(11/8) Lazzaro

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Aus seiner Ecke heraus sah Valerio sich unter dem Zeltdach um. Mehrere Gestelle mit Fackeln spendeten Licht, aber auch auf dem Boden gab es zwei Kohlebecken, die Licht und Wärme abstrahlten. Er war allein, niemand war mehr da, weder Verletzte noch Tote - oder die Heiler, von denen der Mönch gesprochen hatte. Dort hinten an der Ruine waren mindestens zwanzig Menschen versammelt - er vermutete, dass die Heiler dort beschäftigt waren, denn offenbar hatte man ja noch einen oder sogar mehrere Vermisste gefunden.

Er wusste nicht, wie lange er im Treppenhaus gelegen hatte, nachdem die Ruine in sich zusammen gefallen war. Seit er wieder zu Bewusstsein gekommen war, musste einige Zeit vergangen sein, denn unter dem Zeltdach lag niemand mehr. Nur ein Haufen benutzter Verbände sowie Schalen, Schüsseln und blutgetränkte Tücher zeugten noch von vergangener Geschäftigkeit.

Ganz hinten an der gegenüber liegenden Seite entdeckte er eine Matte, deren eine Hälfte dunkel war von getrocknetem Blut. Er erkannte eine feine Säge, blutige Schnüre - und die große grüne Flasche mit dem Schlafmohnsaft, um den er am Mittag mit Anna gestritten hatte. Dort hinten mussten sie den Arm abgenommen haben. In dem flachen Kohlebecken, das nahe an der Matte stand, lag noch das Eisen. Valerio war zufrieden mit den Schnüren, von denen es mehrere gab und die offensichtlich zum Abbinden verwendet worden waren. Morgen würde er nach den Verletzten sehen... ganz sicher würde man ihn zu Annas Unterstützung in der Krankenstube einsetzen und ihn so lange von anderen Diensten befreien, bis die meisten Verletzten wieder auf den Beinen waren.

Ein Mönch näherte sich dem Lager. Er trug einen dampfenden Kessel mit sich, es mochte Wasser sein, das er auf einem der Feuer erhitzt hatte. Als er unter das Dach kam und Valerio sah, stutzte er.

"Oh! Ein später Patient. Friede sei mit dir." Er nickte Valerio zu, wobei er aus runden blauen Augen lächelte. "Lazzaro bin ich. Heiler. Drüben bei den Franziskanern."

"Valerio."

"Valerio... und ebenfalls Heiler", ergänzte Lazzaro und lächelte erneut.

Valerio sah ihn erstaunt an. Er selbst hätte nicht sagen wollen, dass er ebenfalls ein Heiler war - es erschien ihm nicht angebracht, da dieser Mönch hier nun bereits seit Stunden seine Arbeit verrichtete und er sekbst sich jetzt außerdem auf der Seite der Verletzten wiederfand, er brauchte Behandlung. Es war in diesem Augenblick nicht wichtig, wer oder was er war.

Ja, Heiler. Das ist richtig", entgegnete er dennoch, als er seine Fassung wieder erlangt hatte. "Man spricht über mich?"

Der Mönch zuckte mit den Schultern. "Das weiß ich nicht. Gäbe es denn etwas über dich zu reden? Du hast jedenfalls wesentlich weniger Wunden als Blut an Dir. Ein guter Teil davon wird nicht deines sein. Du hast Verletzten geholfen, vermute ich."

Valerio musterte den Franziskaner. Er war klug. Er schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre, vielleicht etwas älter. Seine Hände wirkten groß im Verhältnis zu dem eher schmalen Körperbau und er hatte eine schmale Nase und ebenso schmale Lippen in dem rundlichen Gesicht. Nichts an ihm passte zueinander, selbst die buschigen dunklen Augenbrauen standen im seltsamen Kontrast zu dem feinen, schütteren Haar, das die Farbe von Winterheu aufwies.

Lazzaro hatte bemerkt, dass Valerio ihm nicht widersprach.

"Dann stimmt es also - du hast an der Ruine geholfen? Kommst du aus der Stadt oder aus der Ebene?"

Der Mönch war freundlich und meinte es gut, aber Valerio war nicht zum Reden zumute. Um nicht unhöflich zu erscheinen erklärte er: "Weder noch. Ich lebe mit meiner Mutter am Hang, an der Stadtmauer. Aber gelernt habe ich das Heilen und die Kräuterkunde hier im Kloster, nicht da draußen."

Der Franziskaner staunte. "Aber das hier ist eine Gemeinschaft von Weibern! Es ist bekannt und üblich, dass sie Studenten aufnehmen, das Kloster muss ja irgendwie zu Geld kommen. Aber ein Nonnenkloster! Warum hast du nicht bei uns gelernt? Unsere medizinischen Kenntnisse sind die besten weit und breit."

