126 ** es geht ans Eingemachte ** Di. 7.4.2020

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Puh, bin ich erschöpft. Als hätte ich einen Marathon gelaufen und nicht eine ganze Nacht lang tief und fest geschlafen. Als ich am Samstag Mittag hier ankam vom Bahnhof, hatte ich das Gefühl, ich könnte jetzt erstmal drei Tage lang alle Systeme runterfahren und exakt nichts mehr tun. Nicht mal essen, einfach nur schlafen. Seit bald acht Monaten fährt das Leben mit mir Achterbahn und stürzt mich von einer Katastrophe in die nächste. Auch der Arbeits-Turbo-Motor muss langsam mal runtergefahren werden. Alle alten Symptome von damals sind wieder da. Und ich will so nicht mehr weiter leben.

Aber statt die Bahnfahrt zum Umschalten zu nutzen, habe ich angefangen, die Abi-Klausuren zu lesen. Eigentlich hätte ich sie zu Hause lassen und am Ende der Ferien abarbeiten sollen. Aber das habe ich natürlich wieder nicht fertig gebracht.

Ich hab niemand außer Jenny was von diesem Seminar erzählt, damit sich niemand Sorgen macht. Ich hab einfach gesagt:"Ich fahr weg." Und auch, weil Jennys Reaktion mir schon gereicht hat. Sie hat mich für bekloppt erklärt und gemeint, dann käme ich als tickende Zeitbombe wieder, wie ich das denn bitte schaffen wolle bis zum Sommer.
Aber ich MUSS was ändern! Schnell und gründlich. Ich weiß nicht, wie lange Max das noch aushält, dass ich dauernd so komisch reagiere. Er kann doch gar nichts dafür. Ich halte es jedenfalls nicht mehr länger aus. Die Symptome - und die Angst, ihn zu verlieren.

Am Samstag Nachmittag haben wir hier angefangen. Wir sind sieben Frauen, drei Männer und fünf Teamer. Da dies ein betont christliches Haus ist, werden wir täglich Zeit mit Andachten, Gebet und Gesang verbringen. Die ersten Male fand ich eigentlich gar nicht schlecht, weil wir uns dabei aufeinander einschwingen und zu einer netten Gruppe zusammenwachsen konnten. Und die mutmachenden Loblieder geben mir tatsächlich Halt. Ich habe schon lange nicht mehr so viel gesungen. Es tut gut!

An jedem Tag außer Karfreitag und Ostersonntag wird eine oder einer von uns seine Aufstellung machen dürfen. Immer abends darf sich jemand melden, der bereit ist, sich am nächsten Vormittag der Gruppe zu stellen. Beziehungsweise die Muster der eigenen Familie oder Problematik in den Raum zu stellen. Dadurch werden Beziehungs- und Verhaltensmuster klar, oder man kann mit Menschen reden, die in der Realität nicht mehr erreichbar sind. Und wer genug hat, kann jederzeit aufhören, gezwungen wird niemand. In jedem Fall wird sich dann ein Teamer in klärenden und stützenden Einzelgesprächen dem Teilnehmer widmen, damit der nicht mit einem Scherbenhaufen aus seiner Aufstellung herauskommt.

Nachmittags gibt es Outdooraktivitäten oder kreative Angebote, damit derjenige, der sich am Morgen an sein Innerstes gewagt hat, dann abschalten, allein sein oder sich austoben kann. So gehört jedem von uns ein Tag, an dem uns nichts weiter obendrauf gepackt wird.

Normalerweise funktionieren Aufstellungen so, dass die Mitglieder der Gruppe sich sozusagen gegenseitig als „Schauspieler" zur Verfügung stehen. Unser Seminarleiter Walter hat uns allerdings gleich am Samstag gesagt, dass in dieser Zeit hier zwar immer die Gruppe dabei ist, dass wir unser Personenfeld aber mit lebensgroßen Pappkameraden aufstellen werden. Dadurch ist nicht nur der manchmal eintretende Holzhammereffekt für die stellende Person geringer. Auch die anderen Teilnehmer tragen ja ihr Paket und sollen nicht noch mehr Last obendrauf bekommen, indem sie in fremde Rollen schlüpfen, die unter Umständen ziemlich negativ besetzt sind.

Die Figuren sind klasse. Es sind ganz große Fotos von Alten und Jungen, Männern und Frauen, stehend, sitzend, liegend, mit offenen Armen oder die Hände schützend vor sich gehalten. Sie sehen modern oder eher konservativ aus, alle möglichen Varianten sind vertreten. Sie stehen in Ständern, von wo aus wir sie uns greifen, in einen Standfuß stecken und dann im Raum platzieren.

Das hat mich erst irritiert, aber ich habe dann am Sonntag gleich den Sinn kapiert. Heide zum Beispiel ist deutlich älter als ich, sehr leise und schüchtern und hat sich gleich für den ersten Tag gemeldet, damit sie nicht im Laufe der Zeit den Mut verliert. Ihre Mutter ist früh gestorben, und der Vater hat seine Kinder misshandelt. Hätte einer unserer Männer diesen Vater darstellen müssen, hätte er sich im Nachhinein vielleicht schuldig gefühlt für etwas, was er nie getan hat.

Dem „Pappkameraden" konnte Heide zum ersten Mal in ihrem Leben ihren ganzen Schmerz, ihre Gefühle von Verlust und Verrat um die Ohren donnern, ohne damit einen echten Menschen zu belasten.

Heute Morgen bin nun ich dran. Ich habe mich dazu entschieden, nicht bis zum Ende des Seminars zu warten, damit ich hinterher noch Zeit habe, das in der Aufstellung Erlebte zu verdauen und mit einem der Teamer abzuarbeiten. Und ich finde es auch ziemlich sympathisch, dass nicht einer der netten Männer in unserem Kreis dafür herhalten muss, Adrian darzustellen.

Wie jeden Morgen nach dem Frühstück beten und singen wir eine Weile. Ich sitze dann immer einfach mittendrin und lasse mich mit hineinnehmen. Aber es wird mir von Tag zu Tag vertrauter, wenn die anderen so persönlich mit Gott reden, als säße er neben uns auf dem Sofa. Dann wird das große Schutztuch von den Pappfiguren abgezogen, und alle warten still, dass ich anfange. Ich hatte jetzt ja ein paar Tage Zeit, drüber nachzudenken, welcher dieser Atrappenmänner Adrian darstellen soll. Und welche anderen Menschen ich mit in das Bild nehmen will. Jenny muss dabei sein, und ich wusste auch seit dem ersten Tag, welche Figur ich für sie nehmen würde. Aber schon bei meinen Eltern zögere ich.
Und Max? Puh. Welche Rolle in Bezug auf die damaligen Ereignisse spielt Max? Eigentlich ist es ja eher so, dass diese Ereignisse in ihren Nachwirkungen eine Rolle für Max spielen ...

Schließlich entscheide ich mich für meine und Jennys Figur und stelle sie ganz nah beieinander in meine Nähe. Meiner Figur binde ich meinen Schal um, damit alle erkennen, dass ich das bin. Jenny stärkt mir sozusagen den Rücken. Meine Eltern stelle ich links und rechts von mir auf, sie schauen auf mich. Adrian stelle ich auf einen Stuhl, so dass er alle anderen überragt. Dann schaue ich mir das Bild an, spaziere drumrum und versuche zu fühlen, ob jemand oder etwas fehlt. Und - ja, Max fehlt. Max ist jetzt da, ist wunderbarer Teil meines Lebens. Er leidet genauso unter „Adrian" wie ich. Also nehme ich eine junge Figur, die sich hinhockt und die Arme schützend vor den Kopf hält, und stelle sie hinter Adrian. Ich mache ein paar erste Fotos aus mehreren Perspektiven.

Wieder spaziere ich um die Figuren und versuche zu spüren, ob das jetzt so stimmig ist für mich. Ich mache einen großen Bogen um die Figur auf dem Stuhl. Selbst dieser Pappkerl fühlt sich noch wie eine Bedrohung an. Die anderen warten geduldig ab. Jetzt ersetze ich meine eigene Figur und stelle mich selbst in das Bild hinein. Es fühlt sich gut an, meine Eltern und Jenny so nah bei mir zu haben. Und es fühlt sich furchtbar und falsch an, dass Max so geduckt in Adrians Schatten hockt und durch dieses Hindernis nicht an mich ran kommt.
Ich will dieses Monster nicht dazwischen haben!

Das Schwere und gleichzeitig total Spannende ist, dass ich mich jetzt hinsetzen und den Mund halten muss, während alle anderen mir spontan sagen, wie das für sie aussieht und sich anfühlt. Und erst, wenn ich mir das habe durch den Kopf gehen lassen, darf ich so viel oder wenig erzählen, wie ich will - von dem, was ich dargestellt habe. Auf diese Weise verleihen mir die anderen ihren Blickwinkel, der ja ein ganz anderer sein kann als mein eigener.

Die erste Frage kommt sofort.
„Wovor hast du eigentlich Angst, wenn du so viele Leute hast, die dir zur Seite stehen? Vier gegen einen müsste doch eigentlich reichen."
„Wer ist der Mann hinter dem Riesen? Er steht eigentlich mit niemand in Kontakt, aber er spiegelt deine Angst."
Und dann kommt der Knaller.
„Wenn der Typ eine Bedrohung für dich ist - warum baust du ihm dann ein Denkmal? Du selbst erhöhst ihn über dich. Egal, wann das war, so hat er Macht über dich bis heute."
Ich bin total verblüfft. In meinem Kopf schreien ganz viele Stimmen auf einmal. Und da ist alles dabei von „Stimmt doch gar nicht!" bis „Mist, der hat recht!"
So geht es noch eine Weile weiter, und es kommen viele spannende Sichtweisen und Fragen. Manches Stichwort schreibe ich mir auch auf. Aber ich bin hängen geblieben an der einen.
„Warum GIBST du ihm so viel Macht?"

Als ich Walter anrief, um zu fragen, ob ich mich anmelden darf, hatte ich ihm ja ein bisschen was verraten. Als er dann zurückrief und mir den Startschuss gab, hatten wir verabredet, dass ich den anderen meine Geschichte nur sehr andeutungsweise erzählen sondern das Ganze besser etwas verallgemeinert schildern soll. Zu meinem und zum Schutz aller anderen.

Als die anderen nun wieder still werden und mir Gelegenheit geben, selbst etwas zu dem Personenbild zu sagen, bin ich erstmal geplättet.
„Ich ... Puh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. ... Ich war grade 18 geworden, als ich an die Uni kam. Ich war naiv und gutgläubig. Er war schön, stark, reich und der Schwarm aller jungen Frauen. Und er hat mich zu seiner Freundin gewählt. Als ein Jahr später meine beste Freundin an die selbe Uni kam, hat sie ihn sofort durchschaut. Sie hat mir die Augen geöffnet. Also bin ich zu ihm hin, um unsere Beziehung zu beenden."
Ich stehe auf und schiebe sowohl meine Eltern als auch Jenny ein ganzes Stück weg.
„Allein."
Meine Figur steht nun ganz allein unterhalb des bedrohlichen Riesen.
Oder doch des selbst gebauten Sockels?
„Als ich ihm sagte, dass ich mich trennen will, wurde er gewalttätig."
Das nächste Bild nehme ich auf, indem ich neben meiner Figur in die Hocke gehe und zu Adrian hoch knipse.

Jetzt sind erstmal alle anderen sprachlos. Aber Sabine, Walters Frau, lässt nicht locker.
„Wer ist der junge Mann da auf der anderen Seite vom Denkmal?"
Da halte ich es endgültig nicht mehr aus. Ich stehe auf und tausche die hockende Figur von Max gegen eine stehende aus. Am liebsten würde ich jetzt den Pappkerl in den Arm nehmen.
„Das ist Max. Max ist seit ein paar Monaten mein Freund. Ein ganz zugewandter, aufmerksamer Mensch, der meinen Sinn für Humor teilt und mir sehr, sehr gut tut."

„Aber er kommt gar nicht richtig an dich ran, weil da dieses blöde Denkmal im Weg steht. Richtig?"
Ich kann nur nicken. Ich habe mit einem Mal eine solche Sehnsucht nach Max, dass ich am liebsten nach Hause rasen würde. Aber Sabine setzt noch einen drauf.
„Dann reiß doch den blöden Sockel endlich ein. Schick den Widerling in die Wüste. Wenn du erstmal anfängst, dann hilft dir Max von der anderen Seite her bestimmt."

Traumhafte Vorstellung. Wenn ich Adrian einfach so vom Sockel stoßen und aus meinem Leben verbannen könnte ... Aber so lange ich nicht begreife, wie er da raufgekommen ist, kann ich ihn auch nicht runter holen.
Ich ziehe die Reißleine.
„Dann ... danke euch allen, dass ihr so mitgedacht und mir so viel gespiegelt habt - aber ich glaube, jetzt bin ich satt. Ich kann nichts mehr aufnehmen. Und ich muss erstmal für mich sortieren, was dieses Bild vom Denkmal für mich bedeutet."

Ich mache schnell ein Handyfoto von diesem Schlussbild. Die anderen warten geduldig ab. Schließlich räume ich alle Figuren ganz weg und breite das Tuch wieder darüber aus. Der Raum wirkt seltsam kahl, als ich mich wieder setze und in die leere Mitte schaue. Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer den übermächtigen, viel zu großen Adrian.

Wir singen noch ein paar Lieder, die ich mir wünschen darf, und beenden dann den Vormittag.

.........................................

19.1.2021

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro