122 ** Nähe und Distanz ** Sa. 28.3.2020

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Die Woche war wieder sehr anstrengend, aber nun ist es bald geschafft. Dann sind erstmal die Osterferien und Halbzeit für meine Arbeit an der Helen-Keller-Schule. Max hat jetzt seine Abi-Klausuren geschrieben, kann sich seine Zeit ziemlich frei einteilen, er tanzt, jobbt und wirkt immer entspannter. Das Schlimmste ist für ihn überstanden. Er kann jetzt im Kopf langsam umschalten auf seine Zukunft, seine Bewerbertage fürs Tanzstudium, sein neues Geschwisterchen, die Heimkehr seines Vaters.

Und ich werde in den Osterferien nicht nur die LK-Klausuren gegenlesen sondern mich vor allem darum kümmern müssen, dass ich meine Triggerreaktionen in den Griff kriege. Die Erpressergeschichte hat mir gezeigt, dass all meine Ängste noch dicht unter der Oberfläche lauern. Ich hatte damals die Therapie für erfolgreich gehalten und nach zwei Jahren beendet. Aber erst jetzt, wo ich wieder einen Mann in mein Leben lasse, merke ich, wie tief und fest verwurzelt das alles noch immer sitzt.

Wenn er meinen Trost oder Ermutigung braucht, kann ich ihn ganz nah ranlassen, habe keinerlei Berührungsängste. Aber selbst, wenn wir einfach kuscheln, dann spüre ich so ein inneres Habacht! Eine Spur läuft in meinem Kopf mit und analysiert jede Bewegung, jede Berührung, jedes Wort. Es fühlt sich für mich so furchtbar an, wenn Max mich zu fest hält – statt dass ich mich dabei geborgen fühle. Das ist so falsch, und er kann so überhaupt nichts dafür! Darum kommt jetzt auch noch die Angst dazu, dass Max das merken und sich zurückgesetzt fühlen könnte.

Aber ich weiß nicht, wie ich das verändern soll – außer, nochmal eine stationäre Traumatherapie zu machen.
Aber wann denn das???
Die Ferien sind zu kurz dafür. Und schon lauert die nächste Angst.
Was, wenn dabei noch mehr alte Schmerzen und Verletzungen hochkommen, die ich nicht verarbeiten kann? Was wenn ich Max damit Angst mache?

Was wenn ... Was, wenn ... Was, wenn ...

Ahhhhhhhhhh! Kopf, halt stille!

Ich habe keine Ahnung, wo das hinführen soll. Heute Nachmittag kommt Max wieder zu mir. Wir wollen ein bisschen Prag planen, damit ich bald alles fest buchen kann. Aber wir werden uns auch berühren, und ... Hrmpf!
Ich möchte nicht, dass Max als erste Beziehungserfahrung ein Fiasko erlebt. Es reicht, dass es bei mir so war. Und ich möchte das auch endlich genießen dürfen in meinem Leben – eine erfüllte Beziehung ohne Angst.

Aus lauter Verzweiflung setze ich mich an meinen PC und fange an zu googeln. Planlos. Trauma, Therapie, stationär, ambulant, tiefenpsychologisch, Aufstellungsarbeit, Schutzraum, Sexualtherapie, Pro Familia, Frauenhaus, Familien-, Gruppen-, Einzeltherapie ...
Himmel, was es alles gibt. Ich dachte, ich wüsste, wie das funktioniert.
Aber in den fünf Jahren hat sich der „Markt" schon wieder so verändert und erweitert. Ich blicke gar nicht mehr durch.

Bis ich auf ein spannendes Angebot stoße. Ich bin ja nicht großartig gläubig. Aber das ist mir in dem Moment egal. In einem christlichen Tagungshaus an der Nordsee, bei Cuxhafen, wird ein seelsorgerlicher Kurs angeboten, Aufstellungsarbeit in einer festen Gruppe, zehn Tage lang, inklusive Ostern. Seelsorgerlich begleitet, Karfreitag und Ostern sind fest eingebunden. Neben der Gruppenarbeit sind Einzelgespräche möglich, die Teamer sind geschult. Es gibt viel Zeit, um raus ans Meer zu gehen oder kreativ zu werden. Es klingt nach einer geschützten Atmosphäre – und es sprengt meinen zeitlichen Rahmen nicht.

