(16/7) Über der Tiefe

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Über Gänge und Treppen führte man ihn ins fensterlose Erdgeschoss hinunter. Er war froh, dass jetzt niemand mit ihm sprach. Er musste seine Gedanken sortieren. Allerdings spürte er, dass die beiden Männer, die vor ihm gingen, auf der Hut waren. Und die anderen zwei, deren Schritte er in einigem Abstand hinter sich hörte, trugen ihre Waffen gegen seinen Rücken gerichtet. Es sollte wohl nicht offensichtlich sein, aber er musste sich nicht umwenden, um es zu bemerken.

Metall hatte eine so starke und unverwechselbare Energie. Selbst bei den schwankenden Sinneskräften, unter denen er litt, drängte sie sich ihm jetzt auf. Metall wahrzunehmen war essentiell in einer Umgebung, in der man ihm trotz der neuesten positiven Ereignisse immer noch nach dem Leben trachten konnte. Aber Stimmungen, Absichten, emotionale Haltungen waren es, woran er sich im Allgemeinen orientierte. Sie waren sein Augenlicht. Er war beinahe blind ohne sie, er musste weitaus mehr als Metall erspüren, wenn er im Umgang mit Menschen sicher sein wollte. Er schob die flatternde Unruhe, die abschweifenden Gedanken und Schuldgefühle einen Moment lang zur Seite, atmete tief durch und bemühte sich gleichmäßig und sicher auszuschreiten.

Die neue, konzentrierte Aufmerksamkeit, zu der er nun fand, während ihre Schritte in den Gängen widerhallten, wurde wichtig für sein Überleben; sie drängte die Bestie einmal mehr in den Untergrund zurück. Und sie ließ ihn bald hoffentlich deutlicher spüren, was um ihn herum geschah. Er konnte sich nicht mehr leisten Wesentliches zu versäumen, sich so oft zu irren. Wie lange konnte er seinen Zustand noch stabil genug halten? Die Zeit lief ab. Umso mehr musste er die Situation unter Kontrolle bringen. So nahm er sich vor, seine vampirischen Energien zu schonen, sie gezielt, überlegt und vor allem sparsam einzusetzen. Nur dann, wenn es seiner unmittelbaren Sicherheit und Orientierung diente.

Man schien ihn tatsächlich frei zu lassen! Wie schwer fiel es ihm nach den Erlebnissen der letzten Nacht, diesen Fakt in sein Bewusstsein aufzunehmen... Das war das Fatale an seiner Situation: Er vertraute naiv, obwohl Gefahr in allen Ecken lauerte - und war misstrauisch und übervorsichtig, wenn alles gut aussah. Und es war jetzt gut - soweit! Alles sah nach einem baldigen Ende seiner Gefangenschaft aus. Er hatte seine Stiefel zurück, dazu frische Kleidung, einen Mantel. Draußen wartete ein Pferd auf ihn, dazu Beichte, Abendmahl, und nicht zu vergessen, der Wein, der dazu gehörte... Man hatte sich sogar bereits Gedanken um seine Weiterreise gemacht. Dass er ein Pferd gebrauchen könnte. Der Kardinal hatte nach dem Verhör davon gesprochen. Aber offenbar traute man ihm nicht, so lange er hier in dieser Festung war. Die vier Männer, die ihn in schweren Stiefeln, die Waffen im Anschlag, durch die düsteren Gänge begleiteten, sprachen eine deutliche Sprache.

Sicher wollte man Vincenzo Grassi schützen. Vielleicht hatte sich unter den Wachen herum gesprochen, dass er einer war, der Menschen mit Worten und Berührungen tötete... Solche Gerüchte verbreiteten sich in Stunden. Schnell saßen sie tief wie Dornen. Ein Inquisitor glaubte an das Böse im Menschen, an dämonische Einflüsse. An Magier und Teufel. Und Mauro musste für eine Tatsache halten, was er zu sehen geglaubt hatte. Und so unrecht hatte er ja nicht, aus seiner Sicht... In seiner Angst hatte Mauro geglaubt, er täte der Menschheit einen Dienst, als er ihn an den reisenden Priester und dessen Begleiter verriet. Er hatte nicht überblickt, dass man ihn zum Inquisitor von Terni bringen würde, da dieser gleich auf dem nächsten Berg residierte. Oder es kam ihm gerade recht, da er ihn für einen Gehilfen des Teufels hielt, mit dem nur die Kirche fertig werden würde... Kein Wunder, wenn er ausführlich und unter Zutun einiger Fantasie von Valerios dämonischer Tat berichtet hatte; den Wachen im Kerker - und auch dem Inquisitor selbst.

Manches, was Valerio tat, fütterte den Aberglauben und die Ängste der Menschen. Dieses Phänomen begleitete sein Leben bis in die moderne Zeit hinein. Die tieferen Ängste und das mangelnde Gespür und Geschick im Umgang mit den unsichtbaren Dingen dieser Welt machte den Menschen auch heute zu schaffen. Und sie taten nichts dagegen - dabei richtete nichts in der Welt mehr Schaden an als Unwissenheit, Blindheit und Angst. Wie sollte Mauro verstehen, dass es zum Guten des Jungen gewesen war... Warum hatte er nicht einfach denken können, Floriano sei an seinen Verletzungen gestorben? Wenn der Kaufmann nur ein wenig mehr über medizinische Dinge und menschliche Körper wüsste; bei der Tiefe der Beinverletzung und dem offenen Bauch hätte er sich an den Fingern einer Hand abzählen können, dass da ein schneller Tod durch Blutverlust zumindest wahrscheinlich war. Stattdessen hatte sich seine abergläubige und dumme Angst zu Wort gemeldet. Angst vor den Dingen, die sein Kopf nicht verstand, weil seine Augen sie nicht sehen konnten.

Gut, auch das war nicht die Realität der Situation; aber das konnte Mauro nicht wissen. Die Wunde hätte nicht ewig geblutet, es hätte nicht zum Sterben gereicht. Ein anderes, ein schwereres Schicksal hätte Floriano erwartet: Er wäre qualvoll an der Infektion gestorben. Er hatte dem Jungen helfen müssen. Weil dieser unwissende Kaufmann ihn ansonsten auf einer Trage drei Tage und Nächte lang im Schritttempo bis nach Hause geschleppt hätte; bei Fieber und unerträglichen Schmerzen, anstatt ihn ruhen zu lassen,  ihm das Unvermeidliche leicht und friedlich einzurichten und ihm gegen die Schmerzen zu helfen. Es tat ihm leid um beide, um den armen Jungen und um Mauro und dessen Hand. Er hätte sich den Stumpf gerne angesehen. Es sah nicht so aus, als hätte man ihn gut versorgt.

Niemand konnte aber ändern, was geschehen war. Oh, er war so verantwortungslos und blind! Immer war er vorsichtig gewesen, hatte, wenn er unterwegs war, die Einsamkeit jeder Gesellschaft vorgezogen... Er konnte nicht sagen, was ihn diesmal geritten hatte, sich nicht daran zu halten - und das, obwohl er wusste, er hatte seine Sinne nicht mehr gut beisammen. So viele Fehler an einem einzigen Tag... Er hätte nicht rasten, sich nicht der Gruppe anschließen sollen. Und wenn, dann hätte er allein jagen und nicht ausgerechnet einen von der Reise erschöpften Fünfzehnjährigen mit in den Wald hinauf nehmen dürfen. Und in Mauro hatte er sich furchtbar verschätzt - auch das wieder eine Folge seines schwindenden Instinkts und Gespürs. Allein seine Unterversorgung machte seine Lage nun gefährlich genug; die aktuellen äußeren Umstände, für sich allein betrachtet, waren es gar nicht. Hätte er in den letzten Tagen seine Kräfte beisammen gehabt, er wäre jetzt in Freiheit.

Seit Jahrhunderten wusste er, die Nähe zu Menschen konnte jederzeit sein Ende bedeuten. Menschen waren so schwach und blind. Weil er wenig Kontakt zu ihnen hatte, vergaß er es immer wieder. Aber er selbst war hier nun kaum besser... Wie hatte er nur glauben können, was der Kardinal ihm über Mauro gesagt hatte! Man habe den Kaufmann frei gelassen, hatte Vincenzo Grassi ihm weisgemacht. Er hätte es besser wissen müssen. Die Hand, die man Mauro für den Versuch des Diebstahls an einem Wehrlosen und Sterbenden abgeschlagen hatte, würde ihn nun ewig an ihre schicksalhafte Begegnung erinnern. Er wollte kein solches Brandzeichen in eines Menschen Erinnerung sein. Der Kardinal war ein machthungriger und verantwortungsloser Intrigant. Mit seiner Täuschung hatte er erreicht, dass sie einander verraten und beschädigt hatten, anstatt sich gemeinsam aus der Misere heraus zu arbeiten und zwei Köpfe zu retten. Oder vier Hände.

Er musste aufhören sich täuschen zu lassen. Aber Mauros Unglück zeigte ihm nun zumindest eines, und das war gut: Man glaubte seiner Aussage. Vielleicht, weil sie stimmig war und er sich nicht widersprochen hatte. Oder weil er einen Schwur geleistet hatte. Aber das hatte Mauro auch! Wenn diese Behauptung nicht eine weitere Lüge des Kardinals war...

Das trübe Morgenlicht blendete seine Augen, als er hinter den beiden Wachen in den Hof trat. Vier Gebäude bildeten hier ein enges Karré, die Mauern ragten schmucklos und grau gegen den bewölkten Himmel auf. In der Mitte des Hofes gab es einen kleinen Brunnen; das musste die Quelle sein, von der Vincenzo Grassi gesprochen hatte. Der Inquisitor thronte auf einem prächtigen Apfelschimmel, sein roter Mantel hing weit über die Kruppe des edlen Tieres hinab. Ein Stallknecht hielt es auf der Stelle; der Kardinal konnte das Pferd allein nicht zum Stillstehen bewegen.

Zwei weitere Männer schienen sie zum Kloster zu begleiten, sie waren bewaffnet und in Leder gekleidet. Zum Aufbruch bereit saßen sie auf ihren kräftigen braunen Pferden. Schnell erkannte er, dass die alte schwarzbraune Stute, die bei der Gruppe stand, für ihn bestimmt sein musste. Sie war kleiner als die anderen Pferde, ihre grau behaarte Nase lehnte träge an der Schulter des Mannes, der sie am Zügel hielt. Als sie den Kopf zu ihm hinüber wandte, sah er das blinde Auge, dessen Lid auf halber Höhe hing. Dieses Tier würde den Zweck erfüllen, aber mehr auch nicht... Mit vorsichtigem Blick maß er Sattel und Zaumzeug des Schimmels, sah, wie steif und unflexibel Vincenzo im Sattel saß, bemerkte im Vorbeigehen die Nervosität des hochbeinigen Tieres... Vielleicht ließ sich da etwas machen. Er brauchte dieses Pferd.

Erst als er nach den Zügeln der zotteligen Stute greifen wollte und man ihm diese verweigerte, wurde ihm klar, wie falsch seine Vorstellungen von diesem Ritt waren. Wenn er frei sein sollte... warum ließ man ihn dieses altersschwache Pferd nicht selbst führen? Befürchtete man, er würde es stehlen, auf seinem müden Rücken über die Schlucht springen und am Horizont verschwinden? Vincenzo Grassi hatte ihm offen angeboten, ihm für seinen Dolch aus Damaszenerstahl ein Pferd zu überlassen - und höchstwahrscheinlich nicht eines wie das hier. Und den Dolch hatten sie bereits! Einer der beiden Begleiter, ein bärtiger, finster dreinblickender Mann, schlang einen Strick um den Zügel und wickelte das Ende um seinen Sattelknauf. Dann bedeutete er Valerio mit knapper Geste aufzusteigen. Niemand sprach ein Wort mit ihm. Man fürchtete ihn.

Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er tätschelte der Stute den Hals und schwang sich in einer fließenden Bewegung in den Sattel. Vincenzo Grassi beobachtete ihn; als er ihn lächeln sah, wandte er sich ab und riss den Kopf seines Schimmels an den Zügeln grob zu sich heran. Der Stallbursche sprang zur Seite, als der Kardinal das Pferd rücksichtslos antrieb; er steuerte den schmalen Tunnel an, der vor ihnen durch die Mauer führte. Die Männer folgten und nahmen Valerio mit sich.

Der Klang der Hufe hallte von den feuchten Wänden wider. Die Mauern mussten einen gewaltigen Durchmesser haben. Nach einigen Metern öffnete sich der Tunnel in einen gepflasterten, nach oben offenen Gang, der zu beiden Seiten von schulterhohen Mauern flankiert war. Dieser bewehrte Weg führte zunächst von der Festungsmauer weg, dann jedoch bogen sie zweimal nach rechts ab und befanden sich nun an der südöstlichen Seite der Anlage. Weiter ging es zwischen den Mauern entlang, bis ein massives Tor den Weg versperrte. Einer der Männer rief ein Kommando voraus und die eisenbeschlagenen Flügel öffneten sich. Zwei Torwächter grüßten den Inquisitor mit einem behandschuhten Griff an die Hellebarde. 

Als Valerio das Tor passierte, starrte man ihn offen an; wahrscheinlich erlaubte man sich die neugierigen Blicke auf den unfreiwilligen Gast nur, weil der Inquisitor, der vorne ritt, es nicht sah. Von seiner erhöhten Position aus wagte er einen kurzen Blick auf den Schließmechanismus des Tores und auf die Waffen der Wächter. Diese Männer wirkten routiniert... routiniert und gelangweilt. Was in der ruhigen Abgeschiedenheit der Festung und im täglichen, ereignislosen Allerlei zum Nachteil werden konnte. Er hatte nicht vor, noch einmal zurück zu kommen, wenn es irgend möglich war... Aber man konnte nie wissen. Er war vorsichtig geworden, beobachtete seine Umgebung genauer. Und er genoss das Gefühl, aus der dunklen und bedrückenden Isolation der Festung hinaus und unter freien Himmel zu kommen. Die Stute schien dasselbe zu empfinden, denn sie setzte die Hufe jetzt schneller voreinander, ihre Kopfbewegungen wurden lebendiger und sie schnaufte laut, als sich der hoch ummauerte Gang öffnete und den Blick auf die atemberaubende bergige Landschaft frei gab.

Sie befanden sich nun auf dem sandigen Weg, auf dem er den Kaufmann entdeckt hatte. Es mochte nicht mehr als eine halbe Stunde her gewesen sein... Wohin ritt er nun mit seinem Armstumpf? Hoffentlich ließ er vor dem Abend noch einen erfahrenen Medicus drauf sehen.

Ob Mauro wusste, dass für solche Dinge diejenigen die besten waren, die den Tross von Kriegsherren in die Schlachten begleitet hatten? Auch er selbst hatte einen guten Teil seines Wissens über Amputationen und die Versorgung schwerer Wunden im Dreißigjährigen Krieg gesammelt - als man anhand der zahlreichen, beinahe alltäglichen Erfahrungen mit den körperlichen Schrecken des Krieges innerhalb weniger Jahre immer bessere Instrumente und Methoden erfand, um in beinahe jeder Lage vernünftige Amputationen durchzuführen.

Das waren Jahre, die ihm nicht nur tiefe Einblicke in die medizinischen Möglichkeiten der Neuzeit und in eine sich rapide entwickelnde Qualität der Wundbehandlung geschenkt hatten! Sie hatten ihm auch gezeigt, dass Menschen im Krieg stets und immer wieder zu den primitiven und blutdurstigen Tieren wurden, die tief in ihnen lauerten - ganz gleich, wie die Jahrhunderte voran schritten.

Alle waren sie Vampire. Ausnahmslos. Wenn es etwas Teuflisches in der Welt gab, dann das: Den Verlust von Mitgefühl und Verantwortung. Und Menschen, die das hinnahmen. Es waren Angst und Gier, die das Schlechteste in den Menschen hervor brachten, und fünfhundert, tausend oder dreitausend Jahre später würde sich nichts daran geändert haben.

Sie erreichten die alten Eichen, die den Beginn des Weges säumten. Valerio atmete tief ein, als sie unter dem weiten Blätterdach hindurch ritten. Er reckte das Gesicht nach oben ins Grün, und als sie darunter hinaus waren, sah er zur Festung hinauf, die zu seiner Rechten aufragte. Sein Blick tastete die massiven Mauern ab. Dort, wo die Farbe des Sandsteins in ein mattes Grau wechselte, musste das Fenster sein, an dem er vorhin gestanden hatte... Freiheit, murmelte er leise für sich, vielleicht, um das Wort zu hören, es auf den Lippen zu spüren. Die Stute drehte ihre buschigen Ohren nach hinten. Er ließ seine Fingernägel unter ihrem Mähnenkamm hinweg gleiten, vergrub die Finger in ihrem dichten, langen Fell. Er beugte sich im Sattel vor und klopfte ihr den Hals. Auf unverhoffte Weise brachte ihm das gutmütige alte Tier seine Instinkte zurück. Und Ruhe, in der er Kraft fand.

Dieser Augenblick einer lange vermissten Entspanntheit und Zuversicht war es, der ihn plötzlich an Venedig denken ließ. An Magnus. So lange er die Bindung an den Ort aufrecht erhielt, verging die Zeit am Haus langsam genug... Noch schlief Magnus wohl ahnungslos, und sein Körper saß am Feuer vor dem Haus... Es war ihm nicht möglich, auf solchen Reisen zurück zu schauen, Details der Geschehnisse am verlassenen Ort unmittelbar zu sehen, ihre Entwicklung zu verfolgen... Sachliches, das an den Ereignissen einer verlassenen Zeit lag, hatte kaum nennenswerte Energien, um ihn hier, wo er war, auch nur zu streifen.

Aber was sich auf emotionaler Ebene vermittelte, erreichte ihn stets wie ein kräftiges Echo, wie Schallwellen oder ein Ruf. Oft war es verzerrt, verschlüsselt, zeigte sich in Bildern, aber er war geübt darin, diese zu verstehen. Nur konnte er nicht aktiv dorthin zurück fühlen, nicht nach Bedarf abtasten, was dort vor sich ging, während er sich hier, im Jahr fünfzehnhunderteinundzwanzig, befand. Dass es nicht möglich war, hatte einen Grund: Er hatte in dieser Zeit, an diesem Ort, Kontakt aufgenommen, Beziehungen, Verbindungen zu Menschen der Vergangenheit geknüpft. Das veränderte die Bindung an den Ausgangsort in einer Weise, die es ihm unmöglich machte, beide Zeiten zugleich im Blick zu haben. Sein Fehler, seine Dummheit hatten auch hier weitgreifende Folgen; er hatte Magnus allein gelassen und seine Kontrolle über dessen Situation weitgehend aufgegeben. Aber: Er empfing Signale, Hinweise, wenn starke Emotionen aktiv waren. Diese waren Orientierung genug. Zumindest konnte er daraus ableiten, wie Magnus sich machte. Wie es ihm ging.

Jetzt gerade schien sich alles neutral zu verhalten, nichts erreichte ihn. Darum ging er davon aus, dass Magnus schlief. Er hoffte sehr, er könnte vor dem Morgen zurück sein, so dass er seine Abwesenheit gar nicht bemerkte. Er wollte ihn nicht verunsichern oder überfordern. Je weniger er von seinem Doppelleben mitbekam, desto besser - Er musste ihm Zeit lassen sich langsam anzunähern. Solange er den Kontakt zu Ort und Zeit hielt, aus denen er gestartet war, konnte er die Zeit für Magnus dehnen, sie langsamer vergehen lassen, um sich selbst Zeit zu verschaffen... Und die würde er brauchen! Zurück zu kehren war eine Frage des Fokus und der Energie. Also musste er zunächst seine Freiheit zurück erlangen und sich dann schnellstmöglich stabilisieren, indem er über einige Tage an genug Wein oder Trauben kam. Er musste die Wirkung abwarten; wenn er sich zu früh zwischen die Sphären begab und ihn der Fluss der Zeit nicht vollständig aufnahm und zurück brachte, konnte alles in einer Katastrophe enden. Geduld war, was er jetzt brauchte. Geduld und Nerven.

Als die Gedanken um sachliche und strategische Dinge in seinem Kopf leiser wurden, fühlte er schmerzlich, dass er Magnus vermisste. Jetzt. Hier, in diesem Moment. Er wollte ihn bei sich haben, mit ihm den Anblick der bewaldeten Berge und dunklen Schluchten teilen, der sich zur Linken auftat. In Freude und Freiheit - nicht so, wie er hier nun ritt, in erzwungener Gesellschaft von Leuten, die er nicht kannte und nicht mochte. Oh, es überraschte ihn nicht, jedenfalls nicht generell. Es war nur die Heftigkeit, mit der sich dieses hohle, ziehende Gefühl in seinem Hals bemerkbar machte. So plötzlich und unmittelbar, dass es ihn einen Moment lang beinahe aus der Situation hinaus katapultierte.

Nein, er wollte nicht, dass Magnus in einem leeren Haus aufwachte, dass er ihn erstarrt und unansprechbar an einem erloschenen Feuer fand und ratlos war, was er tun sollte. Es war seine eigene Schuld, seine mangelnde Weitsicht, sein Leichtsinn gewesen, die das hier angerichtet hatten. Es hätte nicht passieren dürfen. Er würde wieder in die Spur zurück finden, die er unvorsichtigerweise verlassen hatte. Er hatte Magnus und sich selbst in akute Gefahr gebracht, um die kalte Spur einer Frau zu verfolgen, die seit Jahrhunderten tot war. Was immer mit Caterina geschehen war: Dieses Leben war gelebt und längst begraben. Innerlich schüttelte er den Kopf über sich selbst. Er würde ihren Tod niemals aufklären, es war zu lange her. Das war seine große Schwäche: dass er nicht loslassen konnte.

Eigenartig, wie sich seine Gefühle vermischten, während er an Caterina und Magnus dachte. Ein einziger großer Schmerz machte sich in seiner Brust breit - beinahe so, als dachte er an sie beide als seine gleichwertigen Gefährten, als nahe Menschen, die dieselben Tage, dieselben Orte, dasselbe Leben mit ihm teilten. Als ob Jahrhunderte nicht zählten und sie zu dritt waren, zusammen gehörten, immer schon. Oh, er hatte wissen wollen, was Magnus fühlte und dachte, als er sie sah! Er hatte sie ihm nicht ohne Absicht gezeigt - und auch nicht allein, um ihm die Kraft des Vertrauens zu vermitteln. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er auch Magnus' Segen, seine Akzeptanz, sein Verständnis haben wollte. So wie man seine Braut seinem besten Freund vorstellte und wusste, das war ein wichtiger Augenblick. Das war es, was ihn so sehr berührte, als er jetzt an Magnus dachte: Dass dessen Anerkennung und Mitgefühl, was seine Liebe zu Caterina betraf, sie beide einander so viel näher gebracht hatte.

Wie weit er auf seinem langen Weg bereits gekommen war! Wie oft hatte er aufgegeben und sich dann wieder neu auf die Suche gemacht, ohne zu wissen, ob es jemals möglich sein würde, zumindest diesen Aspekt seines furchtbaren Schicksals ungeschehen zu machen. Die Sehnsucht zu beenden. Schuld abzulegen. Und damit vielleicht sogar etwas von dem zurück zu gewinnen, was er vor langer Zeit verloren geglaubt hatte.

Sollte das hier nun tatsächlich sein, wonach es aussah? Noch hatte er keine Gewissheit ... der Augenblick, der Punkt, an dem sich seine gesamte Welt, sein Leben drehen und für immer verändern konnte, stand noch bevor. Dies sollte sein letzter Versuch sein, er hatte es sich selbst geschworen, in einer verzweifelten, sternenübersäten Nacht. Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich die Ewigkeit zu nehmen. Etwas würde in ihm sterben an diesem Tag, sollte es misslingen. Aber allein durch dieses Tor führte sein Weg ins Leben. Er musste zurück nach Venedig, so schnell wie möglich.

Als sich die Böschung zur Linken auflöste, der Weg schmaler wurde und er sah, wie knapp sie nun am unbefestigten Abgrund entlang ritten, zwang er seinen Geist zur Stille und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das äußere Geschehen. Rechts über ihnen, auf einem zerklüfteten Felsenhang, ragte die Stadtmauer von Narni auf. Auf der linken Seite hatte man einen schwindelerregenden Blick auf die dicht bewaldeten Berge von Terni. Die Landschaft wirkte von hier oben wie ein von einem gigantischen Sturm aufgetürmtes Meer, erstarrt seit grauer Vorzeit, waren manche dieser Wellenberge tausend Meter hoch. Die Schlucht, die dort unten inmitten des endlosen Waldes klaffte, war, wie die Berge ringsum, vollkommen mit alten Bäumen zugewachsen. Irgendwo darunter mussten sich die gewundenen Pfade durch die ewigen kühlen Schatten schlängeln; kein Wunder, dass man dort unten niemals sagen konnte, ob es Tag oder Abend war.

Die dunklen Wälder riefen nach ihm. Hätte er seine Kräfte, die ihm erlaubten, solche Abgründe zu bewältigen, in diesem Augenblick beisammen gehabt, er wäre jetzt spurlos in den grünen Tiefen verschwunden.

Ende Teil 150

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