(10/4) Engelbeweise

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Das Schreien des Mädchens ging Valerio durch und durch. Als sie sich wieder beruhigt hatte und in kräftigen Schüben atmete, war er erleichtert. Einer der Steine, die er weggenommen hatte, musste auf einer gebrochenen Rippe gelegen haben.

Als Antwort auf Scaleas Schmerzensäußerungen erklang hinter der Tür nun ein lautes Jammern, dazu ein dumpfes Stöhnen, dann wieder das Gurgeln und Husten, das er schon einmal gehört hatte. Jemand murmelte unverständliche Worte.

Valerio konnte nichts tun, nicht allein. Verzweifelt wandte er sich wieder Scalea zu, die plötzlich wirkte, als würde sie wieder in Bewusstlosigkeit versinken. Dabei zuckten ihre Augenlider, ebenso wie die Finger.

"Tomaso", rief Valerio in die Dunkelheit hinein. Seine Stimme wirkte dünn. "Ich schaffe das nicht allein! Kannst du herkommen?"

Ein Poltern erklang ganz nahe, es rumpelte zwischen den Trümmern. "Au, verdammt", fluchte der Baumeister und fiel, Arme und Kopf voran, in den Lichtkreis der Fackel hinein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stöhnte er auf. Seine Finger bluteten, auf den Unterarmen und der Stirn hatte er tiefe Kratzer und sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Knurrend biss er die Zähne zusammen und rappelte sich hoch. "Wie soll man hier denn vernünftig stehen können", wetterte er und hatte Mühe, nicht gleich wieder umzufallen.

Valerio sah erstaunt zu ihm auf. "Du bist schon da...", stieß er aus. "Komm, pack mit an. Wir müssen sie von dem Schotter herunter bekommen."

"Mein Gott, die ist ja noch ein Kind", rief Tomaso und kletterte zu Valerio herüber. Umständlich ließ er sich neben Scalea nieder und versuchte für seine Knie einen einigermaßen bequemen Untergrund zu finden.

Valerio dauerte das zu lange. "Nun mach schon, sie braucht Hilfe, sie muss hier raus und aus dem Weg", fuhr er den Baumeister an. "Hinter der Tür sind noch mehr, die können nicht warten... Wir haben gleich alle Hände voll zu tun!"

Er wand sich unter dem Riemen seiner Tasche hindurch und legte sie beiseite, zog seine Tunika aus und stopfte sie Scalea unter den Hinterkopf. Dann machte er sich daran, die Trümmer von ihren Beinen weg zu bewegen, so behutsam und schnell es ihm möglich war. "Pass auf, sei vorsichtig. Sie hat einige Rippen gebrochen", warnte er Tomaso, der nun ebenfalls mit anpackte. "Und ich weiß noch nicht, wie es mit den Beinen aussieht. Beweg sie nicht. Und lass keinen Stein auf sie fallen."

Er wandte sich Scalea zu. "Kannst du mich hören? Fühlst du deine Beine? Kannst du die Zehen bewegen?"

Das Mädchen nickte stumm. Die Schmerzen hatten offenbar verhindert, dass sie wieder bewusstlos wurde. Sie öffnete die Augen und verzog das Gesicht. Die Finger waren unermüdlich in Bewegung, als wollte sie nach irgendeinem Halt greifen. Als Tomaso die letzten Dachpfannen und Mauersteine von ihrem verdrehten Fuß wegnahm, jammerte sie laut auf. Das Licht der Fackel ließ die Tränen in ihren Augen glänzen. Sie konnte ihre Hände kaum still halten, die Zähne schlugen aufeinander.

Valerio beugte sich zu ihr herüber. "Es wird gleich besser", sagte er sanft und legte seine warme Hand an ihre Wange. "Draußen scheint die Sonne! Da vorne ist ein Loch in der Wand, da scheint sie hindurch!" Er zeigte auf den grün schimmernden Lichtflecken an der Seite des Ganges. "Du kannst es jetzt nur nicht sehen. Weil du den Kopf nicht weit genug drehen kannst." Sie wurde still. Sie schien sich Mühe zu geben, das Zähneklappern unter Kontrolle zu halten, sie wollte hören, was er sagte. Er lächelte. Er nickte ihr zu. "Wir bringen dich raus! Ich weiß auch schon, wie..."

Über Scaleas Kopf hinweg griff Valerio nach seiner Tasche. "Tomaso..." Er warf dem Baumeister einen ernsten Blick zu und wies mit dem Kinn zur Tür hinüber. "Kannst du sie öffnen", fragte er halblaut. "Ich komme gleich und... helfe dir. Mach langsam. Vorsichtig." Er wollte nicht laut aussprechen, dass wahrscheinlich jemand direkt vor der Tür lag - nicht, während das Mädchen zuhörte.

Der Baumeister stemmte sich hoch. Auf wackeligen Beinen suchte er sich einen Weg über Schutt und Steine und ruderte dabei mit den Armen in der Luft. "Wir sollten das hier... dringend wegräumen..., darauf kann ja kein Sterblicher...  - verdammt nochmal! - laufen", fluchte er.

"Nicht jetzt", warf Valerio zu ihm hinüber. "Dazu ist keine Zeit. Räum nur die Trümmer vor der Tür weg, und dann öffne den Raum. Ich muss hinein."

Er wandte sich wieder Scalea zu, die zu wimmern begonnen hatte. Sie quälte sich mit dem Geröll in ihrem Rücken. Die unbequeme Lage verstärkte ihre Schmerzen auf unerträgliche Weise. So vorsichtig es ihm möglich war, tastete Valerio ihre Rippen ab, aber sie heulte trotzdem mehrmals laut auf und schluchzte dann, bis der Schmerz wieder einigermaßen nachließ. Valerio drückte beruhigend ihren Unterarm und streichelte ihre Wange. "Das musste leider sein", erklärte er und bemühte sich um eine ruhige Stimme. Er hasste es, wenn jemand Schmerzen hatte, er ertrug es nicht gut - umso weniger, wenn dieser Jemand beinahe noch ein Kind war.

"Du bist sehr mutig und tapfer", sagte er.

Muss... ich sterben?" Ihre Augen hefteten sich auf Valerios Gesicht, als wollten sie darin die Wahrheit über ihr Schicksal finden.

"Nein, was denkst du", sagte er. "Du musst nicht sterben. Deine Rippen haben etwas abbekommen und dein Fuß ebenfalls, aber das heilt wieder, du wirst sehen!"

"Wie... heißt du?"

"Angelino. Ich bin ein Engel." Er zwinkerte ihr zu. "Ich rette dich gerade. Das ist gut, oder?"

Sie lachte nicht. Ihre Augen wurden groß. "Du lügst. Du bist kein Engel."

"Doch. Ich kenne deinen Namen."

Einen Augenblick lang wirkte sie betroffen. Dann sagte sie: "Engel wissen mehr als unsere Namen. Sie wissen alles von uns."

Valerio tat, als ob er überlegte. "Hm... Du bist vorgestern hier angekommen. Zusammen mit drei anderen Mädchen. Du warst die jüngste. Und du warst die erste, der der Zopf abgeschnitten wurde. Die Frau, die das gemacht hat, heißt Maria. Sie hat einen Psalm gesungen. Und du... hast geweint."

Scalea machte noch größere Augen. Aber dann schüttelte sie den Kopf. Sie schien es wirklich wissen zu wollen.

"Nur Gott sagt, dass man ein Engel ist. Man darf das nicht selbst von sich sagen. Das ist Sünde."

Valerio lachte. "Nicht, wenn man wirklich einer ist!"

Sie schaute ihn ungläubig an, dannn wirkte sie plötzlich sehr wach. Misstrauisch betrachtete sie ihn. Ihre Schmerzen schienen in den Hintergrund gedrängt. Einen Moment lang hing ihr Blick  abschätzend an seinen Augen fest. Dann wanderte er weiter über sein Gesicht. Sie besah seinen Mund, das Kinn, Stirn und Nase, seine Haare... bis sie schließlich wieder bei den Augen ankam. Dann nickte sie ernst. "Ich glaub dir. Weil du aussiehst und sprichst wie einer." Plötzlich fiel ihr noch etwas ein.

"Aber Singen musst du auch noch können. Dann bist du wirklich ein Engel."

Valerio hatte bereits die Tasche geöffnet. Seine Finger suchten die Flaschen. "Ich kann singen", murmelte er abwesend.

"Alle Engel können singen. Sing was. Etwas über Gott."

Er bemühte sich um ein Lächeln. "Na, du weißt ja viel über Engel..." Er warf einen schnellen Blick zu Tomaso hinüber, der um den Türrahmen herum die Wände abklopfte. Er beugte sich zu ihr hinunter,  wies mit den Augen zu dem Baumeister hinüber und flüsterte: "Ich kann hier nichts singen... Er dort.... er versteht nichts von Engeln. Er würde mich für verrückt halten, wenn ich hier jetzt singe."

Sie lächelte zurück, kurz nur und flüchtig. Dann verzog sie plötzlich das Gesicht, sie atmete unregelmäßig und in ihren Augen flackerten erneut Schmerz und Angst auf. "Wenn du nicht... singen kannst", presste sie hervor, "dann... bist du... eben keiner."

Obwohl Scalea ganz offensichtlich unter den Schmerzen litt, meinte Valerio auch so etwas wie Enttäuschung aus ihren Worten heraus zu hören. Er ließ den Blick über ihr mageres Gesicht wandern. Ihre schmalen Lippen waren selbst im gelben Feuerschein schneeweiß. Sie presste sie aufeinander, zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, die Nase unter den großen Augen wirkte klein und spitz. Nach wie vor hing ihr fiebernder Blick an ihm, als hoffte sie, dass er sie doch noch überzeugte.

"Du kannst mich nicht retten", hauchte sie schließlich. "Weil... du gar kein Engel bist."

"Doch. Bin ich", sagte Valerio entschieden und hoffte, dass ihr nicht auch noch einfiel, dass er gar keine Flügel hatte. "Ich kann es beweisen. Ich habe Engelmedizin. Ich habe sie extra wegen dir dabei. Weil ich wusste, dass du sie brauchen wirst."

Er maß ihren kleinen, dünnen Körper mit den Augen, versuchte ihr Gewicht abzuschätzen. "Ich habe sie bei mir, siehst du", flüsterte er und zeigte ihr die kleine Flasche. "Sie hilft gegen alle Schmerzen, die man sich vorstellen kann..." Konzentriert wandte er sich dem Licht der Fackel zu. "Sogar gegen Angst..." Er zog den Korken von der Flasche und goß den kleineren der beiden Maßlöffel beinahe bis an den Rand voll. Dann ließ er einen geringen Teil der milchweißen Flüssigkeit wieder in die Flasche zurück laufen.

Er warf einen prüfenden Blick in Scaleas weißes Gesicht. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und Nase. Sie zitterte noch heftiger als zuvor. Sie musste jetzt starke Schmerzen haben.

"Engelmedizin. Hier. Trink das." Er hob ihren Kopf nur wenig an, um ihren Oberkörper nicht zu sehr zu bewegen. "Alles... leck auch den Löffel aus. Gleich wird es besser."

Das Mädchen tat, was er sagte. Sie umklammerte seinen Arm, mit dem er sie stützte. Sie trank die bittere Flüssigkeit. Beim Auslecken des Maßlöffels verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. Dann sank sie gegen ihn zurück. Ihr Ächzen und Stöhnen, während er sie wieder herunter ließ und der flache, schnelle Atem, bis es wieder erträglicher wurde, brachen Valerio beinahe das Herz. Er konnte ihre Schmerzen nachfühlen. Er hatte schon Männer mit gebrochenen Rippen weinen gesehen, wenn sie nur zu atmen versuchten.

Valerio wartete. Er sah zu Tomaso hinüber, der bereits einige der größeren Brocken vor der Tür weggeschafft hatte.

"Tomaso! Wie sieht es aus? Meinst du, wir können sie aushängen? Wir hätten mehr Platz..."

Der Baumeister ächzte, als er ein Fragment aus Putz und Mauersteinen beiseite hob. Na... ich denke... dem steht nichts im Weg. Tür und Rahmen...", er richtete sich auf und drückte das Kreuz durch, "sind fest ummauert bis hoch zur Decke." Er rieb die trockenen Handflächen aneinander und klopfte den Staub herunter. "Aber wir müssen zusehen, dass wir sie zu packen bekommen", fuhr er fort. "Es kommt also darauf an, wie weit sie sich nach innen öffnen lässt."

Valerio nickte. Beide wussten sie, die Rede war von Trümmern und Menschen, die womöglich die Tür auf der Innenseite blockierten.

Die Fackel duckte sich plötzlich im Luftzug und ging beinahe aus. Sie würde nicht mehr lange brennen. Valerio war klar, dass sie sehr bald Hilfe brauchen würden. Allein kamen sie hier nun nicht mehr sehr weit. Sie mussten sich etwas einfallen lassen, mussten irgendwie auf sich aufmerksam machen... Gleich... Gleich würde er sich darüber Gedanken machen. Eines nach dem Anderen! Sein Blick ging zu Scalea zurück.

Dem Mädchen fielen schon beinahe die Augen zu. Mit Mühe und eisernem Willen hielt sie sie offen. Sie wirkte bereits ruhiger, in sich gekehrt, und doch wollte sie sich nicht ohne Kampf in die bleierne Müdigkeit ergeben, die sie mit Macht überkam. Ihr Starren wurde intensiver. Sie blinzelte sehr langsam. Ihre Gesichtszüge erschienen Valerio entspannter. Stumm begann ihr Blick mal hierhin, mal dortin zu wandern, langsam und ruhig, als läge sie in einem schönen Raum auf einem bequemen Bett.

Valerio nahm ihre schmale, kalte Hand in seine und wärmte sie. Da schloss sie die Augen... Er spürte, wie das Zittern weniger wurde. Sie atmete bereits in tieferen, gleichmäßigeren Zügen. Einmal noch hob sie die schweren Lider und er beugte sich zu ihr hinunter, damit sie ihn sehen konnte. "Schlaf", flüsterte er. "Ich bring dich raus." Er spürte, wie sich ihre Hand in seiner entspannte. Dann fielen ihr die Augen zu und ihr kleiner Kopf sackte über seinen Unterarm zurück.

Vorsichtig zog Valerio seine Tunika unter ihrem Kopf weg und legte sie ihr auf die Brust. Er griff nach seiner Tasche, ließ die kleine Flasche hinein gleiten und nahm den Riemen über die Schulter. Dann schob er den Arm unter Scaleas Kniekehlen hindurch, atmete tief ein und wieder aus - und hob ihren dünnen Körper in einer fließenden Bewegung an. Wie aus einem tiefen Traum heraus gab Scalea einen letzten schwachen Protestlaut von sich, dann war sie still. Der Schmerz erreichte sie nicht mehr. Der linke Arm hing schlaff herunter. Valerio verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen, ließ ihren Kopf gegen seine Brust rollen und richtete sich auf.

Ende Teil 78





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