"Ihr seid gut", antwortete Valerio und wies zu der blutigen Matte hinüber, auf der die Schnüre lagen. "Das Abbinden ist noch weitgehend unbekannt in der Welt."

"Nun, es wird sich schon verbreiten", lächelte Lazzaro. "Immerhin... Du hast davon gehört." Er schmunzelte und zwinkerte mit seinen runden Augen. "Dann verbreitet sich unsere Kunst also."

"Ja... und nein. Die Heilerin dieser... Weibergemeinschaft... hat es mir vor Jahren beigebracht. Vor fünf Jahren, um genau zu sein."

Beide schwiegen einen Moment. Der Franziskaner runzelte die Stirn, nachdenklich musterte er Valerio, dann wandte er sich seinem Kessel zu.

Da die Unterhaltung, die er nicht gewollt hatte, nun einmal im Gang war, nutzte Valerio die Gelegenheit und fragte: "Ist es denn gut gegangen? Wie hat sie es überstanden?"

Lazzaro bedachte ihn nun mit einem tadelnden Blick; Valerio war sich nicht sicher, ob er diesen ernst nehmen oder für gespielt halten sollte. "Du scheinst noch kaum mehr als grün hinter den Ohren zu sein, junger Medicus. Darfst du denn innerhalb dieser Mauern nach bestimmten Frauen fragen?"

Valerio spürte, wie sein Kiefer sich anspannte. "Ich habe sie unter Trümmern ausgegraben, ihre Wunden versorgt und sie hinaus gebracht. Ja, ich denke, ich darf fragen." Er wusste, dass sein Blick nun sicher nicht wenig provokant war, aber er war müde und hungrig - und er hatte kein Verlangen nach künstlicher Freundlichkeit, wenn man ihm das Recht auf Auskunft über seine Patienten absprach.

Der Mönch dachte einen Moment nach, dann schien ihm ein Licht auf zu gehen. "Dann bist du der Angelo, von dem die Schwestern sprechen! Du bist der Mann, der in die Ruine hinein geklettert ist, zusammen mit dem Baumeister!" Er sah ihm neugierig ins Gesicht. "Aber was denn nun - Angelo oder Valerio?"

"Hier nennt man mich Angelo. Eine Angewohnheit der Nonnen. Sie gaben mir diesen Namen in meinem ersten Jahr im Kloster. Angelo - und dabei ist es dann geblieben. Für die meisten jedenfalls. Ich war noch ein Junge, als ich mit dem Studium der Heilkräuter begann... also... spricht man doch über mich?"

"Man hält dich für tot. Und auch den Baumeister, er ist noch verschwunden. Ist er denn nicht mir dir hinaus gekommen?"

Die Worte Lazzaros versetzten Valerio einen Schlag. Wie konnte er Tomaso vergessen! Erschrocken schüttelte er den Kopf. "Nein... er war zuletzt nicht bei mir. Wir mussten getrennte Wege gehen. Es war keine Zeit, ich konnte nicht zu ihm hinüber... Die Decke brach ein, als wir gerade an verschiedenen Stellen im Gang waren. Ich konnte mich in das kleine Treppenhaus retten. Ob er es ebenfalls geschafft hat, weiß ich nicht. Hat ihn denn niemand gesehen?"

Der Mönch schüttelte den Kopf. "Tot nicht. Aber auch nicht lebendig. Es sieht wüst aus da vorne." Er deutete zur Ruine hinüber. "Wer jetzt nicht hier ist und lebendig, der ist wohl verloren. Jedenfalls war ich eben noch bei den anderen, und niemand gab mir Bericht über einen weiteren Mann, der gerettet wurde."

"Aber man hat jemand gefunden, ich habe sie jubeln gehört. Wer war das?"

"Ein Helfer aus der Stadt hatte seinen Sohn mitgebracht. Als die Ruine einstürzte, stand der Junge nahe an dem Loch, durch das gerade die Toten hinaus gebracht wurden. Ein Stein traf ihn am Kopf und wir dachten lange, er sei tot. Niemand schien in der Dunkelheit und bei der Aufregung zu bemerken, dass er noch atmete. Der Vater betrauerte ihn schon einige Zeit und war völlig außer sich über den Verlust, als der Junge plötzlich vom Boden hochkam und zu reden anfing. Die Freude und Überraschung war unbeschreiblich, manche weinten sogar, so erschrocken waren sie. Was für ein Wunder - im Angesicht dieses Unglücks. Für uns geringe Wesen sind Gottes Wege unvorhersehbar und beinahe unverständlich." Er hob den Zeigefinger. "Aber nur beinahe. Wenn man die Welt genau beobachtet, erkennt man hinter der Fügung Gottes den wunderbaren Plan."

Valerio war übel. Er begann zu frieren.

"Na komm, lass mich deine Wunden ansehen. Da kommt jetzt niemand mehr. Bruder Annunzio, der andere Heiler, den wir mitbrachten, sitzt draußen am Feuer und isst und trinkt mit den anderen Brüdern. Er hat es sich verdient. Aber ich bin noch da."

