153 ** Grauen ** Sa. 13.6.2020

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Und hier kommt sie - die Triggerwarnung zu diesem Kapitel.
Anni und Max mussten in diesem Buch schon viel aushalten.
Aber heute erzählt Anni ihrem Max die Geschichte von "vor fünf Jahren".
Und das ist ziemlich brutal.
Wenn Dich körperliche Gewalt triggert, dann lies das bitte nicht.
Pass auf Dich auf!

................................................................

Die Zeit rast. Gefühlt gestern war noch Silvester, und ich habe Anni aus dem Schnee gesammelt. In einer Woche ist die Abi-Feier, dann der Ball und der endgültige Abschied vom Beethoven. Und wir outen unsere Beziehung. In der Familie, vor der ganzen Schule. Anni musste in den letzten beiden Tagen noch richtig klotzen. Die Abiturzeugnisse für uns sind ja sicher schon von Herrn Recksing geschrieben. Die muss Anni nur mit unterschreiben.
Aber für die Helen-Keller-Schule musste für jedes der acht Kinder ein ausführliches, schriftliches Gutachten geschrieben werden, dass den Eltern ermöglichen sollte, den Entwicklungsstand ihres Kindes zu erkennen. Da sie das noch nie gemacht hatte, hat sie sich viele Gedanken gemacht und sich viel Zeit dafür genommen, um allen Kindern gerecht zu werden.

Ich hab sie in diesen Wochen seit Prag nach Strich und Faden verwöhnt und gezwungen, genug zu essen und ganz viel zu schlafen. Ich habe ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Wir sind uns näher gekommen und haben unsere Zweisamkeit glücklich und befreit genossen.

Ich bin wieder zweimal die Woche bei Luis, denn wir kaspern ja eine Choreo für den Adele-Song für den Abiball aus. Allmählich ist eine Struktur erkennbar. Ich bin unglaublich gespannt auf Annis Gesicht, wenn ich das für sie tanzen werde vor versammeltem Publikum. Aber auch „die Aufnahmeprüfung" wird wieder sonntags geprobt, weil wir diesmal ein paar Kleinigkeiten an die Abifeier anpassen wollen. Seit ich den Führerschein bestanden habe, fahre ich öfter mal mit unserem WG-Auto, damit ich mich dran gewöhne und genug Übung habe für den Frankreich-Urlaub. Sobald Lasse Ferien hat, geht es los.

Aber vorher möchte ich endlich erfahren, was die große Qual in Annis Leben war. Ich möchte nicht, dass wir das noch durch diesen ganzen Sommer schleppen. Ich kann sie natürlich nicht zwingen, das habe ich ihr ja auch versprochen. Aber vielleicht kann sie sich mir jetzt öffnen, wo die letzten Schranken gefallen sind. Also bereite ich für heute ein Picknick mit vielen Leckereien vor und fahre uns im Auto zu einem vorher ausgespähten, besonders schönen Platz an der Ruhr, wo uns niemand stören kann.

Es ist warm, Schmetterlinge flattern über die Wiese und vor uns im Wasser plantschen ein paar Enten. Es sind weder viel befahrene Straßen noch Häuser in der Nähe. Wir breiten unsere Picknickdecke aus und genießen die Ruhe. Aber Anni hält es nicht lang aus.
„So, Max. Und jetzt verrate mir, warum du heute so einen Aufwand betreibst. Irgendwas hast du doch vor, gibs zu."
Sie grinst mich an.
Mist! Das führt ja nun völlig in die falsche Richtung.
Mein Hirn rattert auf der Suche nach einer guten Überleitung. Vergeblich.

„Falsche Einleitung?"
„Sozusagen falsche Einleitung, ja."
„Soll ich raten?"
Ich schüttele den Kopf.
Anni ist so auf der spielerischen Ebene, wie kann ich da was Schweres anschneiden???
„Gut. Du ... wirkst sehr ernst. Sags mir einfach, sonst schleichen wir noch zwei Stunden lang umeinander rum."
Ich hole tief Luft.
„Ich hab das Picknick nicht arrangiert, um dich zu bestechen oder so. Aber ich wollte, dass du dich wirklich wohl fühlst. Denn ... ich ... würde gerne wissen, was das ist, ... das ... ich bisher ..."
„... nicht wissen durfte. Ich verstehe. Wart einen Moment."
Anni rollt sich zu einer Kugel zusammen, schließt die Augen und hält ganz still.

Gedanken

Da ist sie – die Frage. Die Frage nach dem warum und wann und wie und was. Die Frage, die ich bisher konsequent verdrängt habe. Ist er jetzt reif dafür? Mein Vertrauen in ihn ist nach diesen letzten Wochen, nach Prag so groß, dass ich nun tatsächlich reif bin dafür. Aber ist Max reif? Ist er sich seiner und meiner jetzt sicher genug, dass ihm dieses Wissen nicht mehr schaden, ihn nicht mehr verunsichern und ausbremsen kann?

Das wirst du nicht rausfinden, bevor du es aussprichst. Das Leben kennt keine Generalproben, nur Premieren. Und bevor du jetzt wieder wie ein wütender Stier auf mich losgehst. Ja, Antonia Süß, ja, du bist bereit. Und damit ist er es auch. Ich habe nur eine letzte Bitte an dich, damit ich endlich verschwinden kann. Akzeptiere doch bitte, dass ich nie dein Feind war – sondern immer ein Teil von dir. Nimm mich an, statt mich zu bekämpfen, damit ich endlich ruhen kann. Damit ich mir endlich sicher sein kann, dass du das Leben auch meistern kannst, ohne dass ich inneres Habacht-Männchen immerzu anspringen muss.

Du ... du hast mich all die Jahre so gequält! Wie hätte ich dich annehmen können?

Nicht ich hab dich gequält – DU hast dich gequält. Du hast mich verschwiegen und damit verhindert, dass dir geholfen werden konnte, dich mit mir zu versöhnen. Du hast mich verteufelt. Es war dein eigenes Innendrin, das dafür gesorgt hat, dass ich immer zynischer und gemeiner geworden bin.

Aber – was kann ich denn tun? WIE kann ich dich annehmen?

Indem du mich nicht wegjagst – sondern mich freigibst, mich gehen lässt. Teile deine furchtbare Last mit Max. Dann kann ich gehen.

Ich erzittere vor diesen ungeheuren Worten, die mir wie Blitze durchs Hirn jagen. Die Stimme – ein Teil von mir? Ich kann eine ganze Weile keinen klaren Gedanken fassen. Aber Max wartet. Also atme ich tief durch.

Na ... dann – du bist frei. Ich bin sicher und geborgen bei Max. Du darfst gehen. Meinst du das so?

Ja, genau. Danke! Danke für dich selbst, denn ich bin ein Teil von dir. Leb wohl. Anni!

Ich sitze etwas seltsam neben Anni rum und warte ab, was jetzt geschieht. Da schiebt sie sich an mich dran, verkriecht sich fast in mir, zittert.
„Hältst du mich bitte ganz, ganz fest und passt auf mich auf? Dann erzähl ichs dir."
„Ich möchte, dass du weißt, dass du mir gar nichts erzählen musst. Ich warte auch noch weiter. Aber ich habe die Hoffnung, dass du jetzt, wo wir keine Geheimnisse und keine Angst mehr haben müssen, vielleicht die Kraft hast, das mit mir zu teilen. Der nächste November kommt bestimmt. Und es soll dich nie wieder so sehr quälen wie letztes Jahr."
„Nein! Nein, es ist in Ordnung. Es ist gut so. ... Manchmal hast du einfach mehr Mut als ich, den nächsten Schritt zu gehen. Das hilft mir. Ja, ich sollte das endlich loswerden."

Still warte ich weiter, was sie mir erzählen will. Aber zu meiner Verwirrung fängt sie schon vorher an zu weinen.
„Liebes, du musst dich doch nicht damit quälen. Entschuldige, dass ich das aufgewühlt habe. Bitte, tu nur, was dir gut tut."
Anni nickt.
Anni holt tief Luft.
Anni fängt an zu reden.

„Jenny ist zwar ein Jahr älter als ich. Aber ich bin als Kannkind eingeschult, und sie hat nach dem Abitur ein Jahr drangegeben, weil sie im Ausland war. Deshalb ist sie erst ein Jahr nach mir an die Uni gekommen, wo wir gemeinsam auf Lehramt studiert haben. Ich war grade so eben erst 18 Jahre alt, als ich jung und unbedarft durch die ersten Wochen meines ersten Semesters geschlittert bin. Das Studium hat Spaß gemacht, das Lernen fiel mir leicht, also hatte ich auch viel Zeit für Sozialkontakte und Spaß. Dabei lief mir bald auch Adrian über den Weg.

Adrian ist ... war ein Kerl von einem Mann, durchtrainiert, immer braun gebrannt, sehr attraktiv und sehr begehrt. Er fuhr ein fettes Auto, hatte von seinen Eltern eine eigene Wohnung bekommen, warf großzügig mit Geld um sich – und war immer umschwärmt von einer Traube von Mädels und auch Jungs, die ihn offen angehimmelt haben. Sehr bald gehörte auch ich dazu. Und das Wunder geschah – aus all den Verehrerinnen und Verehrern wählte er sich mich aus.

Ich war stolz und glücklich und furchtbar verliebt. Ich kannte noch kein Misstrauen, keine falsche Liebe und keinen Trennungsschmerz. Ich fühlte mich einfach wie im Paradies, denn natürlich hat er mich nach Strich und Faden verwöhnt, ist mit mir auf schicke Szenepartys gegangen, hat mich dafür eingekleidet und hat mich vorgeführt wie die Kronjuwelen. Er hat mich auf Händen getragen und mir das Gefühl gegeben, erwachsen und begehrt zu sein. Ich wurde zum hübschen Schatten an seiner Seite, der ihm bereitwillig aus der Hand fraß, was immer er von mir verlangte.

Als Jenny ein Jahr später an die Uni kam, hat sie sich das nur ein paar Wochen mit angesehen und mir dann den Kopf gewaschen. Sie lief nicht so naiv rum wie ich sondern hat gesehen und verstanden. Adrian war sehr besitzergreifend und sehr stolz. Um sein Image als toller Hengst aufrecht zu erhalten, hat er durchaus auch mit anderen Mädchen geflirtet. Und er hatte ein Nachtleben, von dem ich nichts wusste. Und andere Frauen. Und zunehmend einen Sockenschuss. Er fing an, mir alles Mögliche zu verbieten und über mein Leben zu bestimmen. Er hielt mich vom Lernen ab und hat schließlich sogar versucht, Keile zwischen Jenny und mich zu treiben, weil er genau gemerkt hat, dass SIE nicht auf ihn reinfällt. Das war der Moment, wo ich aufgewacht bin.

Mitte November hatte ich mehrere vergebliche Versuche hinter mir, ihn in die Schranken zu weisen und unsere Beziehung auf eine bessere Basis zu stellen. Also hab ich die Reißleine gezogen. Jenny wollte unbedingt dabei sein, weil sie ihm nicht traute, aber ich habe darauf bestanden, dass ich das alleine durchziehe. Ich Idiot. Ich bin zu ihm gefahren und alleine in seine Wohnung marschiert, um mit ihm Schluss zu machen."

Anni zittert am ganzen Leib, und ich überlege schon fieberhaft, wie ich sie stoppen kann. Aber da redet sie schon weiter.
„Es war ungefähr 22.00 Uhr, als ich da aufgeschlagen bin. Er hat mich keinen Satz zu Ende reden lassen. Er hat mich gepackt, an den Haaren in sein Schlafzimmer gezerrt und auf sein Bett geschmissen. Ich konnte gar nicht so schnell entsetzt sein, wie er mir die Klamotten vom Leib gerissen hat. Und dann ..."

Ich richte mich auf und ziehe Anni auf meinen Schoß. Inzwischen weint sie laut und haltlos.
„Hör auf, Liebes, wenn es dich so quält!"
Aber sie schüttelt den Kopf und macht immer weiter.
„Er ... hat mich ... die ganze Nacht lang v... ver... vergewaltigt. Immer wieder und wieder. Er hat meine Hände an sein Bett gebunden, damit ich mich nicht wehren konnte. Und wenn ich vor Schmerzen geschrieen habe, hat er mich geschlagen."
Inzwischen klammert sie sich an mich, ich wiege sie in meinen Armen und weine mit ihr um die Wette.

Ich hab ja geahnt, dass ein so nachhaltiges Trauma nicht von einer Schramme am Knie kommt. Aber nichts, absolut nichts hat mich auf dieses Grauen vorbereitet, das sie damals aushalten musste. DESHALB durfte ich sie in Prag nicht in den Schwitzkasten nehmen! Sie erträgt es nicht, wenn ihre Hände fixiert werden.

Wieder holt sie tief Luft und spricht weiter.
„Als ich um 4.00 Uhr immer noch nicht wieder zu Hause war, hat Jenny die Polizei gerufen und ist gleich auch mitgekommen. Die haben die Tür aufgebrochen, und Jenny war schneller bei mir als die. Sie hat ihm einen kräftigen Stoß gegeben, der ihn ziemlich unsanft auf den Fußboden befördert hat, und mir sofort eine Decke übergeworfen. Die Polizisten haben ihn gleich mitgenommen, er durfte sich nur eben was anziehen. Aber von allem, was dann passierte, weiß ich nur von Jenny. Ich war so leergeschrieen und so leergeängstigt und so leergequält, dass ich kaum ansprechbar war.

Eine Polizistin blieb dabei, bis der Krankenwagen kam. Jenny ist immer an meiner Seite geblieben, hat überall energisch eingefordert, dass eine Frau die Untersuchungen macht, hat mir Klamotten gegeben, hat mich gehalten, hat mich getröstet. Hat rigoros gesteuert, wer zu mir durfte, wer mich was fragen durfte, hat mit Freuden haufenweise Zeugen für sein immer absurderes Verhalten der letzten Wochen genannt und hat mich langsam zurück ins Leben geliebt. ... Das war mein Winter vor fast sechs Jahren."

Anni hatte aufgehört zu weinen, sobald Jenny in ihrer Erzählung auftauchte. Jetzt richtet sie sich ein wenig auf und schaut mich unsicher an.
„Armer Max. Ich ... du musstest das eines Tages erfahren. Aber ... glaub mir – du und dein feines Gespür und deine zärtlichen Hände haben mich versöhnt und befreit. Nur durfte ich dir das einfach nicht eher erzählen, weil ..."
Ich muss nur kurz überlegen, wofür dieses in der Luft hängen gelassene ‚weil' steht.
„Ach, Anni. Um mich zu schonen, hast du so lange geschwiegen?"

„Weißt du, Max. Das Grauen war damit noch nicht vorbei. Ich habe natürlich sofort Therapie bekommen. Adrian kam überhaupt nicht mehr auf freien Fuß sondern in die Geschlossene. Vor ihm war ich sicher. Aber stattdessen kam etwas anderes. Eine ... Stimme ... in meinem Kopf. Am Anfang war das o.k., denn diese Stimme hat mich gewarnt, wann immer ich ein Risiko eingehen wollte, weil ich unbedingt endlich wieder normal leben wollte. Aber im Laufe der Zeit wurde es immer mehr. Die Angst und die Unbedarftheit haben sich in meinem Kopf bekämpft. Und diese Stimme hat überhand genommen. Sie hat mich beherrscht und immer weiter eingeschränkt und ... Ich habe mich so gefürchtet, weil ich dachte, jetzt dreh ich durch. Ich hab sogar die Person zu der Stimme gesucht, mich immer wieder umgedreht und gesucht. Ich habe das niemand erzählt, weil ich nicht in eine Klinik wollte. Nur Jenny hat es kapiert. Sie war bisher die einzige, die von der Stimme wusste. Ich habe jahrelang gekämpft gegen eine Stimme in meinem Kopf."

Mir läuft es kalt den Rücken runter, obwohl ich in der prallen Sonne sitze.
„Und ... ist die Stimme immer noch da?"
„Nein, Max. Jetzt nicht mehr. Jedes Jahr im November kam sie wieder und hat mich terrorisiert. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, mich wieder unter Leute zu begeben, gelernt, den November gefasster und stärker zu überstehen, die Stimme klein zu halten. Außerdem hab ich Selbstverteidigung gelernt, Survival trainiert, wie eine Besessene studiert und darüber hinaus exzessiv Sport betrieben."
„Aber?"

Anni sieht auf einmal wieder sehr unsicher aus und zögert.
„Bitte, sag es mir."
„Ich hab dich lieb, Max. und ich habe dir das wirklich alles verziehen. Vergiss das bitte nicht. Versprichst du mir das? Es ist vorbei. Wirklich."
Sehr beruhigend ...
„Was denn?"
„Als ... du den Resetknopf gedrückt hast, da hat mich die alte Hilflosigkeit überschwemmt wie ein Dammbruch. Und sofort war die Stimme wieder da. Ich hab es im letzten November einfach nicht geschafft, sie klein zu halten. Sie hatte auf einmal wieder so viel Macht. Und sie hat mich dauernd vor dir gewarnt. Sie hat versucht, dich aus meinem Kopf und meinem Herzen zu vertreiben."

Das blanke Entsetzen muss mir ins Gesicht geschrieben stehen.
„Oh Gott! Ich ... ICH hab die alten Trigger wieder hochgeholt. Wie furchtbar!"
„Max, es ist vorbei! Bitte. Du bist wundervoll. Ich möchte niemand anderen an meiner Seite haben als nur dich! Bitte, glaub mir. Und auch ohne das hätte ich panische Angst davor gehabt, wieder eine Beziehung einzugehen. Und ..."
„Und?"
„Und ... die Stimme hat mir eben Lebewohl gesagt. Sie war eben da – und sie hat mir gesagt, dass sie in Wahrheit nicht mein Feind sondern immer ein Teil von mir selbst war. Sie war freundlich. Sie hat mir Mut gemacht, mich dir jetzt ganz anzuvertrauen. Und dann hat sie sich verabschiedet. Sie ... durfte wieder ein Teil von mir werden."
Fest halten wir uns umschlungen. Ich habe Kopfkino und kann es nicht ausschalten.
„Und ... warum dann diese lange Verzögerung?"
„Weil ... wie geht es dir jetzt, wo du das alles weißt?"
„Beschissen?"
„Siehst du, Max. Darum."
„Hä?"

„Ich wusste ... du hattest mir anvertraut, dass du noch ... Jungfrau warst. Und ich hatte unbändige Angst. Nicht vor dir. Sondern davor, noch einmal so verraten zu werden, mich noch einmal so hilflos zu fühlen. Da ist mir klar geworden, dass dein erstes Mal, mit mir ... dass das nicht überschattet sein darf davon. Dass du unbedarft und neugierig einfach ausprobieren können solltest. Und auch, dass ich nicht würde abschalten können, wenn du das gewusst und dich deswegen verkrampft hättest aus Angst, etwas falsch zu machen. Du durftest das nicht wissen für uns beide. Verstehst du? Wie wäre es dir denn gegangen mit diesem Wissen? In Prag? Du hast mich so unsagbar reich beschenkt damit, dass du NICHT wusstest, dass du dich getraut und meinen ängstlichen Verstand einfach weggeküsst hast. Ich hätte mich sonst nicht drauf einlassen können. Ich brauchte meinen Max unerschrocken und frei, damit ICH das konnte. Sonst wäre es nicht nur für mich sondern auch für dich zu einem Fiasko geworden. Und das wollte ich auf keinen Fall."

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich erfüllt mit Scham und Entsetzen.
Was musste meine wundervolle Anni alles aushalten! Und dennoch hat sie mich in ihr Herz und in ihr Leben gelassen. Was für ein Geschenk!
All die Andeutungen von Jenny ergeben auf einmal einen Sinn. Im November. Im Februar. Im März. Einen furchtbaren, grausamen Sinn.
„Was kann ich tun, damit es dir auch weiterhin gut geht mit mir?"

„Stop, Max. Du bist dafür nicht verantwortlich. Ich möchte, dass du einfach nur Max bist. Dieses Wissen darf dich an nichts hindern und zu nichts zwingen. Das ist ganz wichtig. Du weißt jetzt, dass du mich vielleicht nicht unbedingt ans Bett fesseln soll..."
„Anni! Das ist kein Scherz! Bitte geh doch liebevoller mit dir selbst um, ich kann das gar nicht aushalten! Ich ... ich habe ja gespürt in den letzten Wochen, dass ich alles richtig gemacht habe, dass du dich immer wohl gefühlt hast. Ich werde keine Angst davor haben. Ich genieße diese spannende Entdeckungsreise mit dir sehr, und das soll auch so bleiben. Aber bitte - mach keine Scherze darüber. Das tut dir und mir weh. Versprochen?"
Bang suche ich den Blickkontakt mit ihr, damit sie sieht, wie ernst ich das meine.
„Versprochen!"
Eine ganze Weile halte ich Anni einfach im Arm, damit in ihr und in mir nachhallen kann, was sie da grade alles erzählt hat. Ich male langsam Kreise auf ihrem Rücken und spüre, wie sie sich allmählich entspannt.

