093 ** Zweisamkeit ** Do. 2.1.2020

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Ich weiß nicht, ob ich beruhigt oder beunruhigt sein soll nach Annis Geständnis gestern Abend. Es ist schlimm, dass sie das Bedürfnis hatte, Abstand zu mir zu bekommen. Es ist toll, dass sie den Wechsel auf sich nehmen wollte, um uns beide zu schützen. Es ist sehr schlimm, dass sie so eine Angst hatte, mir das zu sagen – wer weiß, was sie an Reaktion von mir erwartet hat??? Es fühlt sich gut an, dass sie mir jetzt wohl doch wieder vertraut. Ich habe so Angst, dass da doch bleibende Schäden sind und sie in Zukunft vielleicht nicht mehr klettern und wandern kann, weil ihre Füße das nicht mehr mitmachen. Es ist ein Geschenk des Himmels, dass wir wieder ein Paar sind und an einem Strang ziehen. Es ist ganz schwer auszuhalten, dass ich nicht weiß, was die alte Last auf ihrer Seele ist. Und es ist – ganz weit hinten im Kopf und im Herzen – die Vorfreude auf den Tag, an dem wir uns nicht mehr verstecken müssen.

Auf dem Weg zum Huyssenstift kaufe ich Anni einen kleinen bunten Blumenstrauß – OHNE rote Rosen, die kann ich mir grade noch verkneifen. Vormittags ist hier auf den Fluren deutlich mehr los als nachts, aber der große Silvester-Ansturm scheint abgearbeitet zu sein. Ich nehme das Personal deutlich gelassener wahr. Und ich frage mich langsam, ob dieser Arzt auch irgendwann mal Pause macht, denn Dr. Wenzel kommt mir schon wieder grinsend entgegen.

„Guten Morgen! Die Physiotherapeutin ist grade bei ihr und übt mit ihr Laufen."
„Hei, cool. Soll ich draußen warten, oder meinen Sie, dass ich zusehen darf?"
„Das müssen Sie Frau Süß fragen."
Kein Problem!

Ich klopfe an Annis Tür und höre ein „Nein." und ein „Ja." Dann eine kurze Diskussion. Dann noch ein „Ja."
Hihi, Anni hat sich durchgesetzt.
Ich öffne die Tür und schaue direkt einer etwas älteren Frau in das genervte Gesicht.
„Machen Sie's bitte kurz, damit wir weiterarbeiten können. Mein Terminplan ist nicht aus Gummi."

Anni sieht total angestrengt und sauer aus.
„Jetzt passen Sie mal auf. ICH bin es, die wieder laufen lernen will. Also werde ich mich schon darauf konzentrieren. Und ein Bekannter, der mich später an die Übungen erinnern kann, weil er zugesehen hat, wird dabei Ihren Dienstplan schon nicht sprengen. Ich erbitte mir etwas mehr Höflichkeit gegenüber meinen Gästen."
Die Schnepfe kneift den Mund zusammen und dreht sich beleidigt um.
„Ach – und das ist übrigens mein Lebensretter."

Ich setze mich einfach auf den nächsten Stuhl und schaue zu, was für Übungen Anni machen muss, um bald wieder laufen zu können. Dann geht sie tatsächlich ein paar Schritte am Arm der Physiotherapeutin, aber ich sehe ihrem Gesicht an, dass ihr das höllisch weh tut. Nach einer halben Stunde krabbelt Anni total erschöpft zurück in ihr Bett, und die Physio packt ihre Unterlagen zusammen.
„Sie sollten in Zukunft etwas mehr Sport machen. Dann passiert sowas nicht so schnell."
Anni und ich schauen uns an – und brechen in schallendes Gelächter aus. Die Schnepfe flüchtet aus dem Raum.
„Ich fress'n Besen, wenn da beim nächsten Mal nicht jemand anderes in meiner Zimmertür steht. Die seh ich hoffentlich nie wieder. Himmel, was ein sauertöpfisches Weib!"

Lächelnd gehe ich auf Anni zu.
„Und ich bin total stolz auf dich. Ich habe gesehen, wie sehr dir das weh getan hat. Aber du bleibst echt am Ball. Bravo!"
Ich gebe ihr ein paar Küsschen rechts und links und „verrutsche" dann „aus Versehen" zum Mund. Dann fällt mein Blick auf ihre Hand.
„Hei, der Zugang ist raus. Es geht also wieder ohne Dauerschmerzmittel?"
„Ja, und da bin ich echt froh. Das hat beim Schlafen total gestört."

