(16/9) Provokation

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Der Verwesungsgestank hing noch eine Weile auf dem Weg, bis der Wind sich erbarmte und ihn mitnahm. Auch als Valerio tief durchatmete, wollte der Druck in seiner Brust nicht weichen. Das war Terror. Man ließ sie dort, bis sie starben. Die ganze Stadt, jeder, der wollte, konnte sie sehen - und dann wartete man, bis nur noch die Gerippe übrig waren. Hier zeigte sich der Kardinal nun in seiner ganzen Abgründigkeit. Und er hatte aus seinem Becher getrunken! Angewidert drehte er sich zur Seite und spuckte gegen die verwitterte Stadtmauer aus. Lieber wäre er verdurstet.

Mit zusammen gebissenen Zähnen, in der Hoffnung, es würde ihn ablenken, ließ er den Blick wieder über die beeindruckende Landschaft zur Linken schweifen, aber vergeblich; die Augen des jungen Mannes und dessen schwacher Versuch die Ratten abzuwehren, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Unbändige Wut überkam Valerio bei dem Gedanken, wie oft Vincenzo Grassi wohl hier entlang ritt, nur um den Fortgang des Leidens und Sterbens dieser Menschen zu erleben. Wie lange dauerte so etwas? Waren sie zuvor gefoltert worden - eingekerkert, ausgehungert? Brachte er ihnen Wasser - damit sie lebend und bei Bewusstsein waren, wenn die Krähen die ersten Stücke aus ihnen heraus rissen?

Oh, es war nicht so, dass er solche Dinge nicht kannte! Er war in eine Zeit hinein geboren worden, in der Macht und Ohnmacht sich in bizarrem Tanz verrenkten, in der Könige und Päpste ihre Armeen auf bestellten Feldern gegeneinander anstürmen ließen und kirchlicher und weltlicher Terror abwechselnd über die Köpfe der armen Bevölkerung niederkam. Auf der einen Seite drohten eine unberechenbare Natur und zahllose Kriege, über deren Beginn und Ende die Mächtigen befanden - und auf der anderen Seite fürchtete man den Zorn Gottes, seine strafende Hand, und schlimmer noch: Den Teufel und das Fegefeuer. Und es gab keinen Mächtigen, der nicht auf die eine oder andere Weise die Angst der Menschen zu seinem Vorteil nutzte.

Jahrhunderte vergingen und die Bedrohungen wandelten ihr Gesicht. Was gleich blieb, waren das Spiel mit der Angst und die Interessen der Herrschenden, nur dass diese nicht mehr so offen durchgesetzt wurden wie in den Jahrhunderten davor; Bildung machte den Unterschied. Zu viele durchschauten die Zusammenhänge, man sah hin und erkannte Strukturen. So wurden die Waffen unsichtbar, man tarnte seine Pläne und sein Tun, benannte es um. Und die Menschen flüchteten in Süchte, Krankheiten und Bequemlichkeiten und übten das Leugnen und Wegsehen. Weil sie an ihre Ohnmacht glaubten. Und weil Courage und Verantwortung einen hohen Preis verlangten, den die meisten nicht zahlen wollten.

Aber hier - an den Menschen, die man in diese Käfige gesteckt hatte - war die Gewalt zumindest offen sichtbar. Man bemühte sich nicht, sie zu verbergen. Später würde es weitaus mehr Intelligenz und Wachheit brauchen, um die Opfer des gigantisch angewachsenen Systems von Macht und Ohnmacht überhaupt wahrzunehmen... Obwohl es Milliarden in aller Welt sein würden.

Über das Geschenk des Wissens und Erkennens hatte sich ein neuer Schleier gebreitet: Der des Nicht-Wissen-Wollens. Obwohl Wissen nun für jedermann im Angebot war. Die Sucht der Verdrängung. Die Angst vor Erkenntnissen, denen natürlicherweise eigenverantwortliches Handeln folgen musste. Da waren viele lieber blind.

Er musste sehr vorsichtig sein. In Gedanken ging er die Gebete und Psalmen durch, die seine Mutter ihn gelehrt hatte. Er musste wie ein braver Christ wirken, wenn er die heiligen Sakramente empfing.... Er durfte diese Chance nicht vertun, es musste gelingen. Inständig hoffte Valerio, man würde den Wein nicht mit Essig und Wasser verpanschen; sollte es reiner Wein sein, würde ein großer Schluck seine Verfassung bereits soweit verbessern, dass er bis in die Wälder gelangen konnte. Die Wälder.... Seine Waffen fielen ihm ein. Der Kardinal schien von seinem Bogen fasziniert, er hatte ihn nicht hergeben wollen. Er war in der Festung zurück geblieben. Heute hätte er ihn gebraucht.

Wenigstens um den Dolch wollte er handeln, das hatte er sich am Morgen vorgenommen. Es musste gelingen, wenn er auf das Pferd verzichtete, das man ihm für die Damaszenerklinge geben wollte. Sie war wertvoll. Aber wenn er sie nicht zurück bekam? Wenn man sie, wie auch den Bogen und die guten Pfeile, in der Festung verwahrte? Und wenn schon! Das sollte ihn nicht aufhalten! Er würde im Wald untertauchen. Er wusste, wie man Fallen baute.

Es war riskant, nach dieser Zeit der völligen Abstinenz und bei dieser geballten Wut in seinem Bauch Tierblut zu trinken... Es war sehr nahe an dem, was er unbedingt vermeiden wollte! Aber es würde zugleich auch so viel stärker wirken als ein paar Schlucke Wein oder eine Handvoll Trauben. Es würde ihn schneller auf die Beine bringen, so dass er reisen konnte.... Er durfte Magnus nicht länger als irgend nötig allein lassen. Ja, es war unumgänglich! In dem Dominikanerkloster erwartete ihn kaum mehr als ein einziger Schluck - Es sei denn, er konnte Wein stehlen. Aber er musste sich vollständig stabilisieren, spätestens bis zum Mittag. Ein Kaninchen oder Reh würde also das Erste sein, was er...

Der Schmerz setzte so plötzlich ein, dass er sich über dem Hals der Stute zusammen krümmte. Er würgte. Es fühlte sich an, als hätte er Nägel im Magen. Die zweite Welle unterdrückte er gerade noch rechtzeitig, bevor man ihn hörte. Der Schwindel in seinem Kopf und die zuckenden Blitze vor den Augen machten ihn beinahe blind. Er griff nach der Mähne des Pferdes. Vergeblich versuchte er die Reiter vor sich auf dem Weg zu erkennen.

Die Stute schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, sie begann zu schnaufen und warf den Kopf herum, dann tänzelte sie und stellte sich beinahe quer. Valerio befürchtete, sie würde steigen; aber schließlich folgte sie den Hilfen, die er ihr mit den Beinen gab, und bewegte sich widerwillig zurück in Richtung des Weges. Er beherrschte sich, so weit es ihm möglich war. Der Kardinal und seine Männer durften seinen Zustand nicht bemerken. Er musste das Pferd ruhig halten!

Der Mann, der die Stute mit sich führte, wandte sich halbwegs zu dem nervösen Tier um. Der Ruck seiner Faust an dem Strick ließ die Stute aufwiehern.  "He, was soll das", kläffte er. "Bleib still, du altes Mistvieh. Machst mir noch mein Pferd scheu."

"Das war ein Eichhörnchen. Sie hat sich erschreckt." Seine Stimme wirkte schwach, er spürte das Zittern darin. Der Mann schien jedoch nichts zu bemerken.

Mit trockenem Mund und kaltem Gesicht richtete Valerio sich im Sattel auf und unterdrückte die Übelkeit, bemühte sich, die Krämpfe in den Muskeln unter Kontrolle zu bringen, während er die Mähne des Pferdes umkrallte.

"Ein Eichhörnchen... Dann halte sie ruhig, verdammt", knurrte der Mann über die Schulter und wandte sich wieder dem Weg zu.

Er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, aber er ließ es sich nicht nehmen, auf die dumme Reaktion des Mannes zu antworten. "Sie ist blind auf einem Auge! Ich kann nicht viel für sie tun, wenn du sie am Strick hinter dir her zerrst wie ein Schwein", rief er ihm gegen den Rücken. "Du führst sie, aber du achtest nicht auf sie. Wenn ich die Zügel hätte, wäre das nicht passiert."

Der Reiter sagte nichts mehr, stattdessen erklang ein raues Lachen. Langsam hob er den rechten Arm zur Seite und zeigte ihm mit einer obszönen Geste seiner Hand, was er von ihm hielt. Er hatte ihn dabei nicht angesehen, hatte ihn auch, als er sich im Sattel rückwärts wandte, um die Stute zu sich heran zu zerren, höchstens aus dem Augenwinkel wahr genommen. Jetzt ritt er weiter, den Kopf stur nach vorne gerichtet. Er hatte Valerios Zustand nicht bemerkt.

Wie kam Vincenzo Grassi zu solchen Männern? Er lächelte durch seine Übelkeit hindurch, zog die frische Luft durch die Nase ein und wandte den Blick von seinem Vormann ab. Das war einer dieser plötzlichen Anfälle gewesen... Es wurde wieder besser. Der Wein, den er am vergangenen Abend am Tisch des Kardinals gestohlen hatte, war von seinem Organismus verbraucht worden. Er hätte länger vorgehalten, wenn sich die Wirkung nicht vorzeitig durch seine Wut über Mauros Hand und die üble Täuschung des Inquisitors verflüchtigt hätte.

Und diese Menschen in den vergitterten Mauernischen... Hass und Wut ließen die Kontrolle schwinden, sie lösten die letzte Barriere zwischen ihm und der Bestie auf, sobald er in einen unterversorgten Zustand geriet. Aber es war ihm kaum möglich, sich durch diesen Kardinal und sein Tun nicht provozieren zu lassen! Es war ein Teufelskreis; was er in Gegenwart des Inquisitors erlebte, machte ihn rasend vor Wut - und die Wut schwächte seinen Widerstand gegen das Tier. Sein gefährdeter Zustand und die Nähe zum Tier wiederum bewirkten, dass er auf die Provokationen des Kardinals weitaus empfindlicher reagierte als wenn er bei Kräften gewesen wäre. Und so war er in einer Spirale gefangen, die sich immer schneller abwärts bewegte. Er musste hier weg. Er wollte allein sein.

Warum begleitete er Vincenzo Grassi nun noch zum Dominikanerkloster? Hatte der Kardinal ihm nicht die Freiheit zugesagt? Er hätte darauf bestehen müssen, gleich abzureisen. Er hätte sich das hier sparen können, wenn er früh am Morgen direkt in die Wälder aufgebrochen wäre. Oder sogar schon gestern Nacht... Warum traf er so unvernünftige Entscheidungen? Sicher, es hätte ein wenig Zeit gebraucht, sich einen Hasen zu fangen. Er wäre jedoch Stunden früher in Freiheit und außer Reichweite der Machenschaften des Inquisitors gewesen.

Nein, so einfach war die Sache nicht. Er hatte bereits in der Nacht, unmittelbar nach seinem Verhör, zugesagt, den Kardinal zum Kloster zu begleiten - aus gutem Grund. Es war die bessere Wahl, nicht nur, weil es ihm Wein versprach. Er musste seine Rolle als gottesfürchtiger Christ bis zum Ende glaubhaft spielen. Nur so kam er vielleicht glatt aus der Sache heraus.
Jedes Ausweichen, das er hier nun zeigte, würde ihn gefährlich verdächtig machen. Unglaubwürdig. Er wollte nicht wirken wie einer, der Grund zur Flucht hatte. Es war wichtig, dass er gelassen und arglos auf das Angebot des Kardinals einging. Vincenzo Grassi war von höchstem Rang. Es war eine Einladung. Eine, die ein gottesfürchtiger und kirchentreuer Mann nicht ausschlug. Vielleicht war es sogar als Versöhnungsangebot gemeint - für die anfängliche Misshandlung, die er ihm zukommen lassen hatte.

Dennoch regte sich Widerspruch in seinem Herzen - und dieser war ebenso laut wie die Einsicht, dass Besonnenheit und Ruhe hier nun das Beste seien. Dieser selbstherrliche Kirchenmann hatte Mauros Hand abschlagen lassen! Er hatte ihn belogen, ihn mit arglistiger Täuschung dazu bewegt, unwiederbringlichen Schaden im Leben eines unbekannten Vorbeireisenden anzurichten. Und er hatte diese armen Menschen, die acht Wehrlosen, bei lebendigem Leib auffressen lassen und ergötzte sich noch daran, stellte sie grausam aus, damit die Kinder der Stadt sie fanden, wenn sie hier zu ihren Abenteuern herkamen... Er musste jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber er schwor sich: Das sollte sein letzter Fehler in dieser Geschichte gewesen sein.

Die Stadtmauer wich zurück und machte dem wild gewachsenen Gelände Platz, das sich vor ihnen ausbreitete. Der hohe, zerklüftete Wall aus maroden Steinen verlief nun hinter einem Eichenhain. Der Weg wurde breiter, er bog von der Schlucht ab und ging nun zwischen den alten Stämmen der Korkeichen hindurch. Das Gras wuchs hier höher, es wurde schattig und kühl. Über ihren Köpfen spielten im Wind die Blätter der alten Bäume. Valerio ließ sich von ihrem Wispern und Rauschen trösten. Über all die Jahrhunderte hatte er sich so sehr entwickelt. Nur eines war immer gleich geblieben: Der halbwüchsige Junge, der noch in ihm lebte - der mit dem rücksichtslosen und unempathischen Vater - vertrug keine Gewalt gegen Hilflose.

Zwischen den Bäumen schritten die Pferde schneller aus, die Morgensonne schoss ihre Strahlen durch die Wipfel. Bald hörte man das Rauschen einer Quelle, die in einen breiten Bach mündete, und sie hielten an, um die Pferde trinken zu lassen. Der Mann, der die Stute geführt hatte, stieg aus dem Sattel und warf Valerio den Strick zu.

"Hier, fang auf, Prinz Ohnezügel. Falls ein Eichhörnchen vorbei kommt."

Sein Grinsen zeigte, das er sich über ihn lustig machte. Plötzlich erlosch es, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Er schien auf eine Reaktion zu warten. Als Valerio seinen provokanten Blick ruhig erwiderte und weder Ärger noch Verunsicherung zeigte, nickte er abschätzig, wandte sich ab und führte sein Pferd zum Wasser.

Auch die Stute musste trinken; Valerio suchte für sie eine Stelle, an der das Ufer nicht so steil abfiel und der Boden fest war. Er hockte neben ihrem zotteligen Kopf und wollte gerade eine zweite Handvoll des kühlen Wassers zum Mund schöpfen, als ihn eine wohlbekannte Stimme mitten in der Bewegung innehalten ließ.

Ende Teil 152










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