Plötzlich richtet sie sich auf und grinst mich an.
„Hunger!"
Ich lache auf, weil das mal wieder typisch Anni ist.
„Hunger nach Leben, Hunger nach diesem leckeren Picknick. Und Hunger nach dir!"
Maximilian Gersten. Du bist verdammt nochmal 18 Jahre alt und nicht mehr Jung"frau". Diese tolle Frau hat schon alles gesehen, was es bei dir zu sehen gibt. Warum um Himmels Willen wirst du jetzt rot???
Anni lacht mich aus, ...
Das sollte ich ihr bei Gelegenheit mal abgewöhnen!
... beugt sich vor und lunzt neugierig in den großen, schicken Picknickkorb, den ich mir von Moritz Eltern geliehen habe.
„Hat doch was Gutes, dass du im letzten Sommer so gut kochen gelernt hast."

Das war ein Fehler!
Sie sitzt ja immer noch ganz nah bei mir, und so ist es ein leichtes für mich, sie an den Waden zu kitzeln. Im letzten Moment kann ich mich davon abhalten, sie dazu in den Schwitzkasten zu nehmen. Also quiekt sie auf, dreht schnell ihre Beine weg und häuft wie der Blitz all das Essen zwischen uns auf. Ich grinse und kapituliere.
„Hast gewonnen!"
Gemeinsam schlemmen wir uns durch die Salate und Dips, das frische Baguette und die Muffins, die ich gebacken habe.

„Komm, wir gehen noch kurz ans Wasser."
Anni greift nach meiner Hand und zieht mich hoch. Wir schlendern die paar Schritte über die Wiese hin zur Ruhr, hocken uns auf die Steine am Wasser und hängen unsre Füße in den Fluss.
„Max?"
„Ja?"
„Hast du immer noch das Gefühl, dass du zu jung, zu unerfahren, zu unreif oder irgendein anderes ‚zu' bist?"
Ich muss lächeln.
„Hmmmmmm ... Nö."
Interessiert schaut sie mich an.

„Zum einen habe ich inzwischen dir genau so oft den Arsch gerettet wie du mir. Unser Zusammenspiel fühlt sich manchmal an wie zwei gut geölte Zahnräder, und wir ticken einfach ganz ähnlich. Und zum anderen macht zum Beispiel Lennart es mir echt leicht, mich nicht dauernd wie das Küken in der Runde zu fühlen. Und ich habe schon lange nicht mehr das Gefühl, dass ihr mir Meilen an Lebenserfahrung voraus habt. Wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke, dann denke ich manchmal, soviel Action, Katastrophen, Luftanhalten, Durchstarten und Aushalten passt nicht in ein ganzes Leben. Bei mir hat es locker in ein einzelnes Jahr gepasst. Auf vieles davon hätte ich liebend gerne verzichtet. Aber unterm Strich habe ich in diesem Jahr so viel gewonnen, dass ich einfach kein ... wie soll ich sagen? Ich bin gereift im Turbogang. Das hat mich durchgeschüttelt, aber ich habe dabei unglaublich viel gewonnen."

Ich schaue ihr tief in ihre grün schimmernden Augen.
„Vor allem ... habe ich dich gewonnen. Etwas Großartigeres konnte mir das Leben nicht schenken."
Anni wird ein bisschen rot und ein bisschen verlegen.
„Oh doch. Einen Vater. Eine Schwester. Ein Abitur. Einen Studienplatz. Ein..."
Ich bremse diese durchaus berechtigten, aber furchtbar unromantischen Argumente mit einem ausgiebigen Kuss. Dann nehme ich sie fest in die Arme und rede einfach weiter.
„Ja, ich weiß. Ich habe unglaublich viel geschenkt bekommen. Und die Familie, die jetzt offener, freier und glücklicher ist, ist natürlich ein ganz, ganz wichtiger Teil davon. Aber ich, vielleicht wir alle, wären heute nicht da, wo wir jetzt stehen, wenn Du nicht von Anfang an so sehr um mich gekämpft hättest. Wenn du irgendwann aufgegeben hättest, hätte ich das alles nicht so gepackt. Ich habe erleben dürfen, wie es ist, wenn jemand bedingungslos um mich kämpft."

Eine Weile sitzen wir noch schweigend am Ufer. Dann packen wir unsere Sachen zusammen, gehen zum Auto und fahren nach Hause.

..................................................

15.2.2021

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro