(3/7) Irrwege

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Es war zum Verzweifeln! Er hatte sich die Suche nach Valerios Wohnort wesentlich leichter vorgestellt. Zu wenig hatte er gesehen in dieser Nacht, da waren zu viele Lücken in seiner Wahrnehmung, er hatte einfach viel zu wenige markante und verlässliche Anhaltspunkte, auf die er sich bei seiner Suche stützen konnte. Er griff nach seinem Glas und trank den Rest des Wassers in einem Zug aus.

Noch einmal von vorn. Und ganz langsam. Er stellte das Glas auf der Kommode ab, richtete den Oberkörper auf und rieb sich das müde Gesicht. Er hätte schon wieder schlafen können! Wahrscheinlich lag es an der unruhigen Nacht, die er hinter sich hatte und dem Umstand, dass er bereits eine Stunde vor dem Weckton des Handys wieder wach gewesen war. Er schloss die Augen, umfasste den Kugelschreiber mit beiden Händen und machte einen weiteren Versuch.

Es war eine lange, sehr gerade Gasse gewesen. So jedenfalls hatte er es empfunden. Und die Gassen in Santa Croce waren überwiegend gebogen und verwinkelt, kurz und auch stufig. Sie führten ständig auf und ab. Nicht immer. Aber sehr oft.

Die Gasse, durch die Valerio ihn geführt hatte, war dagegen eben und gerade gewesen, soweit er es hatte sehen können. Weswegen er aber nicht die gesamte Gegend von Santa Croce ausschließen durfte, denn immerhin war dies die Richtung, in die er vom Hotel aus zunächst eine ganze Strecke lang gelaufen war. Das war eines der wenigen Dinge, die er ganz sicher sagen konnte.

Aber wenn sich Valerios Haus gar nicht in Santa Croce befand, sondern in San Polo? Vielleicht hatte er ihn direkt in den ältesten Teil, ins Zentrum der Altstadt geführt, die innerhalb der größeren Schlaufe des Canal Grande lag! Gab es dieses kleine Becken mit den Palazzos im Osten, auf die die Abendsonne schien, vielleicht irgendwo am Rand von San Polo? Und die Gasse, die nahe der Brücke zwischen den Häusern begann, führte folglich an einen Kanalabschnitt heran, der direkt durch die Altstadt von San Polo verlief ...

Er riss die Augen weit auf, blinzelte einige Male, zog den Laptop näher zu sich heran und inspizierte den Bezirk auf der Karte. San Polo. Das alte Zentrum der Stadt hatte viele größere und kleinere Kirchen, prächtige historische Bauten, den berühmten Fischmarkt, Restaurants und Hotels, das wusste er, er war während seiner früheren Reisen bereits mehrmals dort gewesen. Der Stadtteil war gut restauriert, er war für den Tourismus erschlossen und präpariert.

Was er in dieser Nacht jedoch gesehen hatte, waren marode und völlig vom Wasser zersetzte Hauswände. Es hatte nach Moder und Schlamm gerochen. Die Kanäle waren alt und verkommen gewesen.

Die Häuser, an denen sie vorbei fuhren und die er durch seine Träume hindurch auf seltsame Weise wahrgenommen hatte, waren unbewohnt gewesen. Jedenfalls hatten sie gewirkt, als seien sie längst verlassen worden. Trotz der Augenbinde, die er womöglich zu dieser Zeit bereits trug, hatte er diese Gegend auf eigenartige Weise registriert, und das war ... eigenartig. Es war ein wenig so wie mit den grün bemoosten Hauswänden an der Brücke. Seltsam – so wie alles in dieser Nacht. Wie auch immer: Was er gesehen hatte, war keine Gegend für Touristen. Es hatte dort nicht nach San Polo ausgesehen. Ganz und gar nicht.

Und am Ende der Fahrt, rekonstruierte er weiter, am Ende, als die Gondel an die Wand von Valerios Haus stieß, da waren sie in einem sehr markanten und speziellen Gebiet angekommen - dieser Gegend, in der uralte Palazzos standen, halb unter Wasser und seit Ewigkeiten verlassen. Gab es denn derart verfallene und verlassene Bereiche, gab es Geisterstädte sogar dort, in San Polo - das im alten Kern von Venedig lag und täglich von mehreren Tausend Touristen besucht wurde? Nicolò hatte vorhin erst davon geredet! Sicher ließen sich solche Gebiete finden. Aber mitten im Zentrum von Venedig? Und mit wild verwachsenen Ufern und alten Bäumen?

Hätte er den Arzt doch heute Morgen nur nach mehr Details gefragt, er war so gesprächig gewesen! Es war so schade, dass er es nicht genutzt hatte. Morgen früh würde Nicolò nicht vorbei kommen, da er in der Praxis zu tun hatte und es ihm ja auch schon viel besser ging.

Frustriert griff er sich in die Haare. Wieso hatte er ihn nicht nach den Geisterstädten gefragt! Er konnte das nachholen. Ihn einfach anrufen, er hatte seine Nummer. So viel Staub wollte er mit seinem Anliegen aber nicht aufwirbeln. Nicolò war intelligent, aufmerksam und sehr direkt. Er würde wissen wollen, worum es ging.

Er klickte auf den Bildschirmrand und öffnete ein weiteres Fenster. Seine Finger flogen über die Tastatur.

 Die Suche nach San Polo Geisterstadt ergab 3041 Ergebnisse.

Wikipedia beschrieb den Stadtteil San Polo und erwähnte den vermehrten Rückgang der Bevölkerung Venedigs im Allgemeinen und dass die Bewohner der Stadt ihre Häuser ohne Wartung und unvermietet zurück ließen. Und unter „Geisterstadt" fand sich auf einer anderen Seite zwar eine Begriffserklärung, aber nirgends gab es einen konkreten Bezug zwischen „Geisterstadt" und "San Polo, Venedig". Er klickte sich durch die Seiten, fand aber nichts.

Als er es mit anderen Suchbegriffen probierte, spuckte ihm das Internet eine Reihe privater Blogs und Artikel aus. Beim Drüberlesen erkannte er, dass auch dort nicht etwa konkrete Stadtteile und Ortsnamen benannt waren, sondern dass Reisende, zumeist junge Leute, hier lediglich ihre persönlichen Empfindungen und Eindrücke beschrieben.

„Man könnte meinen, man laufe durch eine Geisterstadt", schrieb eine Studentin, die sich mit Freunden auf eine nächtliche Erkundungstour in San Polo gemacht und darüber in ihrem Blog berichtet hatte. Sie hatte keine tatsächliche Geisterstadt entdeckt, sondern beschrieb lediglich den Effekt, den die nächtliche Stille und Unbelebtheit Venedigs in so gut wie jedem Bezirk der Stadt auf Touristen hatte.

Venedig hatte kein Nachtleben. Nicht in dem Sinn, wie man es aus anderen weltberühmten Urlaubsorten kannte. Die venezianischen Nächte gehörten den Ratten, den Katzen, dem Nebel und den an der Hauswand kratzenden Booten, die mit dem Wasser stiegen und fielen.

Dass Venedig nicht gerade als nachtaktiv zu bezeichnen war, machte aus einer Lagunenstadt aber noch keine Geisterstadt. Verdammt nochmal, er suchte eine richtige Geisterstadt! Oder zumindest eine kleinste Ecke von San Polo, die man Geisterstadt nennen konnte - eine, in der die einst prächtigen Renaissancehäuser längst geschwundener Kaufmannsfamilien so wirkten, als täten sie einen letzten seufzenden Atemzug, bevor sie im Schlamm der Kanäle versanken wie in einem modernden Grab. Er suchte eine Gegend, in der alte Bäume ihre Wurzeln über die Kanalufer streckten und der Wind in den Baumkronen ... rauschte....

Die Bäume! Gebiete mit Bäumen mussten auf der Karte und der Luftaufnahme doch hervorstechen! Auf einmal war er hellwach. Venedig war eine Stadt, in der die Häuser, Gassen und Kanäle dicht an dicht beieinander lagen. Die Stadt hatte so gut wie keine Grünflächen, keine Gärten! Was es gab, waren Geranien, die in Töpfen an den Hauswänden wucherten, hier und da sah man wild ausgesätes Gestrüpp in feuchten Mauernischen, man fand Zitronen- und Olivenbäume in Kübeln in gemauerten Hinterhöfen und Basilikum in Kästen auf den Fensterbänken. Aber da war kein Grünland, kein Rasen, keine Bäume.

Gut, in Santa Croce gab es tatsächlich den einen oder anderen grünen Flecken. Auf der Karte sah man aber auch, dass dies kleine, gepflegte Anlagen inmitten von Wohngebieten waren, und: Sie lagen nicht an alten, verrottenden Kanälen, die niemand mehr befuhr – außer man hieß Magnus Weber und wurde gerade entführt und in ein morbides, vierhundert Jahre altes Versteck gebracht. Er beugte sich vor, kniff die Augen zusammen, sein Blick tastete jeden Zentimeter des Stadtbildes ab.

Im Bezirk Castello, der ganz im Osten lag, gab es etwas, das man einen Park nennen konnte. Und ganz oben im Norden, im Bezirk Cannaregio, gab es fünf oder sechs weitere verstreut liegende winzige Grünanlagen, manche waren nur schmale Wiesen mit wenigen Bäumen, man sah sie auf der Karte und am rechten Rand gab es Bilder dazu. Aber diese Grünflächen waren ebenfalls gepflegt und wirkten nicht wie wild gewachsen. Und sie waren umgeben vom modernen Leben, von Wohnhäusern und belebten Gassen. Außerdem war auch das nördliche Cannaregio, wie Castello ganz im Osten, viel zu weit weg vom Hotel Fortuna. Andererseits blieb die Gondelfahrt ein Faktor, der zeitlich und bezüglich der Strecke überhaupt nicht klar einzukreisen war, Valerios Haus konnte also durchaus weiter weg liegen, als er dachte.

In Castello gab es alte, hohe Bäume, immerhin. Was er allerdings von Castello wusste, war das exakte Gegenteil dessen, was er vor Augen hatte, wenn er an Valerios Haus und dessen unmittelbare Umgebung dachte! Castello war modern und alles andere als morbid und fantasieanregend, wenn man nach einem historischen Spuk-Ambiente suchte. Und nicht nach gepflegten, modernen Hotels, Geschäftshäusern und einem neu angelegten Vergnügungspark. Nein, auch Castello war also auszuschließen. Viel sicherer noch als