Ich schaue mir die Seiten über das Haus und das Team an, checke die Umgebung. Bezahlbar ist es auch. Jetzt muss da nur noch ein Platz frei sein! Ich rufe einfach mal da an und frage, ob ich mit dem Ehepaar reden kann, dass den Kurs leitet. Das ist netterweise möglich. Also wähle ich deren Nummer. Dann schildere ich dem Mann am anderen Ende der Leitung, was ich vor fünf Jahren erlebt habe, was sich jetzt in meinem Leben ereignet hat, und dass ich nochmal rangehen und diese Altlast bearbeiten will, ohne dafür drei Monate in einer Klinik zu verschwinden.

Der Mann zögert etwas. Dann sagt er mir ehrlich, dass wohl noch Plätze frei sind, dass er sich aber nicht sicher ist, ob er der Schwere meiner Problematik in der Kürze der Zeit gewachsen sein wird.
„Passen Sie auf, Frau Süß. Ich werde ihre Anfrage mit ins Team und mit ins Gebet nehmen und mich innerhalb von zwei Tagen bei Ihnen melden. Ich verstehe sehr gut Ihre Not, aber ich übernehme dann eine Verantwortung für ihre psychische Gesundheit. Das kann ich nicht ad hoc entscheiden. Ist das für Sie so in Ordnung?"
Ich sage natürlich ja und hoffe einfach, dass das Team und „das Gebet" für mich einstehen werden.

Ich müsste nur dafür sorgen, dass ich direkt nach Ostern an die LK-Klausuren rankomme, damit ich die in den letzten Ferientagen gegenlesen kann. Aber das kann vielleicht Jenny für mich organisieren. Allerdings – Abiturklausuren sind Dokumente. Die einfach so durch halb Deutschland schicken?
Hach, Mist!
Aber vielleicht hat Herr Recksing die ja bis Freitag schon durch. Dann könnte ich sie einfach mitnehmen.
Ich kann ja mal vorsichtig nachfragen ...

Wenn ich mich allerdings fast die gesamten Osterferien abseilen will, muss ich bis dahin so viel wie möglich Schulkram weggearbeitet haben. Die LK-Klausuren kann ich auch dort machen. Aber alles andere sollte ich mir vorher aus dem Kreuz geschafft haben. Also krämpele ich die Ärmel hoch und stürze mich in die Arbeit.

Jenny muss mich mal wieder zum Essen zerren. Aber zum Joggen überreden kann sie mich nicht. Der schönste Sonnenschein draußen lockt mich nicht, ich will zurück an den Schreibtisch. Nach Monaten, in denen mein Leben mich vorwärts getrieben hat, habe ich endlich wieder ein Ziel für mich selbst. Und die Chance, dem näher zu kommen. Also werde ich jetzt bis Freitag Abend klotzen, dann muss ich nicht so viel Arbeit mit nach Cuxhafen mitnehmen.
Falls ich hin darf ...

Max hat bis 15.00 Uhr in der Gärtnerei gearbeitet, wollte dann nach Hause und sich duschen und umziehen. Jetzt müsste er eigentlich jeden Augenblick ...

Dingdong.

Ich gehe zur Tür und mache ihm mit dem Summer unten auf. Dann räume ich schonmal die Schulunterlagen von meinem Schreibtisch.
„Kuckuck, wo bist du, Süße?"
„Hinten. Schon am PC."

Wenige Augenblicke später werde ich stürmisch von hinten umärmelt und zucke mal wieder zusammen wie eine Mimose. Ich kriege einen zarten Kuss aufs Ohr.
„Wie gehts dir heute, Anni? Hast du noch sehr viel zu tun vor den Osterferien?"
„Ja, leider. Aber dann ist es in den Ferien nicht so viel. Ich brauche dringend ein echtes Break."
Max schmiegt sich an mich und schaukelt mich sanft hin und her. Ich sollte das genießen, und eigentlich will ich das auch. Aber uneigentlich ... möchte ich jetzt gerne weglaufen. Stattdessen beiße ich die Zähne zusammen und halte es aus, weil mein Kopf mir sagt, dass Max keine Gefahr für mich ist.

