(2/6) Das Balkonzimmer

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Das Zimmer lag an einem schmalen Kanalabschnitt an der Rückseite des Hotels. Die hohen Wände der Häuser würden über den größten Teil des Tages das Sonnenlicht fernhalten. Zu dieser frühen Stunde jedoch leuchtete es über das Hoteldach hinweg, traf auf die schmalen Fenster des Palazzos gegenüber und wurde von dort direkt in das gemütliche Refugium hinein geworfen. Die goldenen Strahlen, die das Zimmer durchfluteten, schafften es bis an die obere Hälfte des Türrahmens; sie blendeten Magnus, als er eintrat.

Auf Anhieb mochte er die hübschen, im venezianischen Stil gehaltenen Tapeten und die sparsame Möblierung. Neben dem Bett aus dunklem Holz befand sich eine Kommode; passend dazu gab es einen eintürigen Schrank, in den man unten Hemden auf eine Stange hängen und oben drei Borde nutzen konnte. Für seine Sachen würde der Platz genügen, wichtiger war, dass er hier seine Ruhe hatte.
Das alte Ölgemälde über dem Betthaupt wirkte ein wenig altmodisch, ein Edelmann und ein Narr, die maskiert in einer Gondel saßen, waren darauf zu sehen. Der Narr schien dem Betrachter etwas zeigen zu wollen, er hielt einen Gegenstand in die Luft, ein Schlüssel mochte es sein. Magnus wäre zum Kopfende hinüber gehumpelt, um einen genaueren Blick auf das Bild zu werfen, wenn sein geschundener Fußknöchel es ihm erlaubt hätte. Von dort, wo er stand, erkannte er vor dem dunklen Hintergrund lediglich noch eine Brücke, dazu Hauswände, die im Nebel lagen. Bei dem herein strömenden Licht, das die Wand mit dem Bett in kühlem Schatten ließ, wirkte es, als sei die Szenerie von dem Maler an einem trüben Spätnachmittag oder in der Abenddämmerung festgehalten worden. Vielleicht brauchte das Bild aber auch nur eine gründliche Reinigung.
Vorsichtig humpelte er zu dem Sessel mit dem dunkelroten Samtbezug hinüber, der zusammen mit einem runden Tischchen bei der Balkontür stand. Unwillkürlich strichen seine Finger über den weichen Stoff; er passte wunderbar zur gleichfarbig gemusterten Tapete. Ein hoher Spiegel mit schäbigem Goldrand war neben dem Bett an der Wand angebracht. Er schien beinahe blind zu sein, man sah sich darin kaum. Wahrscheinlich hatte man ihn seit Jahrzehnten nicht ausgetauscht, er war mehr Dekoration als Nutzgegenstand.
Als er neugierig durch die offen stehende Balkontür lugte, empfand er die Enge des Kanals und die dicht stehenden Hausfronten gar nicht mehr als so störend; Geranien in verkrusteten Tontöpfen hingen an der Wand, ein großer Oleander streckte seine Blüten ins Morgenlicht und ein verwitterter Korbsessel lud zum Sitzen ein. Einen Tisch gab es nicht, aber das störte ihn nicht wesentlich. Zufrieden schweifte sein Blick über die breite Balustrade, auf der man einen Teller oder ein Trinkglas abstellen konnte. In einem leeren Aschenbecher stand Regenwasser.
Er zog den Kopf in den Raum zurück, bewegte sich mühsam am Schrank vorbei und zu dem geblümten Stück Stoff hinüber, das daneben auf eine schmale Stange gezogen war. Wie er vermutet hatte, befand sich dahinter der Durchgang zu einem kleinen Bad mit Dusche. Das Bad hatte keine Tür, sondern nur diesen Vorhang, aber das war in Ordnung. Das kleine Fenster bei der Duschkabine ging zur selben Seite hinaus wie die doppelflügelige Balkontür.
Er hatte etwas übrig für Räume, die zweckmäßig und nicht voll gestellt wirkten. In seiner Schlichtheit bot dieses Zimmer alles, was er brauchte. Das Bild über dem Bett gab Rätsel auf, aber die dunkel gebeizten Möbel und die warmen Farben der Wände und Vorhänge wirkten heimelig und beruhigend auf sein angeschlagenes Nervenkostüm. Was Angelo ihm da ausgesucht hatte, kam seinem Bedürfnis nach Rückzug und Abgeschiedenheit absolut entgegen.

Pellegrini hatte draußen mit dem Hotelier gesprochen. Als er mit dem Gepäck das Zimmer betrat, wies Magnus auf das Bett mit der braun gemusterten Tagesdecke.
"Werfen Sie den Koffer einfach dort hin. Auf dem Bett kann ich ihn am Besten auspacken." Die Schmerzen im Knöchel machten ihm das Stehen schwer. Er wollte hinter sich bringen, was zu tun war. "Ich brauche mein Duschgel und ein Handtuch ... die anderen Dinge lege ich besser gleich in den Schrank, dann ist das erledigt."

Der Arzt öffnete ihm den Koffer, dann machte er Platz und ließ ihn in seinen Sachen kramen. In der von Rosa hergestellten Ordnung wurde Magnus schnell fündig, neben seinen Waschsachen nahm er auch gleich etwas Frisches zum Anziehen heraus. Das kleine Hotel hatte eine Art Waschküche, die die Gäste nutzen konnten. Um nicht einen Haufen Schmutzwäsche mit nach Hause zu bringen, hatten Giulia und er die Gelegenheit genutzt und am Tag vor ihrer geplanten Abreise einen guten Teil der getragenen Kleidung gewaschen - auf dem großen Balkon, der zu ihrem Zimmer gehört hatte, war alles schnell getrocknet. Er war froh, so nun einigermaßen präpariert zu sein für weitere fünf bis sieben Tage in Venedig. Wenn er ehrlich war, war ihm diese Waschmaschine suspekt gewesen. Er hätte nicht gewusst, wie man sie anschaltete oder das richtige Programm einstellte, wenn Giulia sich nicht darum gekümmert hätte.

Pellegrini reichte ihm die Sachen zu und er packte alles in den kleinen Schrank. Anschließend verstauten sie den leeren Koffer unter dem Bett, damit er in dem kleinen Zimmer nicht darüber stolperte oder sich den Fuß anstieß.
Da man das Bad sowieso nicht mittels einer Tür verschließen konnte, sollte es wohl genügen, wenn er rief, falls er Hilfe brauchte. Der Arzt wollte sich in der Zwischenzeit auf dem Balkon in die Sonne setzen. Er sperrte die schmalen Glastüren weit auf, so dass er hören konnte, wenn es verdächtige Geräusche hinter dem Vorhang gab.

Magnus brauchte länger als er gedacht hatte. Er bewegte sich vorsichtig, um in der kleinen Duschwanne nicht auszurutschen. Die handgemachte Zitronenölseife, die es überall im Hotel gab, hatte eine erfrischende Wirkung. Er wusch sich damit auch den Stoppelbart; den würde er gleich noch loswerden müssen, dachte er sich, während er den Wasserstrahl ein gutes Stück wärmer einstellte als ihm geraten war. Die Hitze tat seinem verspannten Rücken gut. Sein Kreislauf war einigermaßen stabil, der Schwindel hielt sich in Grenzen und er genoss das prasselnde Wasser in seinem Nacken und den Duft der Seife. Noch unten in der Halle hatte Pellegrini ihm ein Schmerzmittel für den Knöchel gegeben. Er hatte gesagt, Magnus würde es für die Röntgenbilder brauchen. Das Mittel begann spürbar zu wirken.
Wieder und wieder schöpfte er sich Wasser ins Gesicht. Es war, als würde er erst jetzt und hier in die Realität zurück finden. Die Erlebnisse der Nacht lagen schon so weit zurück! Beinahe kam es ihm vor, als habe er alles nur geträumt. Was, wenn ihm die Erinnerung so fremdartig blieb, wie er sie in diesem Moment empfand? Wenn er vollständig vergaß, was geschehen war? Zumindest einige Punkte, die ihm wesentlich erschienen, wollte er sich vorsichtshalber jetzt sofort ins Gedächtnis rufen, bevor sie ihm entglitten. Während er still unter dem nieder rauschenden Wasser stand, versuchte er sich zu erinnern. Vielleicht war es am Besten, wenn er strategisch vorging ... Um heraus zu finden, wohin man ihn gebracht hatte, musste er zunächst die Gasse wieder finden, diesen schmalen Gang, in den er geflüchtet war, nachdem Valerio das Wasser in Brand gesteckt hatte. Die Gasse war der Ausgangspunkt. Wenn er dort bei Tageslicht hindurch ging und sich umsah - vorausgesetzt, er war körperlich dazu in der Lage - dann würde er sich sicher an Details erinnern, die ihm jetzt fehlten.

Als sich der Versuch, wesentlich mehr als bruchstückhafte Elemente und Eindrücke zusammen zu bekommen, als zu schwierig erwies, suchte er seine Haut nach Einstichen ab. Auf den ersten Blick fand er auch hier nichts - was aber nichts heißen musste. Ein genaues Hinsehen ließ seine momentane Unbeweglichkeit aufgrund der Verletzungen nicht zu. Auch füllte sich der winzige Raum bereits mit dichtem Wasserdampf, was seine Bemühungen schließlich ganz zunichte machte.
Während er das warme Wasser über seine verspannten Schultern rauschen ließ, zerbrach er sich den Kopf über die Zusammenhänge, die fehlten. Was war passiert? An einzelne Bilder und vor allem an Emotionen erinnerte er sich durchaus. Aber er bekam die Geschichte, die alles sinnvoll miteinander verbinden musste, nicht mehr zusammen. Ihm war bereits nach dem Essen, das sein Gastgeber ihm serviert hatte, nicht mehr ganz wohl gewesen. Der Wein hatte diesen Zustand schnell verstärkt. Wahrscheinlich hatte Valerio ihm irgendwelche Mittel über das Essen oder die Getränke gegeben. Und wohl auch in den Tagen, die folgten ... Bis zum Mittag würde davon vielleicht nichts mehr in seinem Blut zu finden sein! Aber wie konnte er das Thema mit dem Arzt besprechen, was sollte er ihm sagen? Diesen Gedanken konnte er gleich wieder verwerfen, wenn er sich vor ihm nicht als naiver Idiot outen wollte. Und auch sonst ... irgendetwas sagte ihm, er sollte ihn besser nicht in diese mysteriöse Geschichte einweihen.

Pellegrini - er wartete auf dem Balkon! Magnus drehte das Wasser ab und schob den Duschvorhang zurück. Mühsam auf einem Bein stehend trocknete er sich ab und öffnete das kleine Fenster, um den Dampf nach draußen zu lassen. Er wischte den beschlagenen Spiegel ab und besah sein Gesicht, strich über den Bart, der sich auf der unteren Gesichtshälfte und den Hals hinunter ausgebreitet hatte. Nachdenklich sah er dem dünnen Wasserstrahl zu, während dieser das winzige Waschbecken füllte. Als er sich den Bart einschäumte, wuchsen in seinem Kopf Pläne. Eine Gondel wollte er mieten und den Kanal abfahren, über den er heute früh zurück gekommen war. Er wollte sich eine Karte besorgen und sich die Lagune und die Stadt ansehen, versuchen, die Stelle zu finden, an der sie ausgestiegen waren. Er wollte beide Gespräche rekonstruieren, das in der Gasse, bevor er Valerio gefolgt war – und die Unterhaltung, die sie in seinem Haus am Tisch geführt hatten und die sich dann später am Kamin fortgesetzt hatte. Insbesondere die Dinge, die am Kamin geschehen waren, brachte er nur noch bruchstückhaft zusammen. War da nicht etwas gewesen, das er wissen müsste?
Womöglich kam die Erinnerung vollständig wieder, wenn er die Details, die noch in seinem Kopf herum schwirrten, wiederholte. Er konnte sie aufschreiben! Vielleicht gelang es, alles so weit zu rekonstruieren, dass ihm wieder einfiel, was nach der Szene am Kamin geschehen war. Ihm fehlten gute vier Tage, das war eine Menge Zeit. In dieser Zeit musste er sich verletzt haben. Oder verletzt worden sein. Und Valerio musste ihn in diesen Tagen mit Trinken und Essen versorgt haben, daran würde er sich doch erinnern! Es musste Unterhaltungen gegeben haben. Vielleicht hatte Valerio irgendetwas in seiner Gegenwart getan oder mit ihm angestellt. Oder ihm gegenüber etwas gesagt oder erklärt. Magnus konnte ihm Fragen gestellt haben. Aber hatte er Antworten erhalten? Und waren sie noch in einer Ecke seines Kopfes gespeichert?

Alles sah danach aus, als wäre er über einen langen Zeitraum ruhig gehalten worden ... ruhig gestellt. Denn sonst wäre er doch viel früher geflüchtet! Vielleicht hatte Valerio ihm irgendwelche Drogen oder Medikamente verabreicht, Betäubungsmittel, Schlafmittel, es konnte alles Mögliche gewesen sein. Um hier Sicherheit zu haben, würde er sich einem Bluttest unterziehen und seine Geschichte auspacken müssen. Und dieser Bluttest müsste heute morgen noch sein, was er aber getrost vergessen konnte. Auf dem Balkon wartete Pellegrini und würde ihn gleich zum Röntgen mitnehmen. Und das konnte bis über den Mittag dauern, da er dort ja keinen Termin hatte. Der Arzt machte gleich einige Hausbesuche, er hatte keine Zeit ... aber das waren Ausreden. Er konnte sein Blut nicht untersuchen lassen, es war keine gute Idee. Er wollte ihm nicht sagen, was tatsächlich geschehen war. Nicht jetzt - und wenn die Umstände ihn nicht zwangen, niemals.

Aber auch, wenn er keine Hilfe annahm: Über die Geschehnisse in diesen Tagen und Nächten musste es Anhaltspunkte geben! Irgendwelche Hinweise, die erklären konnten, was Valerios Absicht war und warum er ihn mitgenommen und bei sich behalten hatte. Denn er konnte sich nicht vorstellen, dass er freiwillig so lange vom Hotel weggeblieben sein sollte. Es passte nicht zu ihm. Harald hatte ihn in Frankfurt erwartet, es war nicht seine Art, einfach zu verschwinden und sich nicht zu melden. Ohne sein Gesicht tatsächlich wahrzunehmen, starrte er sein rasiertes Spiegelbild an. Er hatte sich bereits seit einer Minute nicht mehr gerührt, so sehr war er in Grübeleien versunken.

„... Ist alles in Ordnung?" Die kräftige Stimme des Arztes kam vom Balkon herüber. Der Korbstuhl knirschte und die Beine des Sessels verursachten ein schleifendes Geräusch auf dem steinernen Boden.

In Unterwäsche trat Magnus hinter dem Vorhang hervor, das Handtuch unter den bereits beinahe trockenen Haaren um den Nacken gelegt. „Ja, alles in Ordnung, danke", rief er zur Balkontür hinüber, wischte sich einen Klecks Rasierschaum vom Unterarm und warf das Handtuch über das hohe Bettende. Dann schlüpfte er vorsichtig in seine Jeans und ein schwarzes T-Shirt, wobei er die linke Schulter schonte, so gut es eben möglich war. Besorgt tastete er sein Handgelenk ab, bewegte es probeweise und verzog das Gesicht. Der Schmerz war noch da, allerdings war er durch das Schmerzmittel nun spürbar gemildert.

Er kämmte sich mit den Fingern durch die Haare, dann schlüpfte er in die Sportschuhe, die neben dem runden Tisch standen und machte Pellegrini Platz, damit dieser über die hohe Schwelle ins Zimmer treten konnte.

„Der Balkon ist nett. Sie haben Morgensonne! Schön zum Frühstücken, wenn Sie sich das Essen hier nach oben bringen lassen." Das Lächeln, das der Arzt in den Raum hinein strahlte, brachte sympathische Falten auf seinem Gesicht hervor. „Aber passen Sie auf", fuhr er in ernsterem Ton fort, „wenn Sie über die Schwelle treten. Sie ist hoch. Ich denke, für jetzt haben Sie genug Bekanntschaft mit hartem Stein gemacht."

Magnus lachte schwach. Er fühlte sich plötzlich ein wenig blass um die Nase, was wohl von der ausgiebigen Dusche kam. „Vielen Dank, das habe ich schon gesehen. Ich werde daran denken."

„Sind Sie soweit?" Pellegrini musterte ihn kritisch. Bevor Magnus antworten konnte, fügte er an: „Ach ... da ich Sie nun beim Duschen begleitet habe und in Ihren privaten Gemächern in der Sonne sitzen durfte, können wir einander auch das Du anbieten, meinen Sie nicht? Mein Name ist zu lang und das Leben zu kurz, um sich mit umständlichen Anreden aufzuhalten."

Magnus sah lachend zu dem hochgewachsenen Mann auf und reichte ihm die Hand.„Magnus. Magnus, der Große."

„Nicoló. Sieg des Volkes." Pellegrini lächelte herzlich zu Magnus herunter, nahm dessen Hand und drückte sie. „Na dann lass uns mal eben frühstücken gehen, Und dann fahren wir los, damit du nicht zu lange bei der Radiologie sitzen musst."

Magnus griff seine Brieftasche und den Schlüssel von der Kommode. Das nasse Handtuch warf er auf den Balkonsessel, dann folgte er Nicoló zur Tür.

Draußen zögerte der Arzt und zeigte in das Zimmer zurück. „Die Balkontür ... bleibt die offen?"

Magnus zog die Tür zu und schloss ab. „Zweiter Stock, steile Hauswände, die direkt aus dem Wasser ragen, dazu meine alten Sachen und ein benutztes Handtuch ... Ja, ich denke, die Balkontür kann ich offen lassen. Das gibt einen gut durchgelüfteten Raum, in dem ich wunderbar schlafen werde, wenn ich nachher zurück bin."

"Also dann ..." Nicoló hieß ihn mit einer Geste Richtung Fahrstuhl voran zu gehen.

Ende Teil 14


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