"Wir haben eine eigene Heilerin. Anna." Er wusste, das klang nicht sehr freundlich. Er hatte keine Kraft für mehr Diplomatie. "Schwester Camilla müsste schon wieder hier sein, sie wollte sie holen", ergänzte er, um seine Reaktion nicht ganz so hart wirken zu lassen. "Anna wird sich freuen mich lebendig zu sehen."

Der Mönch blickte auf und hob erstaunt die Augenbrauen. "Aber sie ist tot!"

"Anna? Nein." Valerio sah ihn ungläubig an. "Sie lebt", beteuerte er. "Camilla holt sie gerade."

Lazzaro zögerte. Dann erklärte er mit ruhiger Stimme: "Es... es hat sie an der Ruine erwischt. Am Loch. Nicht jeder weiß davon. Es ging hier in der letzten halben Stunde zu wie im Taubenschlag. Die Leute kamen und gingen, jeder packte irgendwo mit an. Man war beschäftigt und wusste nicht, was gerade an einer anderen Stelle geschah."
Bekümmerte Falten zeigten sich auf der Stirn des Franziskaners. "Du hast es also nicht gewusst?" Er schien überrascht. "Oh... ich bin sicher, Camilla wusste es ebenfalls nicht. Wenn sie nun nach der Heilerin sucht, wird sie es erfahren."

"Aber... wie kann es denn sein, dass sie gar nichts darüber weiß! Das ist unmöglich!"

"Ich war in den letzten zwei Stunden ständig hier unter dem Dach beschäftigt, Schwester Camilla ebenfalls." Er warf Valerio einen hilflosen Blick zu. "Wir versorgten die Verletzten und hatten zusammen mit Bruder Annunzio die Amputation durchzuführen; da kann man nicht gleichzeitig zur Ruine hinüber laufen und dabei sein, wenn dort etwas geschieht." Er wand seine Hände umeinander, knetete seine Finger. "Dass sie irgendwann einstürzen musste, wussten alle. Und doch schien dann alles so schnell zu gehen, dass manche nicht ausweichen konnten."

Lazzaro sah ihn an, als suchte er in seinem Gesicht nach Verständnis für die Situation. Obwohl er nicht wusste, in welchem Verhältnis Valerio zu der Heilerin gestanden hatte, schien er zu spüren, dass es ein furchtbarer Verlust sein musste.

Valerio wandte sich ab, sein Blick war ins Unendliche gerichtet. Er sah und dachte nichts mehr, er war wie aus der Welt gefallen, und dennoch hörte er zu. Er hasste, was er hörte, es zerschnitt ihm die Seele. Aber die Stimme des Mönchs war das Einzige, was ihn in diesem Moment in der Realität hielt.

"Schwester Camilla war hier bei mir, bis du kamst. Niemand hat uns Kunde über die neuesten Opfer zugetragen, mein Sohn! Sie waren alle dort hinten, an den Feuern oder am Brunnen. Wer verletzt war, wurde uns gebracht, Tote bekamen wir nicht zu sehen, sie behielten sie drüben, legten sie auf Matten für die Totengebete..." Tiefes Bedauern und Mitgefühl standen im Gesicht des Franziskaners, als er beinahe flüsternd fortfuhr: "Ich hörte es gerade eben erst und nur zufällig, als ich zum Feuer ging, um den Kessel zu holen. Eine beachtliche kleine Frau, klug und unerschrocken, diese Anna. Gott sei ihrer Seele gnädig."

Die Worte trieben ihn von seinem Hocker hoch und auf die Beine. Das durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. Verzweifelt fuhr er sich durch die Haare. Seine Stimme klang heiser. "Aber wenn das falsch war? Ein Gerücht? Ein Missverständnis! Vielleicht stimmt es gar nicht!"

Lazzaros Blick ging an Valerio vorbei und plötzlich erstarrte er. Einen Moment lang verharrte er so, während Valerio seine Miene zu ergründen versuchte. Dann seufzte der Mönch noch einmal und schüttelte resigniert den Kopf. Er deutete ihm hinter sich zu schauen.

Da stand Camilla. Valerio hatte sie noch niemals so klein und blass gesehen. Sogar ihre Hände, die sie wie im Gebet aneinander gelegt vor die Lippen hielt, waren weiß. Wie der Mond hinter ihrem Kopf.

"Nein... Nein!", rief er und wich der Hand aus, die ihn aufhalten wollte.

"Valerio! Valerio, hör mir zu." Camilla kämpfte mit den Tränen. "Anna ist... sie hatte sich..."

"Nein, Camilla! Ich will das nicht hören! Nein, lass mich los!"

Und fort lief er, Richtung Tor und in die Dunkelheit hinein.

Ende Teil 92

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