Ich drehe mich in Max Armen, wodurch er mich ein bisschen loslassen muss.
Kuss.
„Schön, dass du da bist."
Kuss.
„Wollen wir uns gleich an Prag machen?"
„Au ja. Ich bin echt neugierig auf die Stadt."
Ich schiebe ihm einen zweiten Stuhl an meinen Schreibtisch, den ich schon bereitgestellt hatte, und wir stürzen uns ins WWW auf der Suche nach Highlights und Geheimtipps in der Hauptstadt von Tschechien. Heutzutage gibt es so viele Reiseblogs und Insider-Tipps zu jedem Winkel dieser Erde, dass wir gar nicht lange suchen müssen.

Um mich selbst runterzukühlen, starte ich gleich sachlich durch.
„Womit wollen wir denn anfangen bei der Suche?"
„Falls du genauso wie ich schon ein bisschen was gelesen hast, weißt du doch wahrscheinlich auch, was für dich unbedingt sein muss. Und ich hab auch ein paar Sachen."
„Dann fang an!"
„Ich möchte gerne die Reste vom jüdischen Viertel sehen. Das meiste ist ja platt gemacht und überbaut worden. Aber es gibt Teile des jüdischen Friedhofs, daneben die Holocaust-Gedenkstätte und wenige alte Sträßchen und Plätze, in denen man schön bummeln kann. Und – es gibt ein kleines unterirdisches Alchemisten-Museum, das richtig toll gemacht sein soll."

„Alchemisten-Museum! Cool! Naja – ich hab die üblichen High Lights – Karlsbrücke, Burg, Veitsdom und goldenes Sträßchen. Und ich möchte gerne in irgendeine Galerie und mir als Andenken ein besonderes Bild aussuchen. Und bei den Museen konnte ich mich überhaupt nicht mit mir selbst einigen."
„Stimmt, die Auswahl ist riesig. Wenn, dann hätte ich Lust auf ein Dvorak-, Smetana-, Granatschmuck- oder sowas-Museum."
„Granat-Schmuck? Willst du mich doch mit Juwelen behängen?"
Wir müssen beide grinsen, und wie so oft greife ich mal wieder an das Schutzengelchen an meinem Hals.
„Ja klar! Wer braucht schon einen Führerschein ..."
„Na, du! Da besteh ich drauf!"
„Naja, ich meinte halt, dass ich mehr Lust habe auf ungewöhnliche Museen als auf .... naja, den Standard halt."

Ich überlege einen Moment.
„Ich glaube, mir ist auch sowas wichtig wie in gemütlichen Kneipen hocken, Livemusik hören oder ein Puppentheater anschauen. Ich will nicht das essen, wovon die Tschechen glauben, dass wir das essen wollen. Sondern das, was die Tschechen essen."
„Das klingt doch richtig gut."
Seine Augen beginnen zu leuchten und sein Lächeln berührt mich ganz tief drinnen.
„Das klingt nach unbeobachteter Zweisamkeit, nach Albernsein und Kennenlernen und Unsinnmachen. Wie der Abend in Wuppertal. Der war sooo schön!"
Ja, das war er. Und noch so unbeschwert. Ohne diese verdammte Angst.
Das Fiese ist ja – man kann den Täter erwischen, man kann ihn zur Rechenschaft ziehen, man kann sich immer wieder sagen: du kannst nichts dafür. Aber man bleibt bis in die letzte Faser seines Körpers und seiner Seele Opfer. Und keiner kann einem versprechen, dass man das je wieder los wird.
Und das „hätte ich doch bloß nicht ..." bleibt einem auch immer erhalten.

