(3/3) Auf der Spur

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"Morgen, Nicolò ... Komm rein."

Magnus hatte den Arzt durch den Türspalt hindurch nur mit einem flüchtigen Blick bedacht und sich bei seinem Eintreten abgewendet. "Du bist ja früh unterwegs", sagte er über die Schulter hinweg. "Ich hatte dich nicht vor Neun erwartet."

"Bin ich zu früh?"

"Nein, es passt schon ... ich bin seit sieben Uhr wach."

Hinter sich hörte er, wie Nicolò die Tür ins Schloss drückte. Um ihm sein Gesicht nicht gleich zeigen zu müssen, bewegte er sich zu dem runden Tisch hinüber; geschäftig ordnete er die zwei Kleidungsstücke auf der Sessellehne neu und brachte sie in einer der geräumigen Schubladen der Kommode unter. Er blinzelte einige Male, bis die Tränen verschwunden waren.
"So ...", seufzte er schließlich zaghaft und fragte sich im selben Moment, ob das feine Flattern seiner Stimme wohl auffiel. Er musste sich zusammenreißen. "Du kannst dich hierhin setzen, der Sessel ist jetzt frei." Die Geste, mit der er zu dem Platz am Fenster hinüber wies, fiel eine Nuance zu steif aus. Als er seinem frühen Besucher in die Augen sah, bemühte er sich um ein Lächeln.

"Oh, danke." Nicolò setzte seine Tasche vor dem Tisch ab und schob sie mit dem Fuß halb darunter. Er warf einen Blick auf seine Uhr. "Ich dachte, ich versuche es einfach einmal so früh bei dir. Es hat geklappt!" Sein herzliches Lachen erhellte den Raum. "Wenn du noch nicht auf gewesen wärst, hätte ich mir von Rosa ein kleines Frühstück geben lassen", erklärte er gutgelaunt, während er sich im Sessel niederließ. Er schien in gesprächiger Stimmung zu sein. "Ja, es hat Vorteile, die Hausbesuche früh zu beginnen, insbesondere, wenn das Wetter so unberechenbar ist." Er beugte sich vor und duckte sich, um einen Blick auf das Stück Himmel zu werfen, das sich über dem Dach des gegenüber liegenden Palazzos zeigte. "Hast du mal nach draußen gesehen? Ich befürchte, der heftige Regenguss gestern Abend war noch nicht alles ... da kommt noch mehr." Mit einem entspannten Seufzen lehnte er sich wieder zurück. "Ich bin schon einige Jahre hier und habe noch nicht erlebt, dass uns die Lagune vollständig abgesoffen ist. Aber dieser stundenlange, heftige Regen gestern ... so etwas gibt es selten, selbst hier im Norden! Da helfen auch die besten Vorkehrungen nicht."

Magnus wurde hellhörig. "Welche Vorkehrungen gibt es hier denn gegen hohe Wasserstände?"

Nicolò griff nach dem Kugelschreiber, der auf dem Tisch lag, und begann ihn zwischen seinen Fingern zu drehen. "Wir haben Schleusen", begann er. "Dort, wo die Lagune zum Meer hin offen ist, damit große Schiffe hineinfahren und die Häfen erreichen können. Und es gibt spezielle Barrieren, die unten auf dem Grund liegen. Du musst dir diese Dinger vorstellen wie etwas, das unter Wasser schläft... so wie riesige Meeresmonster!" Er breitet beide Arme aus, um in der Luft die Größe anzudeuten. "Es sind gewaltige Elemente. Sie sind im Meeresboden verankert. Wenn eine Flut droht, werden Unmengen von Luft darunter gepumpt, damit sie sich aufrichten und zu einer Barriere werden. Es braucht vier bis fünf Stunden, bis sie aus der Tiefe hochkommen und voll im Einsatz sind – und ebenso viel Zeit, bis sie wieder abgesenkt sind. Man muss also das Meer und das Wetter beobachten, um sie zum Beispiel bei Sturmfluten rechtzeitig aktivieren zu können; sonst geht das Meiste darüber hinweg, bevor sie voll zum Einsatz kommen."

"Ah", antwortete Magnus knapp. Er zog die Tagesdecke über dem Bett glatt und setzte sich auf die Kante. Seine Frage sollte so beiläufig wie möglich wirken. "Gegen Sturmfluten sind diese Meeresmonster sicher eine geniale Erfindung. Aber was ist mit dem Auf und Ab der Gezeiten? Haben die Dinger auch Einfluss auf das ganz normale Hochwasser?

Der Arzt tippte den Kugelschreiber mit dem Druckknopf auf dem Tisch auf. Das Klicken machte Magnus nervös.
"Die großen Barrieren, die unter dem Wasser lagern, sind für die Stürme da, das ist richtig. Je nachdem, von wo der Wind kommt, werden sie aber auch schon bei stärkeren Strömungen eingesetzt – es muss gar kein Sturm sein. Bei Flut genügt ein stetiger Wind von Süden, um so viel Wasser in die Lagune zu pressen, dass es für die Stadt problematisch wird." Sein Blick ging von dem Kugelschreiber zu Magnus hinüber. "Gegen die starken Schwankungen der Wasserhöhe während der Gezeitenwechsel hilft der beinahe geschlossene Damm, der entlang der gesamten Lagune verläuft. Er schließt Venedig zum Meer hin zumindest so weit ab, dass die größte Kraft der Flut sich nicht zu sehr auf die Situation in den Kanälen auswirkt."

Magnus runzelte die Stirn. "Man liest über Venedig, dass die Bauten das Hochwasser gar nicht gut vertragen. Macht sich denn die Flut tatsächlich bis heute so heftig bemerkbar? Wie muss man sich das vorstellen ... so, dass es regelrecht an den Mauern hinauf sprudelt? Viele Mauern sind ja bereits marode. Ich habe mich letztens gefragt, ob es wohl inzwischen Stadtteile gibt, in denen die Häuser im Schlamm versinken, also ... die Stadt verfault ja langsam!

"Verfault - das ist ein gutes Stichwort", lachte Nicolò. "Wie du sicher weißt, besteht die Stadtanlage aus mehr als Hundert künstlichen Inseln, die auf Millionen dicker Eichenpfähle errichtet wurden. Darüber liegen Bohlen - und auf diesen hat man vor tausend Jahren die ersten Häuser gebaut. Dazwischen verlaufen die Kanäle. Unten stecken die Pfähle im Schlamm, der das Holz luftdicht abschließt. Ohne den Schlamm wäre es längst verrottet, alles wäre bereits vor Jahrhunderten zusammen gebrochen. Du kannst dir vorstellen, dass es sich nicht gerade positiv auswirkte, als man viele der Kanäle tiefer aushob und Unmengen von dem Schlamm ausbaggerte, nur damit mehr Bootsverkehr möglich wurde. Die Touristen und ihre Bedürfnisse ... und die Leute, die daran verdienen wollen. Das Ergebnis ist, dass das Wasser seitdem in rasantem Tempo die alten Stämme zersetzt. Es ist kein Geld da, den Zersetzungsprozess zu stoppen, bevor immer mehr Häuser unbewohnbar werden."

Während Magnus ihm zuhörte, starrte er wie paralysiert auf den Kugelschreiber. Unter der ausgestreckten Handfläche rollte der Arzt ihn auf dem Tisch hin und her. Die Flut an den Hauswänden ... unbewohnbar ... Nicolòs Beschreibungen sickerten ihm direkt ins Gehirn und wurden dort rasant verarbeitet; zugleich bewegte sich sein Geist in den Schatten jener seltsamen Nacht, in der er Valerio durch die Gassen der Stadt gefolgt war. Fieberhaft glich er mit den Bildern seiner Erinnerung ab, was ihm über die Wasserverhältnisse in Venedig erklärt wurde. Glücklicherweise musste er dem Arzt nun die Informationen nicht mehr mühsam abringen; er schien sein Thema gefunden zu haben und fuhr mit Engagement fort.

"Aber das addiert sich nur zu dem Problem, das wir ganzjährig mit der Flut haben. Natürlich lassen sich die Schäden nicht eindämmen, solange wir die für den Schiffsverkehr offenen Schleusen haben, im Gegenteil: Sie nehmen stetig zu. Also, wenn du mich fragst: Es würde der Stadt gut tun, wenn sich wenigstens die Flut der Touristen beschränken ließe. Es sind die großen Schiffe, für die wir Venedig zum Meer hin offen halten müssen. Wenn diese gigantischen Touristenkähne nicht wären, man hätte sich schon längst darum kümmern können, was die Stadt braucht, um sie zu schützen und zu erhalten. Die Anwohner hier haben längst die Nase voll von der täglichen Überschwemmung durch den Tourismus - im doppelten Sinn! Sie überschwemmen in Massen die Straßen, Plätze und Wasserwege, aber sie sind auch zum Teil für die Wassermassen verantwortlich, die an der Stadt nagen." Er richtete sich im Sessel auf. Die Frustration über den Zustand Venedigs war ihm anzuhören. "Es ist zu voll und zu laut hier und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer", stellte er fest. "Sicher, sie bringen ihr Geld mit. Aber welchen Sinn macht das, wenn die Stadt verrottet und absäuft? Die Druckwellen, die von den großen Schiffen ausgehen, wenn sie sich den Häfen nähern oder dort anlegen, ruinieren uns den Untergrund der historischen Bauten. Die Fundamente vertragen das nicht."

Magnus nickte abwesend. "Ja ... die Entwicklung, die das Ganze genommen hat, ist sehr traurig. Ich habe gelesen, dass die Verbreiterung und Vertiefung der Kanäle für mehr Gondelverkehr die Strömungsverhältnisse entlang der Häuser ebenfalls verstärkt hat."

Nicolò nickte. "Ja, leider. Ich frage mich manchmal, ob man so etwas nicht voraus sehen konnte."

"Ist das überall in der Stadt der Fall - oder gibt es Ecken, in denen sich die Flut nicht so sehr bemerkbar macht?" Vorsichtshalber ging Magnus die Sache umgekehrt an. Er fragte ihn nach den Gebieten, die ihn nicht interessierten. Wenn er die Stadtteile mit besonders starker Strömung aus Nicolòs Beschreibungen herausfiltern konnte, war es vielleicht möglich, dadurch die Suche nach Valerios Wohngebiet ein wenig einzukreisen. Aber wie ihm die nächsten Worte des Arztes klar machten, ging seine Rechnung nicht auf. Es war komplizierter.

"Ein Auf und Ab durch die schwankenden Wasserverhältnisse gibt es überall in der Stadt." Er schien einen Augenblick nachzudenken. "Früher - also, bevor man alles Mögliche versuchte, die Sache in den Griff zu bekommen - da war es richtig schlimm. Bei Flut schoss das Wasser in manchen Ecken der Stadt so schnell in die Kanäle ein, dass es die Boote von den Hauswänden wegriss und man sie sonstwo wieder einsammeln konnte. Das Wasser sprudelte nur so an den Hauswänden hinauf, insbesondere, wenn die Kanäle ungünstig zur Strömung und Windrichtung lagen. Aber das ist lange her."

"Interessant", merkte Magnus an. „In welchen Stadtteilen oder Gebieten zeigt sich so etwas denn heute noch?"

"Wenn wir nicht gerade einen Orkan haben, nirgends. Das ist passé, das haben wir hier heute nicht mehr. Die verschiedenen Maßnahmen haben die Gezeitenwirkung innerhalb der Stadt einigermaßen reguliert. Die großen Fluten allerdings, die wir hier oft im Frühling und Herbst haben, lassen die Stadt trotzdem regelmäßig absaufen. Die alten Palazzos versinken mit den Jahrhunderten immer mehr im Schlamm. Besonders dort, wo heute niemand mehr wohnt und sich um die Häuser kümmert oder die Kanäle pflegt, sieht es nicht gut für die alten Bauten aus. Sie sind zum Sterben verurteilt, das ist die traurige Wahrheit." Er lehnte sich im Sessel zurück. "Wusstest du, dass es in Venedig Geisterinseln gibt? Sie sind durchzogen mit versumpften Kanälen, dort steht das Wasser. Die Häuser sind unbewohnbar und nicht mehr zu restaurieren. Man musste sie aufgeben."

"Geister ... inseln", murmelte Magnus. Er gruselte sich vor den Bildern, die das Wort in seiner Fantasie herauf beschwor. Konnte es sein, dass Valerios Haus auf einer solchen Geisterinsel lag?

Nicolò zog die Stirn in Falten. "Interessiert dich das?"

"Mich?" Magnus war sich im selben Moment der Dummheit seiner Gegenfrage bewusst. Er hatte sehr genau zugehört. "Nein, nicht wirklich", flunkerte er, "mir fiel nur gerade ein, was ich kürzlich beim Zahnarzt gelesen hatte. Weil du das Wetter und den Regen erwähntest. Ein Journalist schrieb irgendetwas über die schwankenden Wasserstände, die Venedig wohl bald zerstören würden. Ich interessiere mich für alte Kulturgüter. Es ist ja nicht mehr zu übersehen, wohin es mit der Stadt geht. Daher blieb mir das wohl im Gedächtnis."

Nicolò nickte. "Auch, wenn die Problematik komplex ist: Vielleicht beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass heutzutage die extrem hohen oder niedrigen Wasserstände nur noch sporadisch auftreten. Das hat nicht einmal mehr mit den Gezeiten zu tun wie vor Hunderten von Jahren noch, sondern höchstens mit ungünstigem Wind - und starkem Regen, der von oben fällt und die Lagune auffüllt." Er lachte wieder, die Fältchen um seine Augen bildeten Kränze. "Aber was soll man machen - nun wird auch noch das Wetter unberechenbar! Und oben können sie ja schließlich keine Schleusen anbringen, wie du dir denken kannst! Aber was von der Meerseite her kommt, ob Ebbe, Flut oder Stürme, das wird heute durchaus besser kontrolliert." Er runzelte die Stirn. "Wenn auch auf Kosten der Umwelt. So wie es immer schon war, wenn wir wegen unserer menschlichen Ideen und Interessen in eine intakte Natur eingreifen und hinterher mit dem Schaden umgehen müssen, den wir angerichtet haben. Man darf bei alldem nicht vergessen: Es ist die Stadt, die der Fremdkörper, das Künstliche ist. Nicht das Meer, die Lagune, die Gezeiten oder das Wetter. Die Natur war zuerst da - und Städte sind künstliches Werk."

"Ganz genau." Magnus nickte. „Das sehe ich auch so. Und trotzdem ist manches, was Menschen erschaffen, absolut erstaunlich."

Ende Teil 20 

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