Leider klopft es schon wieder. Aber dann taucht der nette Arzt auf.
„Ich gehe davon aus, dass der junge Mann drin bleibt?"
Anni nickt nur grinsend und wendet sich Dr. Wenzel zu.
„Ich komme deswegen direkt nach der Physiotherapie, weil ich gerne hören möchte, ob, und wenn ja, genau wo ihre Füße weh getan haben. Ihren Kopf und Ihre Hände scheinen Sie deutlich besser geschützt zu haben, da ist alles in Ordnung. Aber punktuelle Schmerzen in den Füßen könnten auf beschädigtes Gewebe hin deuten. Und das würde ich mir dann gerne genauer ansehen."
Anni zieht ihre Füße zu sich ran und konzentriert sich. Sie drückt selbst ganz gezielt auf bestimmte Stellen an den Fußsohlen, den Seiten und den Zehen. Die Schwellungen sind zurückgegangen, aber nicht ganz verschwunden. Die kleinen Blasen haben sich im Wesentlichen zurückgebildet.
„Den Zeh konnte ich vorhin nicht richtig belasten. Den linken Fuß konnte ich nicht richtig abrollen, weil es hier weh getan hat. Und da an der Sohle fühle ich weniger als am Rest des Fußes."

Ich höre weiter genau zu, und der Arzt untersucht sehr sorgfältig die angegebenen Stellen.
„Dann komme ich nachher mal mit einem Ultraschallgerät vorbei und sehe mir das 'von innen' an."
Er macht sich ein paar Notizen in Annis Akte und verabschiedet sich dann wieder.

„Das hat mich eben schon sehr nervös gemacht beim Laufen, aber die denken hier offensichtlich gut nach. Das beruhigt mich."
Ich hocke mich auf ihre Bettkante, und sie lehnt sich mit dem Kopf gegen meine Schulter.
„Ich hab nochmal über gestern Abend nachgedacht."
Ich lächele und lege meinen Arm um sie.
„Ich auch. Du zuerst?"
Sie nickt. Zögert. Und schaut mich dann direkt an.
„Entschuldige bitte, dass ich so misstrauisch war. Dass ich so eine Angst vor deiner Reaktion hatte und deshalb so ein Theater gemacht habe. Ich ..."

„Uuuuund stop! Erstens habe ich dir letztes Jahr genug Anlass gegeben, mit einer anderen Reaktion zu rechnen. Zweitens hatte ich ein paar Tage Zeit, um über deine Angst nachzudenken und mich darauf vorzubereiten, dass ich richtig reagiere. Und drittens sind 'Angst haben' und 'Theater machen' ja nun zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Ich hab auch drüber nachgedacht. Und deine Angst war schwer zu verdauen. Aber letzten Endes war genau das der Grund, warum du an Nikolaus gesagt hast, dass du noch Zeit brauchst. Das Vertrauen musste erst wieder wachsen. Damit, dass du über deinen Schatten gesprungen bist, hast du mich neu mit deinem Vertrauen beschenkt."

Wir sitzen nebeneinander und kuscheln eine Weile – einfach spüren, dass die andere da ist.
„Boah, Mann! Ich klebe dermaßen. Ich würde so gerne duschen. Aber irgendwie sind die auf DEM Ohr taub hier."
„Gibt es denn einen medizinischen Grund dafür, dass du nicht duschen darfst. Sowas wie Kreislauf oder zu große Temperaturschwankungen oder so?"
„Nicht, dass ich wüsste."
„Gut, dann geh ich eben nachfragen."
Anni strahlt mich an, als wäre ich der Weihnachtshase.
„Tausend Dank, Max!"

Ich mache mich auf den Weg zum Schwesternzimmer und klopfe. Die Schwester, die in der Neujahrsnacht auch das Bett geschoben hatte, kommt raus und sieht mich fragend an.
„Was kann ich für Sie tun?"
„Ich bin bei Frau Süß zu Besuch, und sie sagte, dass sie wahnsinnig gerne mal duschen würde. Und jetzt wollte ich wissen, ob es ein medizinisches Hindernis dafür gibt. Denn wenn nicht – dann kann ich ihr ja helfen. Ich mein' - sie ins Bad tragen, damit sie nicht unbeaufsichtigt laufen muss."
Max, was machst du??? Sieh zu, dass du das wieder klar kriegst!
„Darf ... ich Sie fragen, ... ich meine ... Sie haben Frau Süß ja schon hierher gebracht ..."
Sie lässt ihre eigentliche Frage in der Luft hängen und gibt mir so die Gelegenheit, ihr auszuweichen.
„Wir kennen uns, weil sie meine Lehrerin ist. Ich habe sie hergebracht, weil das für mich eine Selbstverständlichkeit war. Ich besuche sie heute, weil wir besprechen müssen, wie es mit meiner Mathe-Nachhilfe weitergeht, so lange sie im Krankenhaus ist. Und ich trage sie in voller Montur ins Bad, setze sie auf die Toilette und lasse sie dann alleine, bis sie mich ruft. Passt das in Ihr Weltbild?"

Keine Ahnung, warum ich so scharf-ironisch reagiere, aber vielleicht ist es ja genau richtig.
Bloß keine Zweifel aufkommen lassen!
„Äh, ja ... natürlich! Das ist ganz in Ordnung. Soll ich ... eine Schwester zum Duschen schicken?"
„Das wäre ganz wunderbar. Dann können wir alle ganz sicher sein, dass sie nicht stürzt. Oder so ..."
Hei, ich hab heute Morgen wohl das EttikettRotzlöffel" aus dem Lostopf gezogen. Aber siehe da – sie spurt.
Ich gehe zurück zu Anni und erkläre ihr kurz, was ich grade abgesprochen habe. Und dann steht auch schon eine Schwester im Türrahmen. Sie schaut Anni abwartend an.
„Max, könnten Sie mich erstmal zum Schrank tragen?"
„Klar, Frau Süß."
Ich hebe Anni hoch, trage sie zum Schrank und lasse sie frische Sachen aussuchen. Dann trage ich sie ins Bad.
„Bis gleich."
Ich mache fliegenden Wechsel mit der Schwester, die die Tür hinter mir schließt. Ein paar Minuten später höre ich Geplätscher.
Geht doch!
Sie soll sich doch wohl fühlen in ihrer Haut.

Auf dem Weg zu ihrem Bett fällt mein Blick auf den kleinen Tisch – und auf den kleinen Blumenstrauß, den ich dort vorhin achtlos abgelegt habe.
Vase. Ähm.
Wieder gehe ich los, diesmal auf der Suche nach einer Vase. Schnell finde ich an dem Flur einen kleinen Raum für Besuche, und dort steht tatsächlich ein offenes Regal mit Vasen. Ich suche mir eine durchscheinende "Tüte" aus blauem Glas aus und tapere zurück zu Annis Zimmer. Nebenan wird grade die Dusche ausgestellt, und ich höre die beiden Frauen reden. Ich schnappe mir Annis Nagelschere und schneide die Blumen unten ein bisschen ab, bevor ich sie in die Vase stecke und auf den Tisch stelle.

Die Badezimmertür geht auf, und auf dem Klodeckel sehe ich die strahlende Anni mit feuchten, verwuschelten Haaren sitzen. Die Schwester spült nur noch einmal die Duschwanne durch und verabschiedet sich dann. Ich hocke mich vor Anni auf den Boden und freue mich an ihrem vergnügten Gesicht.
„Sag mal, was hast du den Schwestern denn erzählt???"
Ich berichte ihr genauer von dem kleinen Dialog, und sie schlägt lachend die Hände vors Gesicht.
„Auweia, Max. Aber weißt du was?"
„Nö?"
„Ich freu mich grade dumm und dusselig, dass endlich, endlich! deine Schlagfertigkeit wieder zum Vorschein kommt. Das hab ich sooo vermisst!"
Mir wird ganz warm.
„Glaub mir - ich auch!"

Ich erhebe mich.
„So, Frau Süß. Zurück ins Bett?"
Anni kriegt erstmal einen Lachanfall.
„Sehr gerne, Herr Gersten. Ich bin Ihnen zu tiefst zu Dank verpflichtet."
Ich trage zuerst ihre abgelegten Klamotten in ihren Schrank. Dann schnappe ich mir Anni. Aber ich setze sie mir einfach auf die Hüften und küsse sie ausgiebig, während ich uns vorsichtig zurück zu ihrem Bett manövriere. Sie quiekt kurz auf und lässt sich dann einfach in meine Arme fallen.
Jetzt, jetzt endlich fühlt es sich richtig an.
Ich fange an zu tanzen. Anni löst den Kuss und wuschelt mir über den Kopf.
„Kannst wohl nicht bis zum Abiball warten, was?"
„Nö. Tanzen kann man immer und überall."

