(12/9) Der Spiegel

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

[Die Musik ist zum Lesen dringend zu empfehlen. Sie passt extem gut, weil ich das Kapitel exakt darauf zu geschrieben habe. Langsam lesen, lasst Euch viel Zeit, dann kommt beides super schön zueinander! Wer es ausprobiert, wird erleben, was ich meine...]

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

Das Untergewand aus dünnem Leinen wirkte rein und neu. Sie hatte es ja gerade erst erhalten. In einem Jahr würde es abgenutzt, vielleicht sogar hier und da geflickt sein. Am Ärmelsaum, unten über den Füßen oder auf Höhe der Knie - oder oben, wo der eingelassene Schlitz, dessen Bänder nun offen herab hingen, den dünnen Stoff anfällig für ein Reißen machte. Sie war dankbar für die Feinheit das Gewebes. Sie hatte Groberes erwartet, als man ihr sagte, sie würde in ein Kloster gebracht. Sie hatte mit wund gescheuerten Brustwarzen gerechnet. Vieles war grob, seit sie hier war... Aber ihr Untergewand war es nicht.

So stand der reich geschnitzte und vergoldete Rahmen des gewaltigen Spiegels, in dem sie sich betrachtete, zumindest nicht in ganz so üblem Kontrast zu dem, was er zeigte... was die Kleidung betraf. Wenn man nicht auf das Gesicht achtete, nicht auf die Haare, nicht auf die verzagten und unsicheren blassen Hände, dann konnte man sich vorstellen, hier würde gleich ein elegant geschnittenes Gewand aus Seidenbrokat über dieses Untergewand fallen, sie würde die Arme heben und jemand würde helfen die beidseitige Schnürung fest zu ziehen. Man würde ihr die bestickten Ärmel über dieses schlichte, aber feine Untergewand ziehen und den dünnen, unscheinbaren Stoff durch die zahlreichen Schlitze im Brokat nach aussen zupfen, so dass das Schlichte das Schöne betonte...

Denn Schlichtes hob Schönes hervor. Das hatte ihr Vater zu ihr gesagt, als sie jammerte, sie wollte auf der Überfahrt von Frankreich ins Mittelmeer nicht diese groben und ungewohnten Sachen tragen. Er hatte sie in ihre Wangen gekniffen, ihre roten Locken glatt gestreichelt und ihr gesagt, wie hübsch sie war - gerade auch in dieser Kleidung. Schlichtes hob Schönes hervor. Sie war neun Jahre alt gewesen und hatte das als ein allgültiges Lebensgesetz in sich aufgenommen. Ihr Vater hatte es gesagt, also musste es stimmen. Er hatte ihr einen Apfel in die Hand gedrückt, ihr in der grauen See die Delfine gezeigt, die das Schiff begleiteten und alles war gut gewesen. Sie hatten nicht gewusst, dass sie dem Tod ihrer Mutter entgegen fuhren. Dreihundert Tage später sollte sie keine mehr haben. Das Schicksal spann ihr Leben voraus, während sie in einen Apfel biss und ihre Locken in den Wind hielt.

Jetzt hatte sie nichts mehr. Ihr Blick ging von ihren nackten Füßen, die unter dem Saum hervor schauten, bis hoch zur Wölbung ihrer Brüste und dann weiter nach oben. Ihre Schlüsselbeine traten hervor. Sie zog den Stoff ein wenig mehr herunter, um sie zu betrachten. Sie war rundlicher gewesen, noch vor wenigen Wochen, und sie hatte das immer sehr gemocht. Sie war keine dieser ganz dünnen Frauen, sondern eher so, wie die Bildhauer sie liebten. Als sie in rasantem Tempo heran wuchs, war sie entzückt darüber gewesen, was ihr Körper in so kurzer Zeit hervor brachte. Rundliche, wohlgeformte Arme und Beine, dazu sichtbare Hüften unterhalb der schmalen Taille, eine üppig gerundete Brust mit schöner, zarter Haut und ein gewölbter Po...

Sie hatte Angst um das Runde und Weibliche, sie wollte es nicht verlieren. Nicht an ihrem Körper, aber auch nicht in ihrem Gemüt. Sie hatte sich sonnig gefühlt, als ihr Vater noch lebte. Sonnig. Das war sein Wort für sie gewesen und sie hatte es stets benutzt, um sich selbst zu beschreiben. Weil er es immer sagte. Sonnig war ihr Wesen, ihre Stimme, ihr Lachen gewesen. Und sonnig hatte sich ihr Körper angefühlt. Stark und strahlend wie die Sonne.

