(3/6) Der Plan

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Fünfzehn Minuten später saß Magnus auf dem Bett und starrte auf die Karte. Wahrscheinlich gab es aktuellere als diese; aber unter allen, die ihm bei seiner Suche vor die Nase gekommen waren, zeigte sie die meisten Details, und das erschien ihm wichtiger als irgendeine Aktualität. Die Brücke, die er finden wollte, befand sich in einem alten und kaum restaurierten Stadtteil. Die Häuser rings um das kleine Wasserbecken waren wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht saniert worden und auch Abrisse und Neubauten schien es dort seit langem nicht gegeben zu haben. Jedes moderne Gebäude wäre ihm aufgefallen und ganz sicher in Erinnerung geblieben. Er brauchte also keine aktuellere Karte. Dennoch gab es im Gewimmel der Stadt wohl mehr als zwanzig Orte und dazu weit mehr als hundert Gassen und Kanäle, die ungefähr so beschaffen sein konnten wie das, wonach er suchte.

Die Maus hätte die Bedienung des alten Gerätes vereinfacht - wenn da nicht die wackelige Buchse gewesen wäre, die sich gleich beim ersten Einstöpselungsversuch beinahe ganz verabschiedet hatte. Immer wieder musste er sie mit dem Finger vorsichtig ins Gehäuse zurück schieben und darauf achten, dass das Kabel nicht unter Zug geriet. Auf dem Bett erwies sich das als schwierig; aber er war zu müde, um samt Laptop, Maus, Kabelage und loser Buchse zum Tisch umzuziehen.
Der Bildschirm erschien ihm sehr hell. Das Licht blendete die Augen. Vielleicht war seine Lichtempfindlichkeit aber auch nur eine Folge der Gehirnerschütterung. Wie auch immer - er hatte keine Lust, das überalterte Gerät für seine Bedürfnisse besser einzustellen. Schon morgen konnte er solche Dinge wieder ganz anders empfinden. Also ließ er es für jetzt dabei und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, um den Verlauf einer Gasse auf einer Luftlaufnahme zu verfolgen. Wie alt war dieses Foto - und zeigte es im Wesentlichen dieselben Dinge, die auf der Karte zu finden waren? Die naturgetreue Wiedergabe der Lagunenstadt aus der Vogelperspektive regte sein Erinnerungsvermögen mehr an als die verwirrenden Linien, Markierungen und Beschriftungen in der schematischen Darstellung Venedigs; er musste beides umständlich miteinander abgleichen, denn bei dem Luftbild fehlten die Platz- und Straßennamen sowie die Bezeichungen für die markanten Gebäude, an denen er sich orientieren wollte. Diese alten Palazzos, in deren Fenstern sich die untergehende Sonne gespiegelt hatte ... mit ein wenig Glück waren sie bekannt, besaßen Namen oder standen noch in Verbindung mit den Familien, die sie vor Jahrhunderten bauen lassen hatten. In diesem Fall konnte er die Namen der historischen Häuser in die Suchmaschine eingeben und mit ein wenig Glück konkrete Bilder von ihrer unmittelbaren Umgebung erhalten.

Er trank ein paar Schlucke Wasser gegen die Müdigkeit, zog den Laptop vorsichtig näher zu sich heran und konzentrierte sich auf den Bezirk Dorsoduro. Das war sein Ausgangspunkt - der Stadtteil, in dem das Hotel Fortuna lag. Hier hatte er seinen Abendspaziergang gestartet. Er war durcheinander gewesen; ohne Plan oder Ziel war er losgelaufen, hatte weder auf sein Umfeld noch auf irgendwelche Richtungswechsel geachtet. Darum sah es kurz nach dem Start am Hotel bereits nicht allzu gut aus mit der Rekonstruktion des weiteren Weges.
Immerhin wusste er noch, dass er sich vor dem Eingang des Hotels nach links gewendet und den Weg entlang des Kanals genommen hatte. Mit dem Kugelschreiber fuhr er vor dem Bildschirm die Strecke nach - zumindest so weit, wie er sich noch einigermaßen sicher war. Die Gassen und Kanäle hatten immer schmaler gewirkt, die Häuser dichter und verwinkelter gestanden. Vermutlich war er auf den alten und eng bebauten Bezirk Santa Croce zugelaufen. Irgendwann – er wusste nicht, wo und in welche Richtung genau – musste er mehrfach abgebogen sein. Und dann war da dieses Becken gewesen; sehr klein, lang gestreckt und von grauen Hauswänden umstellt ... und an einer der schmalen Seiten führte diese kleine Brücke über den Kanal. Die Brücke, auf der er Valerio begegnet war.

Noch immer schwebte der Kugelschreiber vor der Stelle, an der er den Weg und sich selbst verloren hatte. Wie ging es von dort weiter? Oder sollte er das Ganze besser rückwärts aufrollen und zunächst sehen, welche konkreten Punkte er von seiner Flucht zurück zum Hotel ableiten konnte? Auch hier gab es so viele Lücken! Das Wenige, das er von seinem chaotischen Rückweg erinnerte, wirkte wie eine Halluzination. Mal war er wach und klar gewesen - da gab es Eindrücke wahrgenommener Schmerzen und bewusster Entscheidungen, die er getroffen hatte - aber dann wieder erschien ihm alles wie durch Nebel und diffuse Dämmerung hindurch betrachtet; es war unmöglich einzuschätzen, wie lange er in diesem Zustand umher geirrt war. Sein Zeitgefühl musste ihm in diesen Phasen vollkommen abhanden gekommen sein, ebenso wie jedes klare Denken und Handeln. In seinem erschöpften und orientierungslosen Zustand hatte er schließlich die gläserne Eingangstür des Hotels wiedererkannt. Um genau zu sein, war es Angelo an der Rezeption gewesen, der seiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen hatte ... Unverhofft gab sein Gedächtnis einen Eindruck frei: Als hätte er in dem Moment eine unsichtbare Schwelle überschritten, die ihn aus einer surrealen Traumwelt in die klare Realität zurück entließ, schien beim Betreten der Hotelhalle jede brauchbare Erinnerung an den Weg und dessen Stationen aus seinem Kopf gelöscht.

Ob die Bilder und Fakten seiner Flucht noch irgendwo in einem Winkel seines Bewusstseins verborgen lagen? Jetzt jedenfalls kam er nicht weiter, wenn er über die Odyssee seines Rückwegs nachgrübelte; nur eine Fülle an Emotionen und subtilen Eindrücken, losgelöst von jedem sachlichen Bezug, war ihm geblieben. Wie viele Umwege er in seiner Orientierungslosigkeit genommen hatte, wie oft er womöglich im Kreis gelaufen war: Er konnte es nicht sagen, egal, wie sehr er seinen lädierten Kopf anstrengte. Wenn es Anhaltspunkte gab, auf die er sich stützen konnte, dann für den Hinweg. Dieser war direkt und ohne Umschweife gewesen. Valerio hatte ihn geführt. Aber zugleich hatte der Weg bis zu seinem Haus - wenn auch auf ganz andere Weise - ebenfalls wesentliche Lücken in Magnus' Erleben und Gedächtnis hinterlassen.

Energisch zog er den Laptop auf seine gekreuzten Beine hinauf und kippte ihn nach hinten, um einen besseren Blick auf den Bildschirm zu haben. Er prüfte den Kontakt das Steckers in der Buchse und zog das Kabel weiter zu sich herüber. "Von Dorsoduro nach Santa Croce hinein", murmelte er, "ich könnte also ungefähr hier ... gewesen sein." Die Karte war zu klein, um die Gebäude an dem kleinen Wasserbecken zu unterscheiden, für das er sich zu interessieren begann. Konnte es das bereits sein? Er suchte in seiner Erinnerung. Da waren diese kleinen Palazzos gewesen. Sandfarbig, rosa und ocker, von der Abendsonne angestrahlt ... drei Renaissance Paläste, der rechte war ein wenig breiter als die anderen beiden. Aber die Sonne! Die Sonne ging im Westen unter! Sie hatte in seinem Rücken gestanden, also hatte er nach Osten geschaut.

Na, das war doch ein Anfang! Denn wenn er wusste, in welche Himmelsrichtung sein Blick auf der Brücke ausgerichtet gewesen war und in welche Richtung die Häuserfronten gestanden hatten, ließ sich vielleicht auch sagen, von wo aus er dorthin gekommen sein musste - oder von welcher Seite ganz bestimmt nicht, was ebenso hilfreich war. Und die lange Gasse, in die er Valerio gefolgt war, musste demnach ungefähr nach Westen geführt haben. Er schloss die Augen, versuchte sich an den Ort seiner Begegnung mit dem eigenartigen jungen Mann zurück zu versetzen. Vor sich hatte er den größeren, langgestreckten Teil des Beckens gehabt, in das weiter vorne noch drei weitere Kanäle mündeten. Einer von links, zwei von der rechten Seite. Mindestens zwei, korrigierte er sich, denn manche Häuser am Rand des Wassers hatten ihm die Sicht auf weitere mögliche Kanalmündungen verbaut. Es war also gut möglich, dass es da noch mehr gegeben hatte. Er öffnete die Augen, um sich das Becken auf der Karte genauer anzusehen - und musste sich eingestehen, dass er damit nicht weiter kam. Es war beinahe quadratisch. Es war einfach nicht lang genug für sein Gefühl. Zumindest auf der Karte entsprach es nicht vollständig dem, was seine Erinnerung ihm vermittelte.

Einige Straßen weiter gab es ein weiteres, das längere Proportionen hatte, auch wenn es etwas zu groß erschien - aber verdammt nochmal! Die Karte wollte keine Details über die Häuser hergeben, die sich rings um das Becken aufreihten! Die Grundflächen der neueren Wohnhäuser waren zumindest auf dieser Karte kaum von denen der kleineren Palazzos zu unterscheiden; zumindest ließen sich auf Anhieb keine historischen Gebäude finden, die extra gekennzeichnet oder sonst irgendwie hervorgehoben gewesen wären. Sicher befanden sich die gesuchten Palazzos in privatem Familienbesitz und waren aufgrund ihrer Lage und Bedeutung aber nicht relevant genug, um für Touristen extra vermerkt zu sein. Auf Hinweise zu diesen Gebäuden am Kartenrand oder irgendwo im Netz konnte er wohl nicht hoffen.

Grübelnd fuhr er sich über das rasierte Kinn, zupfte an seiner Unterlippe. Es machte keinen Sinn, noch länger auf die rosafarbigen Rechtecke zu starren; sie verrieten ihm nicht, ob sie Palazzos oder einfache Wohnhäuser darstellten. Er raufte sich die Haare, griff nach dem Wasserglas, das auf der Kommode stand, und trank einen Schluck. Das konnte kompliziert werden! Auch die kleineren Brücken waren auf der Karte womöglich gar nicht eingezeichnet – oder nicht alle. Er konnte also nur anhand einer gewissen Logik und seines Wissens über die für Venedig typischen Überführungen an den Kanälen schätzen, wo sich in etwa eine Brücke befinden könnte ... aber ausgerechnet die Brücke, auf der er gestanden hatte, musste auf der Karte fehlen, vorausgesetzt, er hatte hier bereits das richtige Becken gefunden. Die Brücken, die an der Stelle in Frage kamen, stimmten jedenfalls nicht mit dem Stand der Abendsonne und den daraus abgeleiteten Himmelsrichtungen überein; es konnten nicht die richtigen sein.

Ungeduldig und frustriert seufzte er auf. Er durfte sich nicht dazu verleiten lassen, fixe Ideen und Orte einfach so als relevant anzunehmen, ohne dass alle Details zumindest den wenigen Kriterien und Merkmalen entsprachen, die bekannt waren. Wenn die Brücke nicht an der Ostseite eines langgezogenen, dicht umsiedelten Wasserbeckens lag und wenn gegenüber nicht drei kleine, zweistöckige Palazzos lagen, zwei davon mit Arkadengängen und hohen, gotischen Fenstern darüber und ein breiterer auf der rechten Seite, dann war der Ort falsch. Auch, wenn die Brücke nach links hinüber nicht direkt in eine breitere, leicht ansteigende Gasse hinein führte und wenn der Weg am rechten Ende der Brücke nicht über einige Treppenstufen hinab ging und dann schräg in eine sehr schmale, sehr gerade und lange Gasse mündete, dann war es nicht der Ort, den er suchte.

Wenn er sich wenigstens bezüglich des Beginns seines Weges, dieser langen Gasse, in der Valerio ihn überrascht hatte, sicher sein könnte! Er würde dann den Rest womöglich vor Ort wiedererkennen. Aufs Geratewohl los zu laufen machte aber wenig Sinn. Insbesondere deshalb nicht, weil er trotz der erstaunlichen Heilungsprozesse zumindest seiner Gehirnerschütterung noch nicht so weit traute, als dass er sich damit zu Fuß ausgerechnet in das enge Gassengewirr von Santa Croce begeben hätte. Aber wenn es gar nicht Santa Croce war, sondern ein Randgebiet von Dorsoduro, dem Bezirk, in dem sich das Fortuna Hotel befand – also hier, ganz in der Nähe?
Aufs Neue nahm er die engen Gassen ins Visier, verfolgte den Verlauf der Kanäle. Mit Erfolg - denn auch im Bezirk Dorsoduro, nahe der Grenze zu Santa Croce, entdeckte er plötzlich etwas, das dem kleinen Wasserbecken ähnelte. Sollte er sich womöglich beide Becken einmal selbst ansehen? Sollte er dort hinlaufen?

Seine Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger knetend versuchte er sich an mehr zu erinnern. Was er wusste, war, dass hinter der schnurgeraden Gasse, durch die sie gelaufen waren, ein schmaler Kanal den Weg kreuzte. Er stand direkt im Winkel zur Gasse. Auch dieser Kanal musste gefunden werden. Dort, wo die Gasse endete, hatte sich am Kanal eine Brücke befunden, die hinüber führte. Es musste dort außerdem Hauswände geben, die hohe Wassermarken trugen, die unteren Mauerabschnitte grün und feucht fleckig, die Strömung des Wassers stark, jedenfalls in dieser Nacht und zu dieser Uhrzeit...

Er stutzte. Warum meinte er, diese Mauern seien direkt über dem Wasser moosig grün überzogen gewesen? Er erinnerte sich an Dunkelheit und tiefe Schatten, gerade an dieser Ecke! Ihm war noch aufgefallen, dass es in der Gasse und auch an der flachen Brücke, an der sie in die Gondel stiegen, nicht das geringste Licht, keine Laterne, kein erleuchtetes Fenster gegeben hatte. Und er hatte außerdem bereits auf dem Weg durch die Gasse das Gefühl gehabt, seine Sinne seien furchtbar benebelt - wie konnte er da überhaupt solche Details wahrgenommen haben? Nebel ... der Nebel hatte dick über dem Boden und dem Wasser gehangen. An den Hausfronten auf der anderen Seite des Kanals dürften Details wie Moos und feuchter Putz für seine Augen absolut nicht sichtbar gewesen sein.

Es war so eigenartig: Er hatte weder in der Gasse noch an der Brücke irgendein vernünftiges Wort heraus gebracht und jeder Widerstand war vergeblich gewesen, als er zu Valerio in die Gondel steigen sollte. Sein Anhalten in der dunklen Türnische gleich zu Beginn, nachdem er vor den aufgebrachten Leuten in die Gasse geflüchtet war, dazu Valerios plötzliches Auftauchen aus den Schatten, ihr Wortwechsel, bis sie zusammen weiter gingen – all das ließ sich wesentlich leichter erinnern als alles, was danach folgte. Wie sehr durfte er seinen Erinnerungen überhaupt trauen?
Bereits gestern Morgen beim Duschen hatte er darüber nachgedacht, warum er sich nach dem Beginn ihres Weges durch die Gasse nur an Gedanken und heftige emotionale Bilder, aber an keinen konkreten Weg, keine Dauer, Zeit oder Richtung erinnern konnte. Auch nicht die geringste Unterhaltung, kein Wortwechsel kam ihm in den Sinn, so sehr er sich die Geschehnisse der Nacht auch in Erinnerung zu rufen bemühte. Nur dunkle, fensterlose Wände waren da gewesen ... Wände. Und nasse Pflastersteine. Und immer wieder Nebel, überall um ihn herum. Und auch in seinem Kopf. Aber als sie an die kleine Brücke kamen, wo die Gondel angebunden war, da hatte er wie unter einer Lupe den schnell steigenden Wasserpegel an den Hauswänden auf der anderen Seite des Wassers wahrgenommen; auch die grün überzogenen feuchten Wände waren ihm nicht entgangen. Gefühlt hatte er sie, korrigierte er sich verwundert. Nicht gesehen. Aber konnte man Farben ... fühlen? Oder die Bewegung von aufsteigendem, wirbelndem Wasser? Moos, das man nicht berührte und das sich im Dunkeln und hinter Nebel versteckte?

Er streckte das Bein, das ihm langsam einschlief, bewegte die Zehen. Logik. Er musste logisch denken. Wenn er sich stur an die Fakten hielt, sollte diese Nuss zu knacken sein. Er atmete tief ein, versuchte Sauerstoff in seinen wirren Kopf zu bekommen. Dass diese markante, gerade verlaufende Gasse von der Brücke aus mit ein paar Laufschritten nach rechts hinüber zu erreichen war, war ein Fakt. In welcher Richtung die Gasse jedoch von dem kleinen Becken wegführte, in welcher Himmelsrichtung sie endete, konnte er nicht genau genug bestimmen. Sie war ihm irgendwie schnurgerade vorgekommen, dazu ungefähr rechtwinkelig vom Wasserbecken wegführend; aber wenn er sich die Eindrücke in Erinnerung rief, die er hier und da während des Laufens in der Gasse empfangen hatte, war er sich plötzlich nicht mehr so sicher. Wenn er sich an diesem Punkt bereits irrte, konnten ihn alle weiteren mutmaßlichen Wege in völlig falsche Gebiete der Stadt führen. Hatte es vielleicht doch Abzweigungen in der Gasse gegeben, bevor sie letztlich die geländerlose Brücke mit der Gondel erreichten? Oder waren sie einem weiten Bogen gefolgt?

Er musste sich konzentrieren, nach einer anderen Vorgehensweise suchen. Es schien einfacher und auch sicherer, zunächst die Gebiete auszuschließen, die ganz bestimmt nicht in Frage kamen. Alles andere erwies sich als zu ungenau und zu kompliziert. Es machte keinen Sinn zu spekulieren. Das würde ihn überall hin führen, aber ganz gewiss nicht ans Ziel. Nervös klickte er mit dem Kugelschreiber, tippte ihn in schnellem Rhythmus an die Seite seines Oberschenkels. Hier also stand er; an dem Punkt auf der Karte, den er zumindest probeweise für das kleine Wasserbecken hielt, in dem es gebrannt hatte. Ein Wasserbecken in ... Santa Croce. Er kam auf seine erste Wahl zurück. Es sprach nicht viel dagegen, das Becken konnte auf der Karte eine Nuance zu quadratisch geraten sein. Das kam bei billig konstruierten Karten vor. Sante Croche, weil er wusste, er war einige Zeit durch die Gassen und über kleine Plätze gelaufen – zu weit wahrscheinlich, um sich danach immer noch in Dorsoduro zu befinden. Wenn er die Richtung einigermaßen eingehalten und nicht unbemerkt einen großen Haken geschlagen hatte, konnte er gut in Santa Croce gelandet sein. Zumindest testweise wollte er diesen Ausgangspunkt als "bekannt" in seine Gleichung eingeben.

Nun der zweite Schritt: Gebiete ausschließen. Sein Blick flog über die Karte. San Marco lag, vom angenommenen Ausgangspunkt aus betrachtet, weit in seinem Rücken. Zwischen Santa Croce und San Marco verlief außerdem die engere der beiden Schlaufen des Canal Grande. San Marco konnte er also streichen, es wäre die falsche Richtung und außerdem auch zu weit. Zwischen Santa Croce und Cannaregio, dem nördlichsten Bezirk von Venedig, lag die zweite und breitere Schlaufe des großen Kanals. Cannaregio war – abgesehen von der nötigen Überquerung des großen Kanals – nicht wirklich weit von Santa Croce entfernt. Da er auf der Gondelfahrt in diesem eigenartigen Schlaf gefangen gewesen war – er weigerte sich immer noch, es eine Bewusstlosigkeit oder einen betäubten Zustand zu nennen – konnte er nichts über die tatsächlich zurück gelegte Strecke und Zeit während der Gondelfahrt wissen. Das war die größte Unbekannte in der Gleichung. Ob sie den Canal Grande in dieser Richtung überquert und bis in die Kanäle von Cannaregio im Norden gefahren waren, es war nicht ganz auszuschließen. Cannaregio konnte also der Ort sein, an dem sich Valerios Haus finden lassen musste, ebenso wie Santa Croce - oder auch das Grenzgebiet zwischen den Bezirken Santa Croce und Dorsoduro. Das waren bereits drei von sechs Bezirken, die Venedig hatte ... und es bedeutete Hunderte möglicher Ecken und Winkel, Gassen und Kanalabschnitte.

Ende Teil 23





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