089 ** Silvester ** Di. 31.12.2019

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Jenny hat sich in den letzten beiden Tagen viel Zeit genommen für mich. Wir haben wohl über Büchern und Klausuren gehangen. Aber wir waren auch bummeln im Grugapark und Glühweintrinken auf der Rü. Es ist noch kälter geworden, sternklare Nachthimmel wölben sich über uns, und das soll auch heute Abend so sein. Ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal in Essen so einen kalten Winter gegeben hat.
1593 in der kleinen Eiszeit???

Jetzt frühstücken wir ausführlich, bevor Jenny von Lennart abgeholt wird für ihren romantischen Kurztripp nach Köln. Ich nehme sie fest in die Arme.
„Genieß es! Das ist ein Befehl. Denk nicht an mich. Versprichst du mir das? Ich hab Rocher da, ich kann mir also ganz harmlos die Kugel geben, und bei meinen Eltern wird es auch sehr schön sein. Wir sehen uns am Freitag wieder."
Lennart klingelt zum zweiten Mal, Jenny schnappt sich ihr Gepäck und flitzt mit einem Strahlen die Treppe runter.

Allein. Mit meinen Gedanken, meinen Ängsten – und mit meiner süßen Hoffnung. Ich denke gar nicht nach, ich schreibe Max eine Nachricht.
„Hei, ich wünsche Euch heute Abend eine fröhliche Party! Sehen wir uns am Donnerstag?"
Die Antwort kommt gespenstisch schnell.
„Ja, gerne. Und jetzt musst Du mir bitte sofort sagen, was Du da am Freitag einfach nicht losgeworden bist. Ich will es wissen, denn Du klangst so ernst dabei, das lässt mir keine Ruhe. Hast Du Dich nicht getraut? Oder war es nicht wichtig?"
„Nicht heute. Am Donnerstag dann. Komm gut rüber!"
Ich bin so ein bekloppter Feigling! Warum??? Das war DIE Gelegenheit. Naja – Donnerstag ...
Und irgendwie bin ich sauglücklich, dass er es gemerkt hat und nicht locker lässt.
Er wird zuhören.
Ich will das nur nicht per Texting klären.

Ich bin erst zum späten Nachmittag bei meinen Eltern angekündigt, also setze ich mich nochmal an den Schreibtisch und korrigiere die Matheklausuren der zehnten Klasse zu Ende. Ich hab es gerne, dass ich Arbeit nicht immer weiterschleppe. Und darum will ich die noch dieses Jahr weg haben. Dann kann ich im neuen Jahr anfangen, mich auf die Sonderschule vorzubereiten.

Um 16.00 Uhr bin ich damit fertig und lege den Stapel weg. Es ist inzwischen schon ziemlich dämmrig draußen, und es sind vereinzelte Bumm's und Paff's zu hören – von den Leuten, die die Uhr nicht lesen können ... Ich mache mich startklar für Heisingen. Damit mir an der Haltestelle beim Warten nicht die Zehen abfrieren, ziehe ich meine dicken Boots an, meinen langen Wintermantel und vermumme mich ordentlich.
Keinen Bock auf kalte Ohren.
Und wie immer in den letzten Tagen wandert mein hölzerner Schutzengel in meine Manteltasche. Eine halbe Stunde später husche ich bei meinen Eltern wieder ins Warme.

„Hallo Mama, hallo Papa. Ich bin daaaaa. Ich habe es tatsächlich geschafft, nicht an der Bushaltestelle festzufrieren. Brrrrr – ist das kalt draußen!"
Meine Mutter schaut aus der Wohnzimmertür.
„Naja, vielleicht halten die Leute es dann beim Ballern nicht so lange draußen aus, und die armen Vögel müssen nicht so lang leiden."
„Komm erstmal richtig rein, Mädchen."
Mein Vater nimmt mich fest in die Arme und wickelt mich in „Omas berühmte Häkelsofadecke". Dann fängt er an, mich zu kitzeln, und weil er mein Vater ist, kennt er natürlich meine schlimmste Schwachstelle. Ich fange an, zu kichern und mich zu winden, bis ich es schaffe, aus der Decke zu schlüpfen. Aber immerhin ist mir jetzt nicht mehr kalt, das Toben hat geholfen.

Inzwischen freue ich mich tatsächlich auf einen entspannten Silvesterabend voller urdeutscher Traditionen wie Fondue essen, „Dinner for one" glotzen, eine gute Flasche Wein trinken und Co. Für heute sind auch nochmal Kerzen an den Weihnachtsbaum gesteckt worden, denen wir eine Weile einfach zusehen. Es ist ein stiller, heimeliger, ganz familiärer Abend, und das fühlt sich genau richtig an. Irgendwann werden wir alle müde. Kurz vor 23.00 Uhr dann stelle ich fest, dass ich meine Übernachtungstasche zu Hause hab stehen lassen. Kurz überlegen wir hin und her. Und schließlich kommen wir zu dem Ergebnis, dass der Abend schön war – und ich mir jetzt einfach ein Taxi rufe und wieder nach Hause fahre.

