(18/4) David gegen Goliath

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"Was um Himmels Willen denkst du dir dabei!" Der Prior schloss eilig das Fenster und wandte sich wieder in den Raum hinein. Im Vorbeilaufen schoss er wütende Blicke zu Crispino hinüber. "Hältst du mich für wahnsinnig?", warf er über die Schulter zurück, während er zur Tür lief. Er riss sie auf, streckte den Kopf in den Gang hinaus, dann schloss er sie wieder. Er schob sogar den Riegel vor - als ließe sich dadurch verhindern, dass das Gesprochene nach außen drang. Sein tiefer Bass, der sonst so viel Wärme und Freundlichkeit ausstrahlte, schien nun selbst die verstaubten Bücher in den Regalen in Vibrationen zu versetzen. "Ich dachte, du bist vernünftiger, Crispino." Er schüttelte den Kopf. "Du enttäuschst mich."

Der Heiler fuhr bei den harten Worten Geronimos zusammen. Hätte er sich nur bis zum Abend Zeit gelassen, noch einmal mit diesem Valerio gesprochen, die Sache besser durchdacht! Jetzt war es zu spät. Er hatte nur diese eine Gelegenheit. Wenn er sie jetzt verschenkte, konnte er dem Gefangenen auch gleich Rattengift in den Brei mischen. Das Leben des armen Mannes - und später womöglich sogar sein eigenes - waren verwirkt, wenn er hier nun den Prior nicht zur Mithilfe bewegte.

"Er... er ist ein Medicus", verteidigte er sich viel zu leise und wenig überzeugend. "Ein Heilkundiger, Geronimo. Du weißt, wie wir Heiler unter der Inquisition..."

"Schon wieder diese Geschichte, Bruder? Und da glaubst du, wir müssten sie alle retten, einen nach dem anderen? Nur weil dich der Tod deiner Schwester nicht los lässt? Können wir das - sie alle aus der Zange der Inquisition befreien?" Er ließ ein bitteres Lachen hören. "Mein Freund, ich schätze dein gutes Herz, das weißt du. Aber du bringst uns alle in Schwierigkeiten, wenn du dich bei deinen Aufgaben dermaßen übersteigst - dazu in diesen unberechenbaren Zeiten."

"Aber ich möchte doch nur versuchen..."

Der Prior ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Das ist nichts, was man mal eben versucht... und zurück nimmt, wenn es nicht den erhofften Erfolg einbringt! Ich denke, du hast mich nicht verstanden", tadelte er halblaut, während sein Blick sichernd zur geschlossenen Tür hinüber ging. "Und rede gefälligst leiser in diesen Räumen, wenn du mir... solche Themen hinein trägst." Seine Stimme wurde zu einem scharfen Flüstern. "Crispino, denk nach! Sie haben uns das Inquisitionsgericht direkt unter unseren Schuhsohlen eingerichtet. Dies ist eine Prüfung, mein Freund! Für uns alle, nicht nur für dich allein. Ich kann dir nicht helfen, wenn du in diesen Kerker hinunter steigen und dein Leben riskieren willst, und ich werde nicht dulden, dass..."

"Ich muss doch hinunter", wandte Crispino trotzig ein. "Es ist meine Aufgabe, ihn zu pflegen. An Salomones Stelle, bis er zurück kommt."

"Dann tu das, um Gottes Willen." Geronimos Ton klang nun ein wenig versöhnlicher. "Tu für ihn, was du kannst. Aber wahre die Grenzen. Die Gefangenen sind nicht unsere Angelegenheit. Der Kardinal... muss wissen, was er tut."

In seinen Gedanken hörte Crispino einmal mehr die Schreie, die seit Monaten aus dem Keller nach oben drangen. "Wissen, was er tut? Du weißt, dass das Irrsinn ist", wagte er sich flüsternd vor. "Wenn er weiß, was er tut und dennoch tut, was er tut, ist er kein Mann Gottes, sondern ein  Verbrecher. Wenn er im Glauben Recht zu tun so handelt, muss er an die Gesetze erinnert werden. Und wenn, was er tut, Absicht und Willkür ist in dem klaren Wissen, hier die Gesetze zu missachten, müssen wir ihn melden. Kardinal hin oder her!" Er gestikulierte jetzt aufgebracht in der Luft herum. "Ich erinnere dich an die Käfige in der Stadtmauer, Geronimo. Anfang Juli waren sogar Vierzehnjährige dabei. Das sind doch noch Kinder! Wie könnten die bereits derart gehandelt haben, dass sie einen solchen Tod verdienen?" Er holte tief Luft für die nächsten Worte. "Geronimo... Ich möchte mich nicht offen gegen Vincenzo Grassi richten oder sein Handeln in sein Gesicht hinein in Frage stellen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Mir ist mein Leben lieb, das darfst du mir glauben. Aber als ein Gottesdiener kann ich nicht zusehen, wie er... Bruder, wir müssen uns etwas einfallen lassen! Es wird höchste Zeit."

Geronimo seufzte. Er ließ sich in einen der beiden Armlehnstühle unter dem Fenster fallen, nahm den Krug vom Tisch und goss Wein in sein Glas. "Ich verstehe dich ja", lenkte er ein. "Und ich weiß, wie gut du es meinst." Er klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch. "Komm, nimm dir ein Glas aus dem Schrank und trink einen Schluck mit mir. Erzähle mir von diesem Gefangenen. Aber erwarte nicht, dass ich meine Haltung ändere. Ich bin verantwortlich für uns alle, nicht aber mehr für das, was in unserem Keller geschieht. Ich befürworte es genauso wenig wie jeder hier, aber ich kann nichts daran ändern, mir sind die Hände gebunden. Wir können keine offizielle Beschwerde nach Rom senden. Diese bräuchte Beweise, dass  Vincenzo Grassi seine Macht und Aufgabe missbraucht, und die haben wir nicht." Er nahm das Glas, das Crispino ihm reichte, aus dessen Hand an und füllte es. "Und selbst, wenn es die gäbe und dazu glaubwürdige Zeugen... die Sache wäre immer noch zu riskant. Ich kenne den Kardinal gut genug. Wenn man seinen Stolz beleidigt, seine Souveränität in Frage stellt, wird er unberechenbar. Sein Kerker würde einige von uns fressen. Dich und mich zuerst, da darfst du sicher sein. Und ich für meinen Teil habe nicht vor, in dieser Sache zum Märtyrer zu werden. Auch du solltest das überdenken. Lebendig dienst du dem Herrn besser."

Eine Weile schwiegen beide. Das Lachen der mit der Apfelernte beschäftigten Mönche, das durch das Fenster in den Raum hinein drang, ließ das Thema weniger dramatisch wirken als es war. Crispino blieb an der Tischkante stehen. Die Enttäuschung lag ihm schwer im Magen. Dem Blick, den der Prior ihm zuwarf, sah er deutlich das Bedauern an. Ihm entging nicht, dass Geronimo einen guten Teil seiner wahren Gefühle zum Anliegen seines alten Freundes unterdrückte. Umso mehr ärgerte er sich über ihn. Er war versucht ihn feige zu nennen.

"Nun setz dich schon her zu mir", forderte Geronimo ihn zum zweiten Mal auf. "Über solche Dinge sollten wir Besonnenheit bewahren und sie nicht im Vorbeigehen besprechen. Und ich möchte nicht, dass wir deswegen in Streit geraten. Unsere Freundschaft währt nun bereits zweiunddreißig Jahre. Du kennst mich. Ich mache mir nur Sorgen."

"Ich ebenso", merkte Crispino leise an und resignierte beinahe. "Nur gilt meine Sorge nicht allein meinem eigenen Wohl." Unwillig rückte er sich den Stuhl zurecht. Geronimo schob ihm energisch das gefüllte Glas hinüber. "Gut. Dann sag mir: Wer ist dieser Mann? Er scheint dich ja sehr beeindruckt zu haben?"

Crispino blickte nachdenklich auf das Glas. Das Nachmittagslicht fing sich im Wein und ließ ihn blutrot aufleuchten. Mit dem Finger umfuhr er den roten Lichtreflex, der sich davor auf der Tischplatte zeigte. "Er hat mich nicht beeindruckt", log er. "Er ist... irgendein Mann. Ein Heiler."

"Dann spricht er mit dir?"

Crispino hob die Schultern, setzte die Unterarme auf den Armlehnen seines Stuhles ab und sah Geronimo in das fragende Gesicht. "Nicht viel."

Mehr sagte er nicht. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Scham lastete auf ihm. Seine Idee musste einfältig und dumm wirken. Er wusste nicht, was er seinem Freund über den Gefangenen sagen sollte. Und wozu würde das gut sein? Er konnte ihm sein Interesse nicht erklären, Geronimo schien dagegen verschlossen wie eine Kerkertür; und er hatte Recht: Es war viel zu gefährlich, sich hier einzumischen. Sie konnten nichts tun.

"Er spricht nicht viel, sagst du... aber du weißt es von ihm? Er könnte dich belogen haben. Könnte behaupten, er sei Heiler, so wie du. Damit du über ihn nachdenkst. Und mitfühlst. Vielleicht will er gerade das bewirken: Dass du deinen Kopf riskierst, ihn zu retten."

"Er hat nicht gelogen", korrigierte Crispino knapp und sah aus dem Fenster.

Bei dem beharrlichen Ton seines Freundes hob der Prior neugierig den runden Kopf. "Hat er nicht? Was macht dich da so sicher?"

Ein schwacher Hoffnungsschimmer glomm in Crispinos Herz auf. Geronimo schien sich zumindest für seine Beweggründe zu interessieren... Vielleicht konnte es doch noch gelingen, ihn von der Besonderheit dieses Falles zu überzeugen. "Er kennt sich mit Heilmitteln aus", antwortete er. "Mit Wundbehandlung."

Der Prior blieb hartnäckig. Zweifelnd wog er den Kopf hin und her. "Das lässt sich leicht behaupten."

"Er hat es aber bewiesen. Er wollte nicht, dass ich Mohnsamen in den Brei für seinen Rücken mische, ich sollte..."

"Mohnsamen auf der Wunde... Ist das denn angesagt?"

Crispino nickte. "Ja, das ist die übliche Behandlung bei tiefen Wunden. Die Mohnsamen betäuben die Schmerzen und unterstützen die Heilung. Auch wird allgemein angenommen, dass sie Wundbrand verhindern können."

Geronimo hob die Augenbrauen. "Und er wollte sie nicht? Warum nicht? Ich sehe hier noch nicht den Beleg dafür, dass er sich auskennt, insbesondere, wenn das die übliche Behandlung ist. Wenn man es üblicherweise so macht, sollte er das wissen, oder nicht?"

"Es ist üblich", erklärte Crispino, "aber der Mohn hat auch seine Schwächen an offenen Wunden. Er lässt sich nicht gut heraus waschen, wenn es verheilt. Er klebt sich in die Wunde und wächst mit ein, und das gibt Schwierigkeiten. Es ist schmerzhaft, eine eiternde und nicht gut verheilende Wunde von den Samen zu säubern. Das wusste er."

"Hm... er könnte es irgendwo aufgeschnappt haben. Solches Wissen kann auch Erfahrung sein. Er muss deshalb nicht studiert haben. Crispino.... kann es sein, dass du hier den Tricks eines armen Sünders aufsitzt, der seine Strafe fürchtet und sich Hilfe von dir erhofft?"

"Nein", antwortete Crispino entschieden. "Er ist Heiler, ich bin ganz sicher. Er sagte mir, wie er behandelt werden wollte, er nannte die lateinischen Namen für verschiedene Kräuter - und das in halb bewusstlosem Zustand und unter Schmerzen und Schlafmohnsaft. Sein Wissen kam aus der Tiefe seines Wesens. Er sagt, er hat in Assisi studiert." Crispino setzte sich in seinem Stuhl auf und langte nach seinem Wein. "Und er hatte Recht, was die Mittel betraf, die er nannte." Er nahm einen großen Schluck und setzte das Glas wieder ab. "Sein Rezept war einfach, aber so viel besser als meines. Er kannte die Wirkung von Honig als Träger heilender Stoffe, als Mittel gegen beginnenden Wundbrand... und in seiner heilenden und pflegenden Eigenschaft, ohne die Wunde mit Rückständen zu verkleben. Und glaub mir, Geronimo... Als ich diesen Rücken sah, die tiefen Wunden... Weder wäre ich ausgerechnet darauf gekommen, hier den Mohn weg zu lassen und es stattdessen mit Honig zu versuchen - noch hätte ich selbst dazu geraten, auf die betäubende Wirkung des Mohns zu verzichten, nur um die Komplikationen, die die Samen mit sich bringen, zu umgehen."

Der Prior verzog skeptisch die Mundwinkel. "Nun.... dann mag seine Methodik nicht unbedingt besser, sondern bestenfalls Ansichtssache sein. Ich halte dich nämlich durchaus für einen guten Heiler. Und er ist wohl offenbar ein Kerl, der hart im Nehmen ist. Aber auch das macht ihn nicht zum Medicus."

Crispino schüttelte energisch den Kopf. "Du verstehst es nicht, Bruder. Er wollte, dass ich statt Mohn Lattich hinein nehme. Lactuca - das ist ein vielseitiges und hochwirksames Mittel. Es wird oft verkannt, da es an jedem Wegrand und auf allen Wiesen wächst. Es ist sehr erfolgreich gegen Schmerzen, wird aber, Gott weiß, warum, zumeist nur gegen Verbrennungen eingesetzt. Seine Methode ist die bessere, Bruder! Gut durchdacht, schonender, erfolgversprechender und vernünftig. Er... er ist etwas Besonderes. Sehr klug und aufmerksam und... Du hättest ihn sehen sollen. Wie er da lag mit diesen furchtbaren Rissen im Rücken. Und seine Hand..."

Welche Mittel hat man beim Verhör angewendet?" Geronimos Interesse schien zu wachsen.

"Es waren nicht nur die inquisitorischen Mittel. Diese scheinen bereits mehr als genug, aber er ist auch der Willkür der Wächter ausgesetzt. Sie lassen sich auf unsägliche Weise an ihm aus. Die Verhöre betreffend wären die Rippenbänder zu nennen, die Fingerschrauben und die Nagelzange... Seine rechte Hand ist zerstört. Die Fingerknochen gebrochen, die Gelenke zerquetscht, die Fingernägel heraus gezogen. Aber auch Feuer scheint zum Einsatz gekommen zu sein." Bei der Erinnerung an die Hand überlief es ihn kalt. "Es muss mehrere Verhöre gegeben haben. Sie haben sich die Hand immer wieder vorgenommen, jedenfalls sieht es so aus."

Bei seinen Beschreibungen schüttelte Geronimo ungläubig den Kopf. "Das widerspräche den Vorschriften. Wie kommst du darauf, der Kardinal könnte so vorgehen? Behauptet er das, dein Gefangener?"

"Nein... Ich sagte dir ja schon, er spricht kaum. Ich habe es mir ausgerechnet. Die Folter hat in drei sich steigernden Etappen jeweils eine andere zu sein, so ist es festgelegt. Und die Dauer sollte jeweils acht, später zwanzig Minuten nicht überschreiten. Es ist üblich mit den Fingerschrauben zu beginnen. So wie die Hand zugerichtet war, hat man sich aber weitaus länger damit beschäftigt. Es waren entweder wesentlich mehr als acht Minuten an einem Stück - oder man hat die Sache in jedem Verhör weiter fortgesetzt, was ebenso wenig erlaubt ist. Die linke Hand ist unversehrt, die rechte könnte er vollständig verlieren."

Crispino warf einen prüfenden Blick ins Gesicht seines Freundes. Dieser schien nun aufmerksam zuzuhören. "Was ich sagen will, Geronimo: Es sieht nicht danach aus, als hätte man hier die übliche Folter angewendet, um Antworten und Geständnisse aus ihm heraus zu pressen. Vielmehr ist die Absicht erkennbar, mit der Folter zugleich auch sein Leben, seine Zukunft gezielt zu zerstören. Auch der Rücken.... Du müsstest das gesehen haben, Geronimo. Es wirkt, als habe hier jemand seine ganz persönliche Wut an ihm ausgelassen. Auch hier wieder: Das wird man ihm kaum in einem einzigen Verhör angetan haben. Es sieht so aus, als wäre er über Tage wiederholt ausgepeitscht worden. Dazu ist die Peitsche kein Mittel der Inquisition, sondern eine Strafe, der eine Verurteilung voraus gegangen sein muss. Und hier wiederum: Körperliche Bestrafung und peinliche Befragung innerhalb derselben Woche ist ungesetzlich. Ebenso wie bei einer mehrmaligen Bestrafung mit der Peitsche zwischen den Ausführungen mindestens zwölf Tage liegen müssen. Und ich kann dir versichern: Was sie an seinem Rücken angerichtet haben, ist entweder in einem Zug geschehen, oder es lagen höchstens zwölf Stunden dazwischen, bevor sie ihn wieder geholt haben."

Das Erschrecken in Geronimos Gesicht zeigte Crispino, dass er anscheinend auf dem richtigen Weg war. Der Prior begann mitzufühlen. "Du hast Recht", sagte er. Der Heiler meinte ein leises Beben in seiner Stimme wahrzunehmen. "Das ist allerdings eine delikate Angelegenheit. Vincenzo Grassi scheint sich offenbar sehr sicher zu fühlen bei seinen... Tätigkeiten in unseren Kellergewölben."

Er erhob sich aus seinem Stuhl und begann im Raum auf- und ab zu wandern. Das Zögern in seinen Worten verriet Nachdenklichkeit und Betroffenheit. "Der Schaden ist angerichtet... Der Gefangene hat mein Mitgefühl so sehr wie deines, Bruder. Ich verstehe, was du mir sagen willst. Aber...", er blieb vor dem Heiler stehen, "sie haben dich gerufen. Das zeigt doch, dass sie wissen, sie können so nicht weitermachen. Ganz sicher wollen sie, dass er am Leben bleibt. Da du dich nun um seine Wunden kümmern sollst, scheint er es hinter sich zu haben... Meinst du nicht?"

In einer ratlosen Geste hob Crispino die Hände. "Ich weiß es nicht, Geronimo. Ich möchte es glauben und hoffen, aber..." Er zögerte, war sich nicht sicher, ob es geschickt war, derart ungenaue und gefühlsschwere Äußerungen in seinen Bericht einfließen zu lassen. Er hatte sich bemüht, klare Argumente auf den Tisch zu bringen, um glaubwürdig und ernsthaft genug zu wirken. Dennoch sagte ihm sein Instinkt, er sollte hier nun auch sein Gefühl mit einbringen. "Ich befürchte", begann er vorsichtig, "es ist für ihn noch nicht vorbei. Noch lange nicht. Und ich kann nicht seine Wunden versorgen und zusehen, wie sie ihn dann wieder mitnehmen und ihm jede denkbare Zukunft zerstören. Oder ihn töten. Nicht, wenn ich denken muss, er könnte unschuldig sein..."

"Das können wir nicht beurteilen."

"...und nicht, wenn man so vorgeht, wie es hier geschieht", beendete Crispino seinen Satz, ohne auf den Einwand des Priors einzugehen. Er sah dem Älteren fest in die zweifelnden Augen. "Ich bin nicht nur der römischen Kirche verpflichtet, Geronimo. Ich stehe auch ganz unmittelbar vor dem Angesicht Gottes mit jeder meiner Entscheidungen und Handlungen. Die Kirche und ihre Vertreter sind nicht unfehlbar. Und Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind meine höchsten Richtlinien, umso mehr, weil ich Medicus und Mönch bin. Ich kann nicht anders als mich hier zu sorgen."

Geronimo schwieg. Sein Gesicht wirkte verschlossen. Crispino nahm seine grübelnde Haltung wahr; er wusste, er durfte es bei ihm nicht übertreiben mit den Argumenten. Er hatte alles gesagt. Nun galt es abzuwarten und zu hoffen.

"Nein." Scharf durchschnitt der Klang dieses einen Wortes die erwartungsvolle Stille. Die Mimik des Priors wirkte plötzlich unnahbar und distanziert. Crispino wusste, er versteckte sich nur dahinter, weil sein Mitbruder Recht hatte und die Sache ihn bewegte. Er hatte Geronimo mit seinem Vortrag erweichen können, er war sicher.  Aber nun gewannen Sachlichkeit und Kirchengehorsam die Oberhand. "Nein", sagte Geronimo noch einmal und schüttelte den Kopf. "Wir bekommen deinen Schützling da nicht heraus, ohne die Vorgehensweise des Kardinals offiziell in Frage zu stellen und anzuklagen." Er sah tadelnd zu dem Heiler hinüber, der bei seinen Worten ebenfalls aufgestanden war. "Was hast du dir da nur gedacht - und wie sollte das geschehen? Es gibt keine Möglichkeit dem Gefangenen zu helfen, ohne dass dabei ein offener Disput mit Vincenzo Grassi entsteht."

Crispino brauste auf. "Sprich mit dem Abt! Droht Vincenzo, tut euch zusammen! Sagt ihm, das muss aufhören, oder er wird sich dafür verantworten müssen! Was er hier tut, stört und behindert den Frieden dieser Abtei, es richtet sich gegen die Gesetze, es ist unmenschlich und wir wollen nicht..."

"Ich bitte dich, Crispino. Was sollten wir denn sagen? Die Inquisition ist als ein heiliges Mittel im Dienst Gottes und der Kirche seit mehr als zweihundert Jahren angesehen und gefürchtet. Und wir... wir halten Bienen, Hühner und vier Schweine auf diesem Flecken! Wir ernten ein paar Äpfel und Beeren - und der stumme Muzio hat hinten an der Mauer ein paar Reihen Lauch und seine Kürbisse stehen. Die Kardinalpriester, die für die Inquisition eingesetzt werden, sind direkt vom Papst gesendet und beauftragt. In unserem Keller regiert Rom! Wir dagegen sind nur Fliegen an der Wand. Wir können von Glück sagen, dass wir hier bleiben dürfen und man nur den Keller in Beschlag nimmt."

Geronimos Blick wurde milder. "Ich weiß, wie dir das gegen den Strich geht, mein Freund. Sei gewiss, mir fällt es ebenso schwer. Aber wenn wir still halten, geht das vielleicht an uns vorüber und der Kardinal räumt den Keller oder baut sich irgendwo anders einen komfortableren Kerker mit mehr Platz und trockeneren Wänden und vor allem: Unter weniger beobachtenden Augen. Jetzt führt er seine Gefangenen direkt durch unseren Garten, an unseren Fenstern vorbei. Ich denke nicht, dass er vor hat, das auf Dauer in Kauf zu nehmen. Es gibt hier für sein Tun zu viele Zeugen."

"So ist es", stimmte Crispino ihm zu. "Ich denke ebenfalls nicht, dass er das noch viel länger in Kauf nimmt. Die Bedingungen hier sind für ihn nicht optimal, auch ist der Kerker durch den harten Fels, in den er gehauen ist, nicht erweiterbar." Crispino wusste, vor seinem alten Freund konnte er besser mit Sachlichkeit punkten. Er riss sich zusammen, versuchte das aufgeregte Zittern aus seiner Stimme heraus zu halten. "Allerdings... glaube ich genau aus diesem Grund auch nicht daran, dass er bald verschwinden wird. Die stille Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit des Klosters und seine Lage ausserhalb der Stadtmauer, dazu die Nähe zu Albornoz... all das macht unsere Abtei zu einem brauchbaren Ort für sein Tun. Unsere Bienen und Äpfel interessieren niemanden, ganz recht. Studieren, beten, Ziegen melken und Lauch anpflanzen können wir überall. Ich denke, er wird die Enge und Beschränktheit hier abschaffen, indem er uns allesamt versetzen lässt. Einige Klöster in der Ebene vor Rom waren in den letzten Jahren stark durch das Fieber betroffen, sie könnten frischen Zuwachs gebrauchen." Er hob die Hände in einer verzweifelten Geste. "Willst du in die römischen Sümpfe ziehen und in jedem Herbst froh sein, wenn du die Seuche des Sommers überlebt hast? Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist, Geronimo! Wenn wir uns jetzt nicht beschweren, wird diese Abtei schneller geräumt sein als wir ein Vespergebet sprechen oder einen Topf mit Honig füllen können. Diesen Ort betrachtet Vincenzo schon jetzt als eine Erweiterung von Albornoz. Folter, Leiden und Sterben werden hier bald die Oberhand gewinnen und Friede und Menschlichkeit verdrängt werden."

Geronimo schwieg mit zusammen gekniffenen Lippen. Dann nickte er. "Ja. So wird es wohl kommen, Bruder. Du magst Recht haben." Sein fragender Blick ging suchend über das Gesicht des Heilers. "Aber nun aufrichtig und frei heraus... was war denn dein Plan und Ziel? Du wirst doch kaum mit einer solchen Sache zu mir kommen, ohne dir bereits etwas zurecht gelegt zu haben?"

"Ich weiß es nicht", gestand Crispino. "Ich fühle mich schlecht, wenn ich ihn auf die Beine bringe und sie ihm dann das Leben nehmen. Ich möchte, dass er Hoffnung haben kann. Für den Fall, dass sie ihn freilassen, will ich erreichen, dass er dann nicht so ruiniert ist, dass er nicht mehr lebensfähig wäre. Ich will, dass er ins Leben zurück findet. Er ist ein guter, starker Mensch, er hat es verdient, das weiß ich."

Der Prior hatte aufmerksam zugehört. "Und wenn er zum Sterben verdammt ist? Wenn er gerichtet werden soll? Was machst du dann?"

"Dann... muss er flüchten. Er wird Hilfe brauchen." Was er da sagte, offenbarte den ganzen unüberlegten Unsinn, der seinen Kopf beschäftigte. Jeden Moment erwartete Crispino nun einen weiteren temperamentvollen Ausbruch von Seiten des Priors.

Diesmal jedoch blieb Geronimo ruhig. Was er über Crispinos Andeutung zu der benötigten Hilfe dachte, verriet er mit keinem Wort. Stattdessen schienen ihn andere Dinge zu bewegen. "Hm... Was wird ihm eigentlich vorgeworfen? Weißt du etwas darüber?"

Crispino war sicher, Geronimo hörte sein Unbehagen heraus. Er hatte gehofft, dass die Frage nicht mehr kommen würde. Aber er hatte die Sache begonnen, nun musste er auch die Einzelheiten liefern. "Er sagt, er habe jemanden umgebracht..." Er warf einen unsicheren Blick zu dem Prior hinüber. "Einen Jungen."

Das empörte Erstaunen im Gesicht des Freundes machte Crispino Angst. Er kannte ihn gut genug um zu wissen: Nun würde er auch den Rest erfragen. Und richtig - als die Worte heraus waren, brauchte es nur wenige Augenblicke, und Geronimo forderte die fehlenden Details.

"Einen Jungen... umgebracht? Warum?"

"Er sagt, aus Habgier. Es soll Raub gewesen sein."

"Herr im Himmel! Und da willst du helfen? Du bist entweder wahnsinnig oder dumm, mein Freund. Und ich hoffe, das weißt du auch. Aber sag, war es denn in geplanter Absicht? Oder hat es sich nur ergeben und war so gar nicht gewollt? Das würde einen Unterschied machen... Wie ist der Junge denn zu Tode gekommen?"

Crispino wusste, gleich würde Geronimo ihn für vollständig übergeschnappt halten. Aber er wusste auch, er konnte nicht gehen, ohne auch diese Antwort noch gegeben zu haben. Wenn Geronimo etwas wissen wollte, ließ er nicht nach, bis er es in Erfahrung gebracht hatte. "Hexerei und Magie sollen es gewesen sein", beichtete er. "Er sagt, er habe den Jungen mit Magie getötet. Er sprach von einem... Sterbezauber."

Geronimo schüttelte langsam den Kopf. "Dann ist ihm nicht zu helfen. Überlass ihn seinem Schicksal und halte dich da heraus."

"Aber sie haben es ihm vielleicht nur abgepresst unter der Folter! Und nun glaubt er es selbst!"

"Wenn er das von sich selbst glaubt, Crispino, dann sollten wir hoffen, dass es bald zuende ist mit ihm. Denn damit kann kein Mensch leben."

"Aber irgendetwas müssen wir doch tun!"

"Ja. Er muss beichten und die Sakramente erhalten. Gleich morgen früh. Ich werde mich darum kümmern. Und du.... du solltest für ihn beten."

Oh, das werde ich", murmelte Crispino zerknirscht. "Das werde ich bestimmt." Er dachte nicht daran aufzugeben. Noch war einiges zu erfragen; das Bild, das er von dem Gefangenen hatte, war noch nicht klar genug. Noch heute würde Gelegenheit sein mit ihm zu reden. Er würde seine Zeit nutzen.

Als er Geronimo beim Abschied in die Augen sah, erschien ihm der Blick des Priors seltsam fremd und kalt - beinahe so, als hätten sie einander nie wirklich gekannt. Er meinte es nicht böse, sicher. In einer Ecke seines Kopfes war Crispino davon überzeugt. Es war Vernunft, dazu Sorge um die Abtei und die Gemeinschaft, was ihn hier so kühl entscheiden ließ. Und auf seine Weise hatte er sicher Recht. Mit Vincenzo Grassi war nicht zu spaßen. Er, Crispino, war ein David, der gegen Goliath antreten wollte. Und Geronimo wollte verhindern, dass er sich selbst oder dem Orden Schaden zufügte.

Ein Leben gegen mehrere also... Man konnte nicht alle retten, hatte Geronimo gesagt. Bei dem Gedanken spürte Crispino, wie der alte Trotz in ihm aufstieg. Ja, dachte er. Man konnte nicht alle retten. Aber einen vielleicht! Und vielleicht konnte es so geschehen, dass sogar der Prior dieser Abtei nicht auf die Idee kam, sein Freund, der Heiler könne damit etwas zu tun haben.

Ende Teil 166







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