, weil ihre steifen Hände ihn nicht mehr halten konnten. Sie wird aufgestanden sein, weil sie den Engel suchen wollte, und gleich umgeknickt sein. Und ihr Handy hat wegen der Kälte die Grätsche gemacht.
Ich habe ja wirklich nur den kleinen Moment hingeschaut, wo das Licht aufgeblitzt ist. Das war ihre Rettung.

Mann, muss die durch den Wind gewesen sein. Wieso ist sie frühzeitig bei ihren Eltern weg? Wieso ist sie nicht einfach nach Hause gefahren? Wieso hat diese Survival-Fachfrau sich mit normalen Winterklamotten in diese Eiseskälte begeben???
Das Tückische bei Erfrierungen ist ja, dass der Körper, um sich zu schützen, alles Blut aus den Extremitäten und eben auch aus dem Kopf in die Körpermitte zieht, um die Organe, die Grundfunktionen am Leben zu halten. Dann kann man nicht mehr klar denken und kriegt den Rest einfach überhaupt nicht mehr mit. Zumal, wenn man einfach still dasitzt, wie Anni es getan haben muss.
Aber warum hat sie sich das nicht schon vorher klar gemacht? Das passt überhaupt nicht zu ihr. Irgendwas muss da am Abend schief gelaufen sein, dass sie so kopflos reagiert hat. Ach, meine arme Anni. Hoffentlich kehrt bei dir bald wieder Ruhe ein!

Den ersten Kontrollbesuch von Dr. Wenzel kriege ich noch mit. Er stutzt, als er uns zusammen im Bett sieht, sagt aber nichts dazu sondern schaut sich nur Hände und Füße an und reibt vorsichtig eine Salbe darauf. Dann schlafe auch ich endlich ein nach dieser furchtbaren, langen Nacht.

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14.12.2020

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