Ich arbeite mich wieder in meine vielen Kleidungsschichten, umarme meine Eltern herzlich und gehe schonmal nach draußen. Das Taxi kommt auch gleich.
„Einmal nach Rüttenscheid bitte."
Der Mann wendet und fährt die Lelei wieder hoch. Ich bin müde, ich bin einfach still. In diesem Jahr ist so viel passiert, dass man drei Jahre draus machen könnte. Als wir grade durch den Wald fahren, gehorche ich einer Eingebung und bitte den Fahrer, mich zur „Schwarzen Lene" zu bringen. Ich bezahle die kurze Fahrt und laufe einfach los. Zur Isenburg.

Die Vorstellung, gleich mitten in Rüttenscheid das Geballere von tausenden von Leuten aushalten zu müssen, geht auf einmal gar nicht mehr.
Ich will Ruhe. Einfach meine Ruhe. Nicht nett sein müssen. Nicht fröhlich sein müssen. Nicht gesellig sein müssen. Raus. Weg. Es reicht.
Ich laufe durch die immer zugängliche Ruine, bis ich ganz hinten im Pallas ankomme.
Da waren doch diese drei Fensternieschen mit den Steinbänken ... Ich muss nur aufpassen, dass mir nicht zu kalt wird, es ist noch eine Weile hin bis Mitternacht.
Ich leuchte mir mit meinem Handy den Weg, ziehe meinen Mantel fester um mich und setze mich in die vorderste Loge, mit Blick auf den See. Nur die Nacht, der See und mein Sehnen nach Max.
Erwarte ich zuviel? Oder andersrum – sollte ich endlich mal wieder was vom Leben erwarten?
Bald bin ich tief in meinen Gedanken versunken und höre und spüre nichts mehr um mich drumrum.


Extratour

Um kurz vor 23.00 Uhr verabschiede ich mich von den anderen und gehe in Papas Arbeitszimmer, wo ich alles für meine nächtliche „Flucht" zurecht gelegt habe. Ich ziehe die Thermoklamotten und den Skianzug an, die ich mir von anderen zusammengeliehen habe, greife mir meinen Rucksack mit Tee und einer ganzen Ladung Taschenwärmern, stecke mein Handy so ein, dass es direkt am Körper ist und mir nicht durch die Kälte abschmiert, klemme mir meinen Schlafsack unter den Arm und gehe los. Ich rufe mir ein Taxi, weil die Öffentlichen ja jetzt nicht mehr fahren, und lasse mich zur Isenburg bringen. Direkt, nachdem ich ausgestiegen bin, steige ich in meinen Schlafsack, mache den Reißverschluss von unten auf und laufe so in die Ruine rein. Möglichst wenig Körperwärme verlieren, es ist echt schweinekalt heute Nacht.

Ich setze mich im Palas gleich in die erste Fensternische, weil da die Mauern noch am höchsten erhalten sind. Da bin ich nicht so seeeeehr der Kälte ausgesetzt. Ich versenke ein paar der Taschenwärmer im nun auch unten geschlossenen Schlafsack, ziehe mir meine Sturmhaube aus Flies bis über die Nasenspitze hoch, ziehe das Kopfteil vom Schlafsack um meinem Kopf zu und lehne mich zurück. Noch ist kein Laut zu hören. Die Vögel schlafen, Wind ist kaum vorhanden und auch über dem See ist es noch völlig dunkel. Ich habe inzwischen begriffen, dass es auch auf dem See Lichterspektakel geben wird. Aber ich hoffe einfach, dass bis hier oben nichts davon zu hören ist.

Und dann entspanne ich mich und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ein Jahr voller „alles oder nichts", voller Glück und Hoffnungslosigkeit. Habe ich mich in dieser Zeit eher verloren? Oder eher gefunden? Ich habe jedenfalls Anni gefunden – und meinen Berufswunsch. Ja, ich will tanzen. Ich will Tanz studieren. Aber dann will ich nicht auf die Bühne. Ich will Tanztherapeut werden, weil das einfach unglaublich spannend ist, was nonverbale Ausdrucksformen möglich machen.
Unsere Seele äußert sich nicht über den Verstand. Sie äußert sich über Mimik und Gestik, über Haltung und Spannung, über unsere Hände und Füße, über künstlerisches Schaffen, Bewegung und Musik. Wenn wir diese Ausdrücke dann von außen betrachten, ist es, als liege die Seele blank und redete mit uns. Und sie will gehört werden. DAS ist mein Weg.

Vereinzelte Raketen verirren sich schon jetzt in den Nachthimmel über Kupferdreh, Fischlaken und Werden. Es irrlichtert beim Haus Scheppen auf der anderen Seeseite. Da wird also auch gefeiert. Und irgendwie sieht es aus, als seien die Lichter nicht mehr am Ufer. Wer weiß – nach zwei Wochen Knackekälte könnte ja sogar der See zugefroren sein, oder? Zumindest in Ufernähe. Also, mir wär das trotzdem zu gefährlich. Wer in der Brühe verschwindet, taucht nie wieder auf.