Ganz nahe trat sie an den Spiegel heran, suchte nach dem Glanz, dem Strahlen in ihren Augen. Sie waren so traurig und dunkel.... Es war nicht das gedämpfte Licht der Öllampen, das sie das Sonnige nicht mehr finden ließ. Etwas geschah mit ihr, es veränderte sie. Und der Mund. Sie mochte ihre vollen Lippen und das kleine Herz im Bogen der Oberlippe. Ihre Mundwinkel wurden ganz spitz, wenn sie lachte, und das sah sehr hübsch aus. Sie würde nichts mehr zu lachen haben. Sie würde ihr Lachen nicht retten können.

Zögernd hob sie die Hände und fuhr sich durch das kurze Haar. Es wirkte dunkler, genauso wie ihre Augen. Der Glanz, das Leuchten war weggeschnitten. Man hatte sie um das Fließende und Lebendige beraubt. Es war ein Teil ihrer Lebendigkeit gewesen, ein wesentlicher Teil ihres sonnigen und lebendigen Lebensgefühls! Die Haare im Wind... der Wind in den Haaren. Sie beobachtete, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Wenn sie jetzt blinzelte, würden sie überlaufen. Sie hatte Angst vor diesem Moment. Sie blinzelte.

Die Tränen liefen über ihre Wangen, ihr Kinn zitterte. Der Schmerz, in dem alle Trauer um ihren Verlust, um Mutter, Vater und sie selbst lag, war unerträglich. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, sie wollte nicht, dass Angelo sie hörte. Oh, wenn er wüsste, wie glanzlos und dunkel sie war... Gioia mia. Was sah er in ihr? Und wenn er sich furchtbar täuschte? Und wenn er sie aufgab, weil er erkannte, dass sie ein sterbendes Blatt war, kurz vor dem Fall?

Langsam nahm sie die Hand von ihrem Mund, hob das Gesicht dem Spiegel entgegen und zwang sich, ihrem eigenen Blick stand zu halten. Wenn niemand diese unglückliche Frau sah, die in ihr lebte, wenn niemand sie wahrnahm, dann schuldete sie es sich selbst, diese Verzweiflung anzusehen, sich damit zu konfrontieren, sich selbst nicht ängstlich auszuweichen. Sie war die einzige, die übrig war, sich zu erkennen, tief da drinnen. Für alle anderen war sie unsichtbar geworden. Sie musste bei sich bleiben, sich selbst auch in dieser Not treu bleiben, sonst war sie verloren. Niemand wusste mehr als sie selbst, wer sie war und welche guten Kräfte in ihr steckten.

Ihre Arme sanken an ihre Seiten, sie straffte sich und atmete zitternd ein. Ihr Blick wurde anders, die Ängstlichkeit und Verzweiflung wich einer unbändigen Wut - über das Leben. Aber auch und vor allem über sich selbst.

Wie konnte sie sich selbst so verraten und verleugnen, sich so in die Knie zwingen lassen! Sie sah ihrem Spiegelbild fest in die Augen. Hier war sie, hier war ihre Stärke! Das Sonnige war noch da, es hatte sich nur bewölkt. Seine Kraft war zu etwas Dunklem und Wütendem geworden. Wenn es sich so wandeln konnte, wenn es so beweglich war, so lebendig - dann war es doch auch möglich, diesen Weg rückwärts zu gehen, den Prozess umzukehren! Von der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wieder zurück ins Leben. In die Sonne! Irgendwann, wenn es soweit war. Wenn sie soweit war, dass sie aufstand und all das Dunkle hinter sich ließ. Bis dahin wollte sie gut auf sich achten und sehen, wie weit sie nun mit der dunkleren Seite ihrer Kräfte kam. Wut und eiserner Wille mussten reichen, sich bis dahin am Leben zu halten.

Sie nahm die Leinentücher, die sie zum Waschen verwendet hatte und hängte sie zum Trocknen über die geschmiedete Halterung. Für ihr müdes Gesicht und ihre aufgewühlte Seele gönnte sie sich etwas von dem duftenden Rosenöl, das sie in einer der Phiolen entdeckt hatte. Wenn man wachsen, grünen, blühen und duften wollte, musste man sein Gesicht zur Sonne wenden. Jede Rose tat das. Sie wollte es sich merken.

Ende Teil 103

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro