154 ** Lampenfieber ** Mi. 17.6.2020

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Ich bin jetzt zwei Tage lang total übermüdet durch die Gegend gestolpert oder hab tagsüber geschlafen, weil ich nachts nicht schlafen konnte vor lauter Kopfkino. Dauernd fallen mir wieder Momente ein, wo Annis Handlungen, Worte und Reaktionen vor diesem furchtbaren Hintergrund plötzlich einen Sinn ergeben. Es quält mich, dass sie sich durch all das allein hatte durchquälen müssen, obwohl mein Kopf ja weiß, dass ich nicht hätte helfen können. Gestern war ich dann endgültig zu müde, um nicht zu schlafen. Deshalb sehe ich heute auch endlich nicht mehr aus wie ein Zombie.

In den letzten Tagen hatte Anni Zeugniskonferenzen, und jetzt ist bei ihr der Stress endlich vorbei. Noch eine Woche, und dann ist die Helen-Keller-Schule Geschichte. Viel näher ist uns aber die Abi-Feier. Und das macht uns beide langsam nervös. Wann in welcher Konstellation, bei welcher Gelegenheit sollen wir Anni in der Familie outen? Ich radele grade nach Hause von meiner letzten Probe mit Luis für das Adele-Stück beim Ball und grübele schon wieder darüber nach. Kaum komme ich zu Hause zur Tür rein, streckt Onkel Thorsten seinen Kopf aus seinem Arbeitzimmer.

„Kommst du grade mal, Max?"
„Kann ich vorher noch duschen?"
„Klar. Du kannst dann auch Jana Bescheid sagen. Die Kinder sind schon im Bett."
Na, jetzt bin ich aber neugierig.
Ich gebe Gas, sammele Tante Jana im Wohnzimmer ein und hocke dann sehr gespannt auf der Stuhlkante vor dem Schreibtisch meines Onkels. Tante Jana setzt sich neben mich und schaut ihn auffordernd an.

„Max, ich möchte dir gerne spiegeln, was ich in den letzten Tagen gesehen habe. Und dann mit dir eine Lösung suchen."
Ich nicke stumm. Ich habe immer noch keine Ahnung, was jetzt kommt. Ich bin mir jedenfalls keiner Schuld bewusst.
„Pass auf. So, wie du da auf der Stuhlkante hockst, gespannt wie ein Flitzebogen, so bist du jetzt schon seit Wochen mit wachsender Intensität. Und ich vermute, das liegt daran, dass du und Frau Süß eine Entscheidung fällen müsst, wann und wie ihr sie der Familie vorstellt. Ich spüre ganz viel Unsicherheit, ganz viel Sorge. Ihr müsst euch jetzt entscheiden, und das ist schwer. Habe ich recht?"

Ohhh ja – da hast du sowas von recht, lieber Onkel!
Wieder nicke ich stumm.
„Dann rede jetzt mit uns darüber. Werde deine Sorgen los und lass uns zusammen überlegen, wie es am geschicktesten ist."
Ich nicke zum dritten Mal.

Und dann öffnen sich alle meine Schleusen. Ich rede mir alles von der Seele. Dass ich Papa nicht enttäuschen will. Dass die einzige Begegnung zwischen Anni und Papa eine ziemlich unangenehme war. Dass ich mir so sehr wünsche, dass Anni trotzdem in der Familie vorbehaltlos willkommen ist. Dass es mir so gut tut und mich so beschenkt, Anni in meinem Leben zu haben. Ich rede und rede und rede, bis Tante Jana sich zu mir beugt und mich einfach in die Arme nimmt.