Hier oben ist weiter alles still. Der Freitag war so ein wunderbarer Tag, so viel ungestörte, unbeobachtete Zeit mit Anni – das war einfach toll! Nur der Schluss ...
Wir haben ja für Donnerstag noch gar nichts Konkretes verabredet, aber ich werde sie von wo auch immer nicht gehen lassen, bevor sie mir gesagt hat, was sie so ernst und bedrückt gemacht hat. Es wirkte fast, als müsse sie mir was beichten. Aber was denn bloß??? Das ist doch Quatsch! Oder? Hat es was mit mir zu tun? Hat sie vielleicht Angst, dass ich mal wieder blöd reagiere? Was auch immer – in DIE Falle will ich nicht nochmal tappen! Ich will, dass sie mir vertrauen kann. Dass sie mir alles anvertrauen kann.

Ich schließe für einen Moment die Augen und horche in mich hinein. Anni. An meiner Seite. Ich sehe uns an einem Strand spazieren, durch die Wellen toben, Muscheln sammeln. Unbeschwert und frei. Aber dann rufe ich mich zurück in die Gegenwart. Meine Taschenwärmer halten nicht ewig warm. Wenn ich hier jetzt einschlafe, wache ich vielleicht nicht wieder auf.

Unten auf dem See taucht nun ein Boot der Weißen Flotte auf. Ich sehe mehrere Menschen, die übers große Deck wuseln.
Wahrscheinlich richten die jetzt das Feuerwerk ...
Dann kann es nicht mehr lang sein bis zum Jahreswechsel. Ich warte entspannt auf Mitternacht. 24 Stunden lang – einmal rund um den Erdball – zählen heute Menschen rückwärts, lassen die Sektkorken und danach die Böller knallen und begrüßen das neue Jahr.
Will ich mir was vornehmen? Ich will ... Ich wünsche mir ein passables Abitur, einen Studienplatz, am besten zusammen mit Moritz und Paul. Ich wünsche mir, dass mein Vater stabil und zuversichtlich in ein neues Leben ohne Angst starten darf. Und Antoine auch. Ich wünsche mir ein gesundes Geschwisterchen und eine Versöhnung zwischen Tanja und Papa. Und ich wünsche mir Anni an meiner Seite. Ist das zuviel verlangt, Gott? Oder gönnst du mir und diesen lieben Menschen um mich drumrum so viel Glück?

Plötzlich gehen überall am Horizont, überall rund um den See und auf den Höhen die Raketen hoch. Ich höre von sehr weit weg Glocken läuten. Der klare Himmel wird erfüllt von Farben, und ich genieße unendlich diesen zauberhaften Anblick.

Da höre ich auf einmal einen schmerzvollen Aufschrei. Und zwar ...
Hä? Das war doch nur wenige Meter entfernt!
Ganz kurz leuchtet vor mir ein Handy auf und wird sofort wieder dunkel.
Da stimmt doch was nicht!
Ich öffne meinen Schlafsack unten, packe alle meine Sachen in meinen Rucksack und mache mich auf die Suche.
Das kam von direkt vor mir.
Ich trete aus der Fensternische und leuchte mit meinem Handy in die nächste hinein. Nichts.
Und das hätte ich doch auch merken müssen, wenn da jemand gewesen wäre.
Aber da ist wieder dieses Wimmern. Und Worte.
„M... Engel!"

Das ist doch ... Ich beschleunige meine Schritte und leuchte in die dritte Nische. Da liegt jemand auf dem Boden und tastet um sich.
„Kann ich Ihnen helfen? Suchen sie etwas? Kommen Sie, Sie müssen aufstehen, sonst erfrieren Sie noch!"
Die Person wendet sich mir zu und versucht, mit klappernden Zähnen, etwas zu sagen.
„Ich ... hab ... Engel ... Engel fallen lassen. Handy leer. Kein ... Kein Gefühl ... in m.m.meinen F.F.üßen und ... Hä..."

Ich kann hören, dass das eine Frau ist. Und dass sie dringend Hilfe braucht. Denn sie muss schon länger hier sein als ich, sonst hätte ich wahrgenommen, wie sie an mir vorbei gegangen ist. Schnell mache ich die letzten Schritte auf sie zu, lehne mein leuchtendes Handy an einen Stein und beuge mich zu ihr runter.
Oh Gott!

„Anni!"
„M.Max?"
„Du bist ja total durchgefroren. Was um Himmels Willen machst du hier in der Kälte ohne Schutz!?!"
Ich arbeite mich aus meinem Schlafsack und rolle sie hinein. Reißverschluss schnell zu, damit sie noch was von meiner Wärme abkriegt. Dann setze ich sie auf die Bank. Sie kann sich kaum aufrecht halten.
„M.Mein ... Engel!"
„Was ist damit?"
„Runtergef..."

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13.12.2020

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