Wir setzen uns wieder auf ihr Bett, und da entdeckt sie den Blumenstrauß.
„Ist der von dir?"
Sie zeigt drauf.
„Ja."
Ich steh auf und gebe ihr die Vase, damit sie selbst entscheiden kann, wo die Blumen stehen sollen. Sie streicht vorsichtig über die Blüten.
„Danke! Die will ich direkt bei mir haben!"
Sie räumt ein paar Dinge vom Nachttisch in die Schublade und stellt den Strauß ab.
„Die sind schön!"

Dann wendet sie sich wieder mir zu.
„Wie geht es deinem Vater?"
„Wissen wir noch nicht. Morgen ist die zweite Woche Kontaktsperre rum. Nächste Woche dürfen wir wieder."
Ich greife nach ihrer Hand und spiele mit ihren Fingern.
„Hab ich dir schon erzählt, dass ich übers Wochenende weg bin? Wir vier Tänzer klappern die Tage der offenen Türen an den in Frage kommenden Hochschulen ab."
„Wo solls denn hingehen?"
„Wir werden uns in Frankfurt, Essen und Köln bewerben. Allerdings ist von den Schwerpunkten her Frankfurt für Paul eher unwahrscheinlich und für Moritz Köln nahezu aussichtslos. Aber wir würden sowieso am liebsten in Essen bleiben. Dann suchen wir uns eine Wohnung in Werden als WG, in die Lasse in einem Jahr einfach dazurutschen kann. So der Traum."

Annis Frage war sehr leise, aber jetzt richtet sie sich wieder auf.
„Ich fände Essen auch am besten!"
Ich muss lachen.
„Kann ich gaaaaaar nicht verstehen! Aber mir geht es ja genauso. Ich will nicht so weit weg von dir, von Papa und Tanja, die dann hoffentlich wieder unter einem Dach wohnen. Und von meinem Geschwisterchen, das im Mai kommt. Aber eins nach dem anderen. Jedenfalls sind wir jetzt am Freitag in Werden, am Samstag in Köln, und von dort aus fahren wir gleich weiter nach Frankfurt und gönnen uns noch ein, zwei Tage Sightseeing. Dienstag kommen wir zurück, denn am Mittwoch geht ja wieder die Schule los."

„Seh ich dich dann erst wieder am Mittwoch?"
„Ooooh – hat da jemand schon vorauseilend Sehnsucht?"
„Nö. Gar nicht. Ich wollte bloß wissen, wie lange ich meine Ruhe vor dir habe."
„Jajaja."
Kuss.
„Wers glaubt wird selig."
Kuss.
„Wem willst du das denn verkaufen?"
Kuss.
„Na, d..."
Kuss.
„...ir."
„Trauriger Versuch."
Kuss.
Wir müssen beide lachen, und meine Augen leuchten wahrscheinlich genauso glücklich, wie ihre es jetzt tun.
„Ich wollte morgen früh noch mal reinschneien, bevor wir nach Werden fahren. Die S-Bahn ist ja gar nicht so weit von hier. Aber am Samstag Morgen müssen wir zu früh los. Dafür könnte ich am Dienstag Nachmittag wieder kommen. Je nachdem, wo du dann bist, und wer dann um dich drumrum wuselt."

„Ach, richtig. Jenny kommt morgen nach Hause. Die muss ich ja dann auch benachrichtigen. Ich denke, wenn der Arzt nachher meine Füße geschallt hat, kann er auch eine Prognose abgeben, wann ich nach Hause darf. Ich glaube nicht, dass ich am Dienstag noch hier bin."
„Das würde es natürlich einfacher machen."

In diesem Moment kommt das Mittagessen zur Tür rein. Ich schieße bei dem kurzen Klopfen von der Bettkante hoch - grade noch rechtzeitig.
„Na – dann mach ich mich mal wieder. Sie wirken auch müde und wollen nach dem Essen sicher ein bisschen schlafen."
Ich warte, bis der Azubi wieder draußen ist.
„Ich liebe dich, Anni. Pass weiter gut auf dich auf. Wir sehen uns morgen früh."
Noch ein Kuss, und dann mache ich mich auf nach Hause.

KLICK.

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17.12.2020

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