„Wie kommen wir eigentlich da hin?"
„Meine Eltern haben einiges schon gebucht. Anderes haben sie nur vorgeschlagen. Wir können mit dem Zug nach Nürnberg und von dort mit dem DB-Bus nach Prag fahren. Fliegen möchte ich vermeiden für eine so kurze Strecke."
„Das fände ich auch Quatsch. Also Zug und Bus. Und das Hotel?"
„Das ist gebucht. Ein schönes Haus in der Altstadt in der Nähe der Moldau. Von dort können wir nahezu alles zu Fuß erledigen. Warte, ich schau grade mal in die Unterlagen."

Ich schnappe mir den Umschlag mit den umfangreichen Reiseunterlagen und suche nach der Hotelbestätigung.
„Hier ist es. Das „Apartments Rybna", Mittwoch Abend bis Sonntag Morgen, Doppelzimmer mit Frühstück. Ganz oben mit weitem Blick über die Stadt."
Max ist auf einmal ganz still und starr.
„Alles o.k.?"
„Ja, schon. Ich ..."
„Raus mit der Sprache."
„Sollen wir wirklich in ein Doppelzimmer gehen? Das wird vielleicht eine ziemlich harte Nummer."
Sch... - er hat recht. Das wird es. Und zwar völlig unabhängig davon, ob und wenn ja, mit welchem Ergebnis ich in den Osterferien dieses Aufstellungs-Seminar mache. Entweder es wird für uns die pure Herausforderung – oder für mich quälend und angstbesetzt. Und damit für Max zu einem Rätselparcours.

Ich packe den Stier bei den Hörnern, es muss hier ja irgendwie weitergehen.
„Sollen wir mal schauen, ob es auch die goldene Mitte gibt?"
„Die goldene Mitte? Was soll das denn sein?"
„Ein Appartment mit mehreren Einzelzimmern. Oder zumindest ein Raum mit zwei einzelnen Betten."
„Ja ... ja, das könnte gehen. Aber wir haben da bisher noch überhaupt nicht drüber nachgedacht. Das sollten wir vielleicht bald mal tun. Oder jetzt gleich. Ich kapier nur nicht ... was ist hier grade passiert, dass wir beide so zurückgezuckt sind und uns plötzlich spürbar unwohl fühlen? Wir wollen uns doch näher kommen. Oder nicht? Drei Wochen später ist die Abifeier. Das wir uns erst an den Gedanken gewöhnen müssen, verstehe ich. Aber nicht, dass wir beide davor zurückschrecken."

Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagen oder wo ich hinkucken soll.
Er hat es genau auf den Punkt gebracht. Was wäre daran so schlimm? Ganz einfach, aber unerklärbar zum jetzigen Zeitpunkt – ich könnte eine Panikattacke kriegen und dich gleich auch noch mit-traumatisieren ...

Ich schrumpfe auf meinem Stuhl zusammen.
„Ich ... bin noch nicht ... mutig genug."
Hm. Ich hab schonmal lauter geredet ...

So wird das nie was.

Danke für deine unerwünschte Meinung.

Max ist mal wieder wunderbar – wie immer, wenn er meine Verunsicherung spürt.
„Sollen wirs für heute lassen? Und darf ich dich in die Arme nehmen? Du siehst grade so ... verloren aus. Ich habe das Bedürfnis, dich zu trösten."
Oh Gott, jetzt bitte nicht anfassen!
„Ja. Ja, das ist eine gute Idee. Lass uns kuscheln."

Ich gebs auf.

Gute Idee!

Ich lege die Unterlagen weg, klappe meinen PC zu und lasse mich von Max hochziehen. Wir kuscheln uns auf mein Bett, und Max nimmt mich vorsichtig in die Arme. Ich kann spüren, dass er unsicher ist, dass er mich schützen und verwöhnen will. Ich sollte mich jetzt entspannen, mich geborgen fühlen. Stattdessen beiße ich die Zähne zusammen, damit ich nicht schreie.

Selbst dran Schuld ...

Ich bin zu angestrengt konzentriert aufs Lächeln, um zu antworten.

..............................................

15.1.2021

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro