(10/3) Die Heilige Klara

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Er hörte noch, wie Tomaso hinter ihm fluchte, doch er wandte sich nicht mehr um.

Er nutzte die größeren Fragmente, die von der Decke des Säulenganges stammten und überall zwischen den kleineren Steinbrocken lagen. Sie hatten ebene, aber auch gewölbte Flächen. Die meisten saßen fest auf dem Schutt, sie boten seinen Füßen einen einigermaßen sicheren Halt. Teilweise waren auf den Bruchstücken noch die alten Deckenmalereien zu erkennen... Im zuckenden Licht der Fackel erschien es ihm, als würden sich die Ranken und Ornamente bewegen, aber er ließ sich nicht ablenken. Auf keinen Fall durfte er die Fackel fallen lassen! Sie war das einzige Licht, das sie besaßen - und auch ein verletzter Knöchel würde ihnen mehr Schwierigkeiten bescheren, als sie bereits zu meistern hatten. So nahm er alle Konzentration zusammen, um nicht neben die Steine zu treten, die er für seine Schritte und Sprünge auswählte.

Seltsam, wie viel freier und beweglicher er sich ohne den Baumeister fühlte ... Er kam schnell vorwärts. Bald fand er wie von selbst den nächsten Stein, die nächste Fläche. Seine Sinne waren jetzt wach wie noch nie. Es war, als sei der Teil, der von Angst und Hilflosigkeit beherrscht war, endlich von ihm abgefallen. Jetzt war es ein schwelender, vibrierender Wahnsinn, der ihn antrieb, ein Irrsinn, in dessen unruhigem Flattern er zwar noch Gefahr und Risiko wahrnahm, jedoch so, als sei dies hier nur ein aufregendes Spiel, das man gewinnen oder verlieren konnte. Er dachte nicht an seinen eigenen Tod. Er fühlte sich unsterblich. Diese Ruine war ein dunkles Tier, das er bezwingen wollte. Es musste seine Opfer hergeben, dafür würde er sorgen.

Caterinas Stimme war es, die er gehört hatte, er war sich so sicher - mochte der Baumeister denken, was er wollte, es war mehr und anderes als Regenrauschen gewesen. Caterina lebte, und sie war hier irgendwo! Wie eigenartig, dass sie gesungen hatte, dachte er, während er weiter die Steine unter seinen Sohlen im Blick behielt. Aber hatte sie nicht schon einmal gesungen, als man es am wenigsten von ihr erwartete - als man ihr die Haare abschnitt? Warum sollte sie nicht auch jetzt singen, da sie hier eingeschlossen war! Er hatte sie gehört, er war sich sicher. Nur das zählte.

Seine Füße flogen über die Trümmer. Instinktiv fand er bei jedem Schritt und Sprung neuen Halt. Seine Kletterei auf den Dächern und Mauern, die er vor Jahren begonnen hatte, zahlte sich nun aus. Geschicklichkeit, Kraft, Ausdauer und Balance waren genau das, was er jetzt gebrauchen konnte.

Die erste Tür erschien im Fackelschein - es brauchte nicht lange, und er hatte sie hinter sich gelassen. Nun waren es nur noch wenige Meter bis zum Kartenraum.

Seit er die Tür passiert hatte, fehlten plötzlich die Deckenfragmente aus dem Säulengang, auf denen er so sicher und schnell vorwärts gekommen war. Er nutzte nun die überall herum liegenden Bruchstücke aus der Mauer in der Hoffnung, dass sie fest genug zwischen dem Schutt lagen, um nicht weg zu rutschen. Manche zerbrachen, wenn er darauf sprang. Er musste aufpassen.

Aber dort war schon die zweite Tür! Er beschleunigte sein Tempo. Mit dem nächsten Sprung nach vorne steuerte er eine rundlich gewölbte Fläche an, die sich grau und staubig von den Steinen und Dachpfannen abhob, es mochte ein Stück Säule aus dem Gang sein. Er machte einen Satz zu dem Säulenfragment hinüber, kam mit den Fuß auf und wollte gerade die Arme zur Hilfe nehmen, um sein Gleichgewicht zu finden, als er abrutschte und zur Seite fiel. Noch im Sturz umklammerte er die Fackel. Der Schmerz, der Ellenbogen und Hüfte durchzog, als er hart auf die Steine aufschlug, ließ ihn laut aufstöhnen.

"He! Alles klar, Junge?" Tomasos raue Stimme hallte aus dem Dunkel des Ganges zu ihm herüber.

Valerio antwortete nicht. Schnell griff er nach der Fackel, die brennend neben seinem schmerzenden Arm lag. Mühsam kam er mit dem Oberkörper auf den scharfkantigen Steinen hoch und sah.... das Gesicht. Es ragte knapp aus den Trümmern hervor.

Es war steingrau. Im ersten Moment erschrak er zu Tode, aber dann fing er sich wieder. Die Statue der heiligen Klara von Assisi! Hatte sie nicht hinten neben der ersten Tür an der Wand gestanden? Sie musste zusammen mit den Trümmern bis hierher geschoben worden sein!

Der Schmerz sang in seinem Ellenbogen. Vorsichtig, zögernd streckte er die freie Hand aus. Er hatte das Gesicht der Heiligen Klara noch nie berührt. Vielleicht konnte sie jetzt helfen, sie alle vor dem Schlimmsten beschützen! Als er den Staub von der gewölbten Stirn wischte... kam ein Stück weißes Tuch zutage.

Er erstarrte vor Schreck. Schnell raffte er sich auf. Der Schein der Fackel zuckte über die von dickem, körnigem Staub überlagerten Konturen des Gesichts.

"Tomaso.... Tomaso! Hier liegt jemand!"

Im ersten Moment vergaß er vollkommen, dass Tomaso dort hinten im Dunkeln hockte und darauf wartete, dass er mit der Fackel zurück kam, doch dann erinnerte er sich. Der Baumeister konnte nicht in völliger Dunkelheit über den Schutt zu ihm herüber kommen! Er selbst hätte es auch ohne Licht gewagt - aber der Baumeister hatte nicht seine Geschicklichkeit und Erfahrung, er besaß nicht seine trainierten Reflexe. Er war allein. Fieberhaft suchte er dort, wo er kniete, eine Lücke zwischen den Steinen und schob den Stiel der Fackel hinein. Er brauchte Licht. Und er brauchte seine Hände.

"Lebt sie noch?", rief Tomaso zu ihm herüber. Das Echo wisperte zwischen den Wänden. Valerio stellten sich die Haare an den Unterarmen auf.

Seine Stimme erschien ihm eigenartig fremd, als er halblaut antwortete - zu leise wohl, als dass Tomaso ihn gehört haben konnte. 

"Ich... Ich weiß nicht..."

Er würde jetzt nicht mit Tomaso reden, der Baumeister konnte von dort hinten sowieso nicht helfen! Valerio packte den ersten Steinbrocken, den er unterhalb ihres Kinns greifen konnte, und stemmte ihn zur Seite. Der nächste gab einen Teil der Schulter frei. Er arbeitete fieberhaft und ohne nachzudenken, er begann den Oberkörper frei zu räumen, dann nahm er den Ärmel seiner Tunika und wischte hier und da ein wenig Staub von ihrem Gesicht herunter. Die Züge waren ihm fremd, er kannte sie nicht - oder vielleicht war ihr Gesicht auch durch Schwellungen verändert.... bei dem wenigen und unsteten Licht, das die Fackel spendete, ließ sich das nicht sagen. Aber Caterina war es nicht, soviel stand fest.

Mit der Hand stützte er ihren Nacken, drehte ihren Kopf vorsichtig ein wenig zur Seite. Er beugte sich über sie, dabei hielt er sich die Haarsträhnen, die er aus seinem Zopf verloren hatte, aus dem Gesicht weg. Er brachte sein Ohr dicht an Nase und Mund heran. Ob sie noch atmete, ließ sich nicht feststellen. Die Zugluft über dem Boden war zu stark. Aber er roch Blut. Er hob ihren Schleier unter dem Kinn ein wenig an und legte seine Fingerspitzen an ihren Hals, gleich unterhalb des Kiefers...

Ein Geräusch hinter der Tür ließ ihn aufhorchen. Jemand hustete dort. Dann hörte er eine weitere Stimme. Sie klang schwach. Und jung.

"Hilfe... Ist da...?" Ein erneutes Husten unterbrach die Worte.

Wie viele Überlebende gab es? Das würde er niemals alleine schaffen!

"Tomaso! Kannst du...?"

Er fühlte keinen Puls. Aber in der Aufregung bedeutete das noch gar nichts. Er zerrte ein Mauerfragment vom Körper der Frau herunter. Er bemühte sich, sie zumindest bis zum Bauch von dem Schutt zu befreien, unter dem sie begraben lag. Sie rührte sich nicht. Ihre Beine lagen noch unter den Trümmern. Nirgendwo war Blut zu sehen, bis auf einen kleinen Fleck, der an der Stirn durch den Schleier gesickert war... Er musste ihre Beine frei bekommen und sie hier wegschaffen, auf ebenen Boden.

"Tomaso! Ich brauche dich hier! Kannst du irgendwie herkommen?"

Er legte seine Handfläche auf ihren Bauch und hoffte auf ein Heben und Senken, das eine vorhandene Atmung anzeigen würde.

