(15/4) Nachttöpfe und ein zweistrichiges F

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Mauro stocherte auf seinem Teller herum.

"Soll ich Euch auf die Sprünge helfen? Vielleicht möchtet Ihr, dass ich Eure Geschichte erzähle? Ich habe viel Fantasie!" Vincenzo Grassi schaute belustigt in die Runde. Niemand lachte.

"Ich war... Das heißt, wir waren unterwegs nach Amelia, als wir..."

"Wer ist wir", unterbrach ihn der Kardinal. "Berichtet genau. Lasst Euch nicht alles aus der Nase ziehen." Dann rief er nach hinten: "Ich möchte, dass jemand mitschreibt. Es  gilt als offizielle Anhörung. Erasmo... Du bist des Schreibens mächtig."

"Ja, Eure Eminenz. Aber ich bin kein Stadt- oder Gerichtsschreiber..."

"Als ob es darauf ankommt", bog der Kardinal den Einwand ab. "Du bist Schreiber in diesem Verhör, wenn ich dich Kraft meines Amtes dazu ernenne. Ich bin hier als Kardinalpriester und als vom Heiligen Vater in Rom ernannter Inquisitor persönlich anwesend und ich führe dieses Verhör. Du schreibst für mich, weil ich es dir sage."

"Aber das Protokollbuch, Eure Eminenz, es ist nicht hier..."

"Hast du nicht schon einmal für mich das Protokoll geführt? Nimm Papier und einen Gänsekiel aus dem Tisch dort hinten, wir übertragen es später. Unter der Tischplatte findest du auch Tinte. Nun mach schon."

Der Kardinal gab Mauro ein Handzeichen, damit er wartete, bis Erasmo die Schreibutensilien geholt hatte.

"Und jetzt setz dich hier hin, ans Ende des Tisches", orderte er. "Und Ihr - wie ist Euer vollständiger Name?"

Mauro richtete sich aus seiner schlaffen Haltung auf. Er streckte den Rücken, erwiderte aber den Blick des Inquisitors nicht. "Mauro de Lorca... Aus L' Aquila." Er gab sich Mühe fest zu sprechen.

"Schreib", wies Vincenzo Grassi den Diener an. "Das Prozedere für den Anfang machen wir später. Lass oben genug Platz frei." Zu Mauro gewandt fragte er: "Ihr seid in L' Aquila geboren?"

Mauro nickte.

"Er nickt", gab er zu Erasmo hinüber. "Schreib es auf. Und Ihr, Kaufmann, fahrt fort."

"Wir - das waren der Junge und ich", erklärte Mauro. "Floriano. Er ist... Er war der Neffe meines Freundes."

Vincenzo Grassi nickte ungeduldig. "Ja, gut. Aber wie lautet der Name dieses Freundes? Sag uns seinen Namen. Und stammt er wie du aus L'Aquila?"

Mauro räusperte sich. "Er heißt Paolo... Paolo Corsini. Er lebt in Amelia... Und er ist dort geboren."

"In Amelia... Warum war sein junger Neffe dann bei dir, in L' Aquila?"

"Sein Onkel gab ihn mir mit, damit er etwas über den Handel lernte. Er sollte Kaufmann werden." Mauro warf einen scheuen Blick in das Gesicht des Kardinals. "Ich hatte ihn seit dem Sommer des vorletzten Jahres zu mir in die Lehre genommen."

"Warum lernte er nicht bei seinem Onkel?"

"Sein Vater war früh verstorben, darum lebte er bei Paolo, der ihm sein Schulgeld zahlte. Paolo Corsini handelt mit Pferden, aber der Junge hatte kein Talent zum Umgang mit den Tieren... Aber er konnte rechnen. Und er schrieb ganz gut. So kam er zu mir und begleitete mich auf Handelsreisen in die Umgebung... Ich war mir nicht sicher, ob er sich zum Kaufmann besser eignen würde, aber was soll's, dachte ich mir... Er gab sich Mühe. Ich meine...wir kamen miteinander aus und ich konnte Hilfe gebrauchen." Sein Blick schien zu fragen, ob diese Antwort genügte. Als Vincenzo Grassi keine Miene verzog, zuckte er hilflos mit den Schultern. "Ich tat nur meinem Freund einen Gefallen. Es nützte allen etwas."

Der Kardinal zog mit den Zähnen ein Stück Fleisch von der Spitze seines Messers. Während er kaute, schien er zu überlegen. Schließlich kniff er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, schluckte und beugte sich über den Teller hinweg und zu Mauro hinüber. "... Ihr schient den Jungen nicht sonderlich zu mögen... Halte das fest, Erasmo."

"Nein... nein! So ist das nicht, Eurer Hochwürden! Ich... ich mochte ihn! Ich sagte ja nur, wir kamen miteinander aus!"

Der Kardinal überging Mauros Erklärung. Er stocherte in seinem Essen herum, pickte ein Stück Pflaume heraus und schob es an den Tellerrand. "Wenn ich recht verstehe, sollte Euch diese neuste Reise geschäftlich in die Heimatstadt des... Jungen bringen?"

Mauro zögerte die Antwort hinaus. Sein ängstlicher Blick verfing sich erneut in den Augen Valerios. Dieser saß ganz ruhig vor seinem vollen Teller und hörte zu, die Hand an dem Löffel, den er langsam auf dem Tischtuch hin und her kippte. Unter halb geschlossenen Augenlidern ging sein Blick zu Vincenzo Grassi hinüber. Dann nickte er unmerklich in Richtung des nervösen Kaufmanns, während der Kardinal eine zweite Pflaume fand.

"Nein, keine Geschäfte auf dieser Strecke, Eminenz... Jedenfalls nicht direkt..."

Die letzten Worte ließen den Kardinal aufhorchen. Er hatte den Blickwechsel zwischen dem Kaufmann und Valerio bemerkt. "Täuscht mich nicht", ermahnte er Mauro. "Sagt die Wahrheit! Waren es nun Geschäfte in Amelia oder nicht?"

"Bitte verzeiht, aber der Junge ist tot! Meine Geschäfte tun da nichts zur Sache..."

"Das überlasst doch bitte mir, Mauro... de Lorca. Ich stelle keine unnützen Fragen. Also! Was wolltet Ihr in Amelia?"

"Es war... ich wollte den Jungen zu seinem Onkel zurück bringen."

"Den Jungen... Sag seinen Namen. Damit der Schreiber weiß, von wem wir reden."

"Ich... Ich wollte Floriano nur zu Paolo Corsini zurück bringen. Zu seinem Onkel. Ich musste nach Rom..."

"Ah", sagte der Kardinal. "Nach Rom. Und da konntet Ihr ihn nicht mitnehmen? Welcher Art mögen dort Eure Geschäfte sein?" Seine missbilligende Mimik ließ den Kaufmann zusammen zucken. "Ihr wolltet diesem jungen und unbedarften Menschen also nicht das Zentrum der Christlichen Welt zeigen? Ihn nicht den mächtigen Geist der Heiligen Römischen Kirche spüren lassen? Um ihm die Augen zu öffnen für die Erhabenheit und Schönheit einer Stadt, in der Gott selbst sich durch seinen Heiligen Stellvertreter niedergelassen hat?"

"Verzeiht meine Deutlichkeit, Kardinal", antwortete Mauro. Man spürte, dass er seinen ganzen Mut zusammen nehmen musste. "... Er... Floriano... war zu jung für die Verdorbenheit und Sittenlosigkeit der Stadt! Er war noch nicht sechzehn Jahre alt! Ich weiß nicht, ob es Euch bekannt ist, Eminenz, aber in Rom gibt es zurzeit mehr weibliche und männliche Huren als ehrbare Männer und Frauen zusammen. Selbst wenn man das Umland mitzählt! Ich habe sogar in Athen und Damaskus niemals so viele..."

Der Inquisitor hob beide Hände, angewidert wandte er sich ab.

 Valerios Lachen erfüllte den Raum; es wollte so gar nicht zur angespannten Situation passen.

Schockiert riss der Kardinal den Kopf herum und starrte zu ihm herüber. Dann jedoch wich seine verärgerte und beleidigte Miene einem anderen, nachdenklichen und erstaunten Ausdruck, als er Valerio musterte. "Wenn ich mit Euch fertig bin", sagte er halblaut und mit gefährlich ruhiger Stimme, "werdet Ihr darum betteln, genau damit Eurer Brot auf römischen Straßen verdienen zu dürfen, anstatt durch meine Hand den Tod zu erleiden. Und wie ich meine, würdet Ihr erfolgreicher darin sein... als hier am Tisch eines Kardinals ein angemessenes Benehmen zu zeigen." Sein Blick wanderte an Valerio hinunter und bis zu seiner Hand, die an dem silbernen Löffel still geworden war.

Valerio fiel das Lachen aus dem Gesicht. Er sah dem Kardinal in die eisfarbigen Augen, zwei, drei Sekunden lang, dann neigte er beinahe unmerklich den Kopf in gespieltem Respekt, wobei er ihn weiter fixierte. "Ich lasse Euch auf jeden Fall wissen, wenn ich soweit bin... Eminenz", antwortete er ebenso leise. Der Samt seiner Stimme ließ alle am Tisch aufhorchen. "Rom... hat viel zu bieten. Insbesondere Leuten, die davon überzeugt sind, dass man mit Macht oder Geld alles kaufen kann, was man haben will. Ich habe von Huren gehört, die die blattvergoldeten Malereien auf den Nachttöpfen geistlicher Würdenträger aus dem Gedächtnis nachzeichnen können. Man zeichnet sie in den Dreck der Gassen, sagt man."

Die Miene des Inquisitors versteinerte, seine Stimme klirrte vor Frost. "Blasphemie", stieß er aus, wobei er Erasmo einen kräftigen Wink gab, die Beleidigung zu notieren. "Trinkt Euer Wasser. Ihr wisst nicht, wann ich Euch das nächste Mal trinken lasse."

Als Valerio ihn weiterhin fest ansah und sich nicht rührte, wandte Vincenzo Grassi sich mit rotem Kopf wieder Mauro zu. "Fahren wir fort... Und das ist also der Grund, warum Ihr den... den Jungen... wie hieß er noch? Ach ja, Leonardo... nicht mitnehmen wolltet?"

"Floriano", raunte Valerio halblaut zu dem Schreiber hinüber, während er eine Fingerspitze ins Wasser tauchte. Er begann den Rand seines Glases nachzufahren. Ein zarter, kristallener Ton erklang, wurde lauter und füllte den Raum. Zweistrichiges C. Er hob das Glas an und kippte etwas von dem Wasser in sein Essen hinein. F, dachte er, als er den Finger nochmals anfeuchtete und es ein weiteres Mal versuchte. Lauschend neigte er den Kopf schräg, zog die Augenbrauen zusammen. Das F war nicht ganz sauber... vorsichtig goß er noch ein wenig mehr Wasser aus.

Der Kardinal ignorierte ihn. Das Rot in seinem Gesicht wurde noch dunkler. "Nun - wie auch immer. Wir kommen zur eigentlichen Frage..."

Ein perfektes zweistrichiges F durchschwebte den Raum. Mauros Augen wurden groß, er starrte Valerio in das gleichmütige Gesicht, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Außer sich vor Wut schnaufte Vincenzo Grassi durch die Nase, warf sein Besteck auf den Teller zurück, so dass ein Spritzer der fettigen Soße das Weiß an seinem Ärmel befleckte, und klatschte zweimal laut in die Hände. Darin lag so viel plötzliche Entschlossenheit, dass Valerio wusste, er hatte die Grenze überschritten. Dass im Protokoll nun Blasphemie festgehalten war, bedeutete nicht nur ein Vergehen, sondern auch gleich ein Urteil - und das, bevor der Mord überhaupt geklärt war.

Noch bezweifelte er, dass dieses Protokoll rechtliche Relevanz hatte, denn noch immer gab es für den Mord keinen Kläger. Mauro hatte diese Rolle bis hierher zumindest verweigert. Für die Blasphemie würde der Kardinal selbst Kläger sein... Er wollte versuchen diese veränderte Situation zu nutzen. Zumindest musste man ihn nun erst einmal in der Festung halten. Von hier aus boten die umliegenden Wälder gute Verstecke... Den Ort des weltlichen Gerichts vermutete er in der Stadt, von dort würde eine Flucht wahrscheinlich schwieriger sein. Seine Pläne hatten sich geändert.

Vielleicht konnte er dem Kaufmann durch seine unerschrockene Haltung Mut machen; wenn Mauro sich jetzt nicht durch seine Angst blenden ließ und statt dessen seinen Geist anstrengte, würde er seine Signale vielleicht verstehen und sie könnten gleich beide Köpfe aus der Schlinge ziehen und gemeinsam frei kommen. In den letzten Minuten war ihm klar geworden, dass er den Kaufmann brauchte. Sie durften sich nicht gegeneinander ausspielen lassen.

Wenn er nur einen Moment mit ihm allein reden könnte! Er konnte ihm wohl kaum in seine Gedanken hinein sprechen! Er wusste sehr genau, dass es längst nicht nur um einen Mord ging - Mauro hatte ihn bei dem Priester und dessen Reisegemeinschaft als Ketzer angeschwärzt. Wenn der Kaufmann nun auch noch seine Stimme hörte, ohne dass er ihn sprechen sah, würde er in seiner Panik alles aussagen, was nötig war, um ihn auf den Scheiterhaufen zu bringen. Er würde ein perfekter Handlanger des Kardinals. Angst regierte diese Welt. Und Dummheit und Aberglaube gaben ihr so viel Nahrung, dass sie an Orten wie diesem blutige Früchte treiben konnte.

Jetzt gerade sah es so aus als sei Mauro froh, alle Fragen zur Zufriedenheit des Inquisitors beantworten zu können... Er  verstand offenbar nicht, dass Valerio etwas vorbereitete. Durch die blasphemische Äußerung hatte er den Kardinal Blut lecken lassen. Gottesbeleidigung war Hoheitsgebiet des Inquisitors. Er wollte, dass er sein privates Wesen zeigte, dass er sich sicher fühlte und unvorsichtig wurde. Er wollte sehen, wo er einhaken konnte. Und entgegen aller früheren Überlegungen wollte er nicht vor ein weltliches Gericht gebracht werden. Der Kardinal brauchte einen Denkzettel. Das Spiel war längst im Gang, Valerio konnte weder rückwärts hinaus noch die Angelegenheit umbiegen oder mildern. Der einzige Weg führte mitten hindurch. Man würde sehen, wer gewann.

So oder so: Rechtlich hatten weder Mauro noch er selbst eine Chance. Wenn der Kardinal mit ihnen spielen wollte, dann spielte er. Niemand würde eingreifen. Innerhalb der Festung hatte niemand den Mut - und draußen interessierte es niemand. Das hier war jenseits jeder offiziellen Kontrolle! Es war private Beschäftigung eines Mannes, der es genoss sich erhaben und mächtig zu fühlen - und der es gewohnt war, dafür Menschen zu benutzen. Mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen - und über diese musste Valerio schnell mehr in Erfahrung bringen.

Das Klatschen des Kardinals hatte im Raum für Stille gesorgt. Alle schienen gespannt zu warten, was nun geschah. Hatte Vincenzo Grassi entschieden, Valerio abführen zu lassen... Um nicht weiter vor Publikum mit ihm umgehen zu müssen und dabei langsam sein Gesicht zu verlieren?

Beide Türflügel öffneten sich und zwei Männer kamen herein. Sie trugen etwas, Valerio sah eine Trage - und als sie näher kamen, erkannte er darauf den toten Jungen. An seiner Kleidung und den rötlichen Haaren erkannte er ihn. Denn alles andere machte es zumindest auf den ersten Blick beinahe unmöglich, Floriano zu identifizieren.

Ende Teil 137





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