„Also hatte Thorsten recht. Wir verstehen deine Sorgen sehr gut, und wir sind natürlich auch in dieser Situation ganz für dich da. Wir können Axel nicht zwingen, Frau Süß zu mögen. Aber wir werden euch zur Seite stehen. Jetzt überleg doch mal. Was ist die für dich schlimmste denkbare Reaktion von Axel, wenn er Frau Süß erkennt? Was kann überhaupt passieren?"
Da muss ich nicht lange überlegen.
„Er könnte sie rausschmeißen. Er könnte sie anbrüllen. Er könnte sie anzeigen. Er ... könnte ihr Jahre lang demonstrativ misstrauisch und abweisend gegenüber treten. Und das hat sie nicht verdient!"
„Da sind wir uns einig. Das hat sie wirklich nicht verdient. Er wird irgendwann hoffentlich begreifen, dass sogar er ihr ganz viel verdankt. Jetzt pass auf. So, wie ich Axel einschätze, wäre das schwerste für ihn, überrumpelt zu werden oder vor größerem Publikum mit der Wahrheit konfrontiert zu werden. Das heißt, dass ihr euch entweder VOR Abifeier und Ball überwinden oder aber bis hinterher still halten solltet."

„Und das heißt?"
"Dass du noch heute Abend oder aber morgen alleine mit Axel redest und ihm reinen Wein einschenkst. Dann hat er die Chance, sich zurückzuziehen, sich mit Tanja darüber zu unterhalten, auf seine eigenen Gefühle zu horchen und ihr freundlich gegenüber treten, während er sie nochmal neu kennenlernt. Verstehst du? Gib ihm die Chance die Information zu verdauen, bevor sie ihm gegenüber steht. Das ist die schonendste Variante für euch alle."
Ich kriege Gänsehaut.
Sch..., sie hat recht. Das ist der richtige Weg. Aber das wäre der Sprung ins berühmte kalte Wasser. Eiskalt. Jetzt sofort! Denn bis nach dem Ball kann ich nicht warten.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist halb neun. Katharina dürfte grade schlafen, also könnte Tanja gleich auch dabei sein.
„O.K. - danke. Ich mach mal Nägel mit Köpfen. Anni ist nämlich auch ziemlich nervös. Und dann sind wir gleich alle von der Anspannung befreit."
„Dann ab mit dir. Wir drücken euch die Daumen!"
Ich flitze hoch in mein Zimmer und rufe Anni an. Sie muss ja einverstanden sein. Ich breite ihr Janas Argumente aus und lasse ihr dann die Wahl. Am anderen Ende ist es sehr still.
„Na gut. Ihr habt recht. Das wäre nicht nur fairer ihm gegenüber sondern wahrscheinlich auch sanfter für uns. Ich hab heute Abend nur Aufräumen auf der Agenda. Sollte es sinnvoll sein, dass ich komme, sag Bescheid. Küsschen! Ich bin in Gedanken bei dir."

Ich hole tief Luft, gehe ins Nachbarhaus und mache mich auf die Suche nach meinen Eltern. Papa sitzt im Wohnzimmer mit einem Glas Wein, Tanja kommt eben die Treppe runter.
Ich glaube, es ist ganz gut, wenn sie dabei ist. Sie ist gut mit Anni klar gekommen.
„Papa? Tanja? Ich ... möchte euch was erzählen. Wenn ihr Zeit habt."
„Gerne, Max."
Tanja nimmt mich kurz in die Arme und setzt sich dann neben Papa aufs Sofa. Ich rutsche in einen Sessel und nehme innerlich Anlauf. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie auf einer Bühne so viel Lampenfieber gehabt wie jetzt hier vor Papa und Tanja.

Da prescht Papa vor.
„Warum bist du seit Tagen so nervös, Max? Jetzt ist doch endlich, endlich alles überstanden."
Dieser Papa ist ein völlig anderer Mensch!
„Eine Sache ist noch nicht überstanden, und ich grübele jetzt schon seit Tagen darüber nach, wann, wie, mit wem dabei ich dir und euch das sage."
Tanja hatte sich müde-entspannt gegen Papas Schulter gelehnt. Jetzt richtet sie sich auf und schenkt mir ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie überlegt kurz.
„Ah. Verstehe. Ja, das kann ich nachvollziehen, dass dich das nervös macht. Es geht um deine Anni. Richtig?"

Ich nicke.
Ich schlucke.
„Ja. Genau."

Unsicher schaue ich in Papas Gesicht. Der überlegt einen Moment.
„Hm. Komm mal her, mein Sohn."
Er rutscht zur Seite und macht für mich Platz in der Mitte. Mir fallen bald die Augen aus dem Kopf.
Was wird'n jetzt das???
Ich stehe auf und gehe zum Sofa. Beide greifen nach meinen Händen, drehen mich rum und ziehen mich in die Lücke.
„Ich merke, dass du Angst hast. Und ich will nicht, dass mein erwachsener Sohn Angst vor meiner Reaktion hat. Ich will, dass du nie wieder Angst vor mir haben musst. Sags einfach. Wer ist Anni? Ich kenne sie. Habe ich recht?"
Tiieeeef Luft holen.
„Ja. Du kennst sie. Und du magst sie nicht."

Stille.

Ich kneife die Augen zu. Die Luft brennt für mein Gefühl. Papas leise Stimme.
„Darf ich das selbst entscheiden?"
Ich reiße meine Augen wieder auf.

Maximilian Gersten. Was.Soll.Jetzt.Bitte.Passieren??? Wovor habe ich eigentlich Angst? Mach!!!
„Ja. Entschuldige, Papa. Es muss auf dich so wirken, als ob ich dir nichts zutraue, als wärst du ein Monster. Aber das bist du nicht. Es ... Sie ... ist ... Frau Süß."

Jetzt ist es raus. Und jetzt, Gott, wenn es dich gibt. Das ist dein Job. Danke!
Stille.
Ich HASSE diese STILLE!!!

Papa spannt sich kein bisschen an. Aber seine Stimme hat er nicht gut im Griff.
„Das ... kommt jetzt in der Tat ... überraschend. Aber ... naja ... warum nicht? Ich merke doch, dass sie dir gut tut. Also – puh, ... ... und ich muss mich unbedingt bei ihr entschuldigen. Ich habe mich dermaßen daneben benommen an dem Nachmittag. Tanja und Frau Süß haben wie Löwinnen um dich gekämpft. Nachdem ich kapiert habe, was ich da angerichtet hatte, habe ich sie auch ein klein bisschen dafür bewundert. Dann ..."
„Axel, halt mal die Luft an. Du musst dich hier nicht aus der Gefahrenzone quatschen. Schau einfach mal in Max Gesicht."
Das würde ich jetzt auch gerne. Wie kucke ich denn grade?
Aber der nächste Spiegel ist einfach zu weit weg.

Tanja lacht und nimmt mich in die Arme.
„Ausatmen, Max. Du bist mit Sicherheit nicht der erste junge Mann, der sich in seine Lehrerin verliebt hat. Ich habe ja auch erlebt, wie sie um dich gekämpft hat. Sie ist verantwortungsbewusst. Sie hat das Herz am rechten Fleck. Ich freue mich!"
Ich atme tief durch.
Papa atmet tief durch.
Wir atmen beide wieder aus.

„Max, ich ... brauche vielleicht ein bisschen Zeit, mich dran zu gewöhnen. Aber ich habe absolut nichts dagegen. Ich glaube, ich habe jetzt nur eine Bitte. Ich möchte ihr nicht am Freitag oder Samstag gegenüber treten und mich bei ihr vor aller Augen als erstes entschuldigen müssen. Ich möchte das gerne ausräumen, bevor diese offiziellen Termine kommen. Meinst du, das geht?"
WOW! Warum zweifle ich eigentlich?
Ich schaue ihm direkt ins Gesicht.
„Entschuldige bitte, Papa, dass ich dir nicht zugetraut habe, richtig zu reagieren. Und danke mal wieder für dein Vertrauen. Du musst gar nicht zu Kreuze kriechen. Aber wenn du magst, bringen wir es gleich für uns alle hinter uns. Sie steht Gewehr bei Fuß und kann sofort kommen. Wenn dir das nicht zu schnell geht."

Papa und Tanja schauen sich einen Moment lang an. Dann nickt Papa.
„Wenn es ihr nichts ausmacht und euch nicht zu spät ist. Dann haben wir das alle von der Seele. Frag sie, ob sie herkommen mag."
„Ja ... ja, dann ..."
Tanja gibt mir einen Schubs in Richtung Tür. Im Rausgehen sehe ich, dass sie als nächstes Papa ganz fest in den Arm nimmt. Aber er sieht nicht unglücklich dabei aus.

Ich fliege nach nebenan in die Küche. Tante Jana holt sich grade eine Flasche Wasser und schaut mich fragend an. Ich nicke ihr einfach zu und wähle Annis Nummer.
„Schatz? Ich lebe noch. Und Papa hat gefragt, ob du herkommen kannst, weil er sich gerne für letztes Jahr bei dir entschuldigen möchte, bevor ihr am Wochenende offiziell aufeinander trefft. Magst du?"
Zu meiner Verblüffung fängt Anni an, schallend zu lachen.
Na, das kann ich jetzt ja ganz prima gebrauchen – warum lachen mich eigentlich alle Frauen dauernd aus???
„Könntest du mich mitlachen lassen?"
„Ja, klar! Entschuldige. Du bist echt wie dein Vater. Oder in diesem Falle umgekehrt. Er packt auch einfach den Stier bei den Hörnern und fackelt nicht lange. Das gefällt mir. Muss ich mich hübsch machen?"
„Wehe! Normale Klamotten bitte. Kein Krampf!"
„Bis gleich!"

Tante Jana zwinkert mir zu und geht ins Wohnzimmer zurück. Ich will wieder nach nebenan. Da fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, an welcher Tür Anni jetzt klingeln wird.
Ich Töffel! Was mach ich denn jetzt?
Rausgehen.
Ich schnappe mir mein Schlüsselbund vom Haken bei Seitzens und trolle mich in den Vorgarten. Wenige Minuten später kommt Anni angeradelt und schließt ihr Fahrrad an der nächsten Laterne an.

Auf einmal fällt mir ein riesiger Felsbrocken von der Seele. Stürmisch nehme ich meine Süße in den Arm und drücke sie ganz fest. Kurz schauen wir uns in die Augen und geben uns einen Kuss. Und dann packt mich die Neugierde.
„Wenn ich jetzt nicht rausgekommen wäre – an welcher Türe hättest du geklingelt?"
„Äh ..."
Anni ist verblüfft.
„Intuitiv bei dir, also bei Seitzens. Nach reiflicher Überlegung bei deinen Eltern, denn da will ich ja hin."
„Gut, dann komm."
Gemeinsam gehen wir durch Papas Haustür rein. Ich nehme Anni an der Hand und bringe sie ins Wohnzimmer.

Tanja stellt grade ein weiteres Glas auf den Tisch. Papa steht in der Terrassentür und schaut in den dämmrigen Garten. Er hört uns reinkommen, dreht sich um und kommt unsicheren Schrittes auf Anni zu.
„Frau Süß. Herzlich willkommen! Ich ... weiß gar nicht, wo ich anfangen soll."
Anni reicht ihm die Hand und lächelt.
„Vielleicht einfach vorne? Dann ist das erledigt."

„Gut. Ich möchte mich für mein unmögliches Benehmen im letzten August von ganzem Herzen entschuldigen. Und ich möchte mich bedanken, dass Sie standhaft geblieben sind, dass Sie all die Monate fest an Max Seite gestanden haben. Ich bin sehr glücklich, dass es mir und Frau Hartmann und wem sonst noch nicht gelungen ist, Max zu brechen, weil Sie geholfen haben, das zu verhindern."
Anni lächelt wieder, und ich merke, dass ich endlich, endlich loslassen kann.
Jetzt sind wirklich alle Teile meines Lebens da, wo sie hingehören – beieinander. Was bin ich froh!
„Dann haken wir das jetzt ab und freuen uns gemeinsam, dass Max so ein wundervoller Mensch ist. Denn letzten Endes hätte niemand verhindern können, dass er gebrochen wird, wenn er selbst nicht innerlich so stark wäre. Und das hat er ein kleines Bisschen auch von Ihnen. Sie schieben nichts auf die lange Bank, und das finde ich sehr sympathisch."
„Danke!"
Leises Aufatmen.

Papa dreht sich zum Tisch.
„Setzen Sie sich doch, Frau Süß. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten? Oder sind Sie mit dem Auto da?"
„Neinnein, mit dem Fahrrad. Gerne!"
Papa schenkt uns Wein ein, Anni setzt sich in einen der Sessel, ich hocke mich einfach neben sie auf den Fußboden und lehne mich an ihre Beine. Ich habe grade das Bedürfnis, ihr nahe zu sein. Sie legt leise ihre Hand in meinen Nacken und streichelt mich sanft mit ihrem Daumen. Falls Papa das bemerkt haben sollte, lässt er sich das jedenfalls nicht anmerken. Das Babyphone knackst, und Tanja geht nach oben. Kurz darauf kommt sie mit Katinka wieder runter, setzt sich in ihren bequemen Lieblingssessel und gibt ihr noch eine Ration zur Nacht.

„Frau Süß, ich habe in den letzten Wochen seit Ostern viel von Max gehört. Von Ostern, von Prag, von ‚seiner Anni'. Ich werde vielleicht ein bisschen brauchen, um Sie mit dem Bild, das dabei entstanden ist, zusammen zu bekommen. Aber vielleicht mögen Sie mir auch ein bisschen was erzählen, damit es schneller geht. Ich ... will Sie nicht aushorchen!"
„Ich fühle mich auch nicht ausgehorcht. Ich weiß ja durch Erzählungen viel mehr als umgekehrt. Das ist nur fair."
Anni erzählt ein bisschen von sich. Von ihren Eltern, von ihrer Kindheit in Heisingen, von ihren Outdoor-Aktivitäten.

Und schließlich auch von Silvester und der letzten Attacke von Frau Hartmann. Papas Augen werden dabei immer größer.
„Das heißt ... das heißt, dass ..."
„... Max mir in dieser Nacht das Leben gerettet hat. Ja. Ich gäbe viel drum, diese furchtbare Erfahrung nicht gemacht zu haben. Aber letzten Endes hat es all unsere Zweifel beseitigt und uns beiden bestätigt, dass wir nicht Lehrerin und Schüler oder Glucke und Küken oder reife Frau und Jungspund sind. Wir sind einander wirklich auf Augenhöhe. Sind einander wichtig, einander wertvoll. Also hat es uns letzten Endes Klarheit geschenkt. Und die sechseinhalb Jahre, die zwischen uns liegen, zählen dadurch nicht mehr. Für mich ist Max erwachsen und genau der richtige Mann an meiner Seite."

Katinka scheint eingeschlafen zu sein, denn Tanja legt sie sich locker über den Arm und kommt wieder zu uns dazu.
„Gratuliere, Max. Auch Ihnen! Wir hatten an Neujahr mitbekommen, dass da Unruhe war und du erst irgendwann aufgetaucht bist. Aber WAS da passiert ist, haben wir nicht mitgekriegt. Dir schien es ja gut zu gehen. Die Stimmungshöhen und -Tiefen in den Wochen danach habe ich schon registriert. Frau Hartmann ist ja wirklich ein entsetzliches Weibsstück! Gut, dass ihr Thorsten eingeweiht und alles in den Griff gekriegt habt."

Anni schaut währenddessen völlig fasziniert auf das schlafende Mäuslein auf Tanjas Arm.
„Ich schmelze grade dahin. Das ist ja wirklich eine hübsche kleine Madame. Ich gratuliere Ihnen! Max ist ganz verliebt in seine Schwester, und ich verstehe jetzt sehr gut, warum."
Tanja gähnt.
„Oh, Entschuldigung! Ich ... manchmal ist sie auch nicht mehr niedlich. Sondern vor allem laut. Und weil das immer sehr pünktlich kommt, gehe ich jetzt einfach ins Bett."
Sie steht auf.
„Frau Süß, ich bin froh. Einfach froh. Und ich freue mich darauf, dass Sie nach diesem Wochenende nicht mehr versteckt werden müssen sondern ganz zur Familie gehören können."
Sie reicht Anni die Hand und geht nach oben. Ich könnte heulen vor Glück.

„Da ich morgen früh wieder unterrichten muss, möchte ich mich dann auch verabschieden. Aber ich bin auch sehr froh, dass wir nun entspannt in dieses Wochenende gehen können. Jetzt freue ich mich noch mehr auf die Zeugnisübergabe am Freitag."
Wir erheben uns alle, und Papa verabschiedet Anni freundlich. Ich bringe sie noch zur Tür.
„Darf ich dich einmal totküssen vor Glück?"
Anni schmunzelt.
„Küssen ja. Glück unbedingt. Tot? Nö. Das hat noch ein paar Jahrzehnte Zeit."
Glücklich geküsst und seeeeeehr erleichtert schaue ich ihr hinterher, bis sie um die nächste Ecke verschwunden ist.

mein „Großer"  **   Fr. 19.6.2020

Liebe Marie!

Es hat mir gut getan im März, Dir einen Brief zu schreiben. Und danach war ich schon ein paarmal bei Dir am Grab, habe Max schwungvolle und so symbolträchtige Bepflanzung bestaunt und Dir vorgeschwärmt, was für ein toller Bursche er heute ist. Vielleicht schaust Du uns ja sowieso die ganze Zeit zu und weißt das alles. Aber der Tag heute ist so aufregend wie Deine erste große Premiere am Aalto Theater. Darum muss ich jetzt früh morgens meine Gedanken mit Dir teilen. Sonst schwirrt mir den ganzen Tag lang der Kopf davon.

Es war ein langes, ein hartes Schuljahr für uns alle. Max und Tanja sind durch die Hölle gegangen, durch meine Hölle. Ich bin erst mit dem Kopf durch die Wand und dann in die Psychiatrie gegangen. Unser kleines Wunder Katharina hat sich auf den Weg in ihr Leben gemacht. Jana und ich sind viele, viele Stunden spazieren gegangen, damit wir aufarbeiten konnten, was in den dreizehn Jahren seit Deinem Tod alles schief gelaufen ist. Und heute geht unser „Großer" den nächsten Schritt ins Erwachsenenleben.

Ich staune, staune, staune immer wieder über Max. Er ist grade mal achtzehn, aber in mancherlei Hinsicht erwachsener und klüger, als ich es mit fünfundzwanzig war. Er ist innerlich so stark, so zielstrebig, so positiv. Ich bin so dankbar, dass es mir nicht gelungen ist, ihn zu brechen. Ich bewundere ihn. Ich habe täglich meine Freude an ihm. Wir haben viele Stunden zu zweit und gute Gespräche, bei denen es um ihn, um Dich, um mich und um uns geht. Seine innere Stärke hat es möglich gemacht, dass wir trotz aller Zerreißproben jetzt eine große Familie sind, in der Zugewandtheit, Ehrlichkeit, Freundlichkeit und Vertrauen den Ton angeben. Und diese Gabe hat er von Dir geerbt. Ich war so blind! Dabei war das etwas, was ich an Dir immer so bewundert habe.

Max bekommt heute sein Abiturzeugnis überreicht. Dass es ein gutes Zeugnis mit beeindruckenden Noten ist, finde ich gar nicht so wichtig. Aber dass er es trotz all der Widerstände bis hierhin geschafft hat, dass er nie aufgegeben hat, wie konsequent und ausdauernd er das durchgezogen hat – das beeindruckt mich zutiefst. Ich habe es ihm so schwer gemacht. Und er selbst sich zum Teil ja auch. Er hat eben mein Temperament geerbt. Manchmal sind Mund und Füße schneller als der Verstand. Es ist verwirrend und beglückend zugleich, dass wir das gleichzeitig erkannt haben und nun auch gleichzeitig daran arbeiten. Ich lerne so viel von Max!

Dass Max eine Freundin hat, weißt Du sicher schon viel länger als ich. Als er uns vor zwei Tagen gesagt hat, wer sie ist, musste ich all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um ... Ich weiß gar nicht, was. Ich war so verwirrt und überrumpelt und voller Zweifel, dass erstmal der innere Widerstand rauspoltern wollte. Max hat sich in seine Lehrerin verliebt. Sie ist über sechs Jahre älter! Aber sie sagt selbst, dass Max für sie kein Küken und kein Spielzeug sondern absolut auf Augenhöhe mit ihr ist. Er hat ihr an Silvester das Leben gerettet. Sie waren jetzt schon zweimal zusammen im Urlaub. Das alles ist in einem guten Roman kein Problem, in der Bekanntschaft höchstens ein Zucken mit der Augenbraue – aber der eigene Sohn? Ich bin so froh, dass er das nicht bis heute aufgeschoben hat. Die Vorstellung, dass er mir mitten während der Abiturfeier oder in dem vollen Ballsaal seine Lehrerin als seine Freundin vorstellt ... Ich wäre hoffentlich nicht durchgedreht, aber wahrscheinlich wäre ich erstmal rausgerannt, um das zu verdauen.

Ich habe sie ja nur eine Stunde lang erlebt am Mittwoch. Aber ich konnte in jedem Wort, in jeder ihrer gegenseitigen Gesten erkennen, dass das nicht nur Verliebtheit sondern Respekt, Vertrauen und Liebe ist. Und was die beiden schon mitgemacht haben! Missverständnisse hat es wohl auch gegeben. Aber die verzweifelten Versuche, ihre Beziehung ins Legale zu manövrieren, der Schulwechsel, schließlich die Erpressung – an dem Punkt der Erzählung wurde ihre Stimme ganz wackelig. Max hat mir inzwischen meine Ahnung bestätigt, dass sie auch ihr Päckchen zu tragen hat und diese Geschichte darum besonders schlimm für sie war.

Die Art und Weise, wie er über sie spricht, wie vernünftig er damit umgeht – es beruhigt mich sehr. Und weißt Du – dieses „vernünftig" ist kein ausgebremstes „ich würde gerne", auch kein ängstliches „ich trau mich sowieso nicht". Max hat seine Anni so lieb, dass für ihn an erster Stelle steht, dass es ihr und ihm damit gut geht und sie sich ... Wie sagt er das? „Wir wollen uns nicht selbst überholen."

Ich möchte Dir danken, dass Du Max damals diese Graugans geschenkt hast. Das hässliche Entlein. Den stolzen Schwan. Max hat ihn mir gegeben für meine Zeit in der Klinik. So ward Ihr beide immer bei mir. Ich habe mich manchmal richtig festgehalten an „Euch". Heute werde ich ihm seinen Schwan wiedergeben. So kannst Du auch ganz nah bei uns und an seinem großen Tag bei ihm sein.

Du bist noch immer in meinem Herzen, Marie. Dein Axel

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16.2.2021

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