"Witzbold", rief Tomaso und störte damit Valerios Konzentration. "Herkommen...? Ha! Wie stellst du dir das vor? Soll ich mir beide Beine brechen?" Seine Stimme hallte durch den Gang. Nach kurzer Pause fügte er an: "Es war deine Idee, mit der Fackel loszulaufen, Junge. Sieh zu, was du da vorne ausrichten kannst! Denk dir was aus! ...Wo liegen sie denn? Wie viele?"

 Valerio hustete im Staub, den er aufgewirbelt hatte.

"Eine ist hier bei mir... im Gang. Ich weiß nicht, ob sie lebt. Hinter der Tür hustet jemand. Und jemand anders hat dort eben... gesprochen."

"Öffne die Tür vorsichtig, Junge, hörst du? Langsam! Hör auf Geräusche von oben..."

Es rumpelte leise aus dem Dunkel dort hinten, das Geräusch eines über den Boden rollenden Steines klang von den Wänden wider. Valerio hörte Tomaso ächzen und fluchen.

"Verdammt... Verdammt, Junge! Warte... Ich versuche herüber zu kommen!"

Valerio hatte nur halb hingehört. Er wandte sich zur Tür um. Er musste mit ihnen sprechen. Über die Schulter rief er: "Hallo..., da drinnen, im Kartenraum!"

Ein kläglicher Laut drang durch die Tür zu ihm heraus, ein Husten folgte.

Hallo! Ihr da drinnen! Wir sind hier, wir helfen euch! Habt Geduld, wir müssen nur die Tür auf bekommen... das wird einen Moment dauern."

Wieder ein Husten, diesmal klang es anders. Rasselnd und gurgelnd.

Er warf einen Blick ins Gesicht der jungen Frau, die noch halb unter den Steinen begraben lag. Sie schien immer noch bewusstlos, aber das konnte man unter diesen Umständen auch einen Vorteil nennen... Je weniger sie mitbekam, desto besser war es. Aber solange sie hier lag, war er ratlos, was er für sie tun konnte. Wenn sie jetzt die Tragetücher hätten! Und mehr Licht - und Helfer! Er beugte sich näher zu ihr herunter. Er musste auf Tomaso warten, allein konnte er sie hier nicht weg bewegen...

Der Baumeister hatte Recht gehabt, dachte er - Dieser Untergrund stellte ein gewaltiges Problem dar! Weder konnten sie hier die Verletzten vernünftig lagern, noch hatten sie selbst einen festen Stand auf all diesen Steinen und Dachschindeln.

Er hob den Kopf und warf einen Blick voraus durch den Gang. Der Trümmerteppich zog sich noch ungefähr drei Meter weiter an der Tür vorbei, dann schien der Boden freier zu werden... Und dahinter, wohin das Licht der Fackel nicht mehr reichte, lag im Dunkeln der Aufgang zum Treppenhaus. Es war nicht mehr als eine unausgegorene Idee, ein Blitz in der Dunkelheit - etwas, das immer wieder kurz aufzuckte, zu kurz, um aus einem Gedanken einen Plan werden zu lassen. Wenn er hier jetzt nicht beschäftigt wäre, wenn sie Helfer hätten! Er musste herausfinden, ob das Treppenhaus zu nutzen war!

Die scharfkantigen Ecken des zerbrochenen Mauerwerks bohrten sich schmerzhaft in Valerios Beine und riefen ihn aus seinen Gedanken zurück. Er verlagerte sein Gewicht auf den Trümmern.

"He...", sagte er und berührte die Schulter der Novizin, rüttelte sie ein wenig. Sie gab kein Lebenszeichen von sich. Versuchsweise drückte er ihre leblose Hand.

"Hey..., kannst du mich hören? Hörst du mich?"

Er zog die Fackel zwischen den Steinen heraus und brachte das Licht näher an ihr Gesicht heran. War es der Luftzug, der die Flamme bewegte - oder war da gerade ein Zucken um ihren Mund gewesen? Valerio war sich nicht sicher... Zögernd nahm er seinen Ärmel und wischte noch einmal über ihre Augenlider, entfernte mehr von dem schweren, körnigen Staub, der sich hartnäckig über ihr Gesicht gelegt hatte.... und blickte plötzlich in starre, trübe Augen.

Das schwache Licht hatte die dicke Staubschicht über den Augäpfeln wie geschlossene Lider aussehen lassen. Sie waren nicht geschlossen gewesen.Da war kein Leben mehr in diesem Blick. Sie war tot.

Im ersten Moment konnte er nicht glauben, was er sah. Dann wurde er plötzlich wach. Ein furchtbares Grauen packte ihn, er nahm seine Hände von ihr zurück und sprang auf die Knie, so dass die kantigen Steine in seine Schienbeine und Handflächen schnitten. Eine Sekunde später war er auf den Füßen, die Fackel in der Hand stolperte er rückwärts von ihr weg... und trat beinahe auf einen staubbedeckten Arm, der neben seinem Stiefel zwischen den Steinen lag.

Die furchtbare Realität der Situation kam mit einem Mal über ihn. So hatte er sich das nicht vorgestellt! Er musste jetzt die Nerven bewahren, er musste sich konzentrieren!

"...Tomaso! Wo bleibst du!"

Er rammte die Fackel in die Trümmer, griff wahllos nach allem, was sich bewegen ließ und räumte den Arm beinahe bis zur Schulter frei. Erst jetzt konnte er abschätzen, wo sich der Kopf befinden musste... Er nahm jeden Brocken, jeden Stein einzeln weg, er arbeitete schnell und wie im Fieber. Wie viele Frauen lagen hier draußen? Er musste vorsichtig mit den Steinen sein, die er wegräumte - wie schnell konnte er sie dorthin stapeln, wo noch jemand unter dem Schutt begraben lag... Und war er hier nicht eben gerade noch gelaufen? War er womöglich, ohne es zu bemerken, auf ihren Kopf getreten, der unter den Steinen lag? Auf ihr Gesicht? Und was war mit der Stelle, auf der er jetzt hockte? Was alles verbarg sich unter den Metern von Steinen, Dachpfannen und Putzfragmenten, die sich hier vor der Tür ausbreiteten?  Wenn er nur mehr Licht hätte! Und mehr Hände!

Sie waren ganz still! Sie haben sich nicht bewegt!

Evelinas Worte geisterten durch seinen Kopf. Das hatte sie gemeint. Sie hatte nicht sagen können, wie viele es waren - wie konnte sie auch!  Er wusste es ebenso wenig.

Erschöpft wischte er sich die Stirn mit dem Ärmel ab. Vielleicht war sie bewusstlos, dachte er, vielleicht lebte sie nicht mehr... Sie schien nicht sehr groß zu sein, er sah es an ihrer Hand und dem zierlichen Arm. Schnell hatte er beide Schultern und den Kopf von Schutt und Dreck befreit. Schleier und Haube waren vollkommen verdreht, so dass das Gesicht bedeckt war... als er beides vorsichtig von ihrem Kopf herunter zog, lag ihr Gesicht plötzlich vor ihm im Feuerschein. Es war blass. Weiß wie der Schnee auf dem Monte Subasio. Nase, Mund und Kinn waren blutverschmiert. Sie hatte ihre Unterlippe durchgebissen.

"Hey... Hey. Hörst du mich?"

Er strich mit der Hand fest über ihren Unterarm, nahm ihre Hand, drückte sie.

"Hey..."

Langsam öffnete sie die Augen. Umgeben von dunklen Schatten glänzten sie blassgrau im Licht der Fackel. Valerios Herz weitete sich, dass es schmerzte. Er gab einen eigenartigen Laut von sich. Sie hörte und sah ihn! Sie war wach! Dieses zähe, dünne, kleine Mädchen... wer hätte das gedacht! Vorsichtig schob er beide Hände unter ihren mit struppigen, dunkelblonden Haarresten bedeckten Kopf und hob ihn an. Nur ganz wenig, von den Steinen weg, damit sie es bequemer hatte. Er hoffte, dass ihre Wirbelsäule in Ordnung war. Sie tat keinen Mucks. Das konnte ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein...

"Scalea?"

Sie starrte ihn verwirrt an - Offenbar wusste sie nicht, was geschehen war, auch kannte sie ihn nicht. Allein ihr Name schien ihr etwas zu sagen.

Ihr Blick ging immer wieder zwischen seinem Gesicht, der Fackel und der düsteren Umgebung hin und her. Sie atmete, aber es wirkte angespannt und verkrampft. Panik stieg in ihren Augen auf, er konnte es sehen. Sie hob die Arme ein wenig, gab einen jammernden Laut von sich, dann ließ sie sie wieder sinken. Sie musste starke Schmerzen haben... Er sprach mit ihr, redete auf sie ein mit Worten, hinter denen kaum Sinn und Überlegung stand. Leise und beruhigend murmelte er, was ihm gerade einfiel. Sein Magen regte sich, ihm war übel. Ihre Arme waren ihm aufgefallen. Sie konnte sie nicht heben. Er hoffte auf eine gebrochene Rippe oder zwei, aber wenn es die Wirbelsäule war...

Langsam ließ er ihren Kopf auf seiner Hand absinken. Die Spitzen und Kanten der Trümmer bohrten sich in seinen Handrücken... mit der anderen  Hand versuchte er die letzten Steine von ihrem Brustkorb weg zu nehmen, einen nach dem anderen. Ihr plötzlicher, wilder Schrei traf ihn bis ins Mark.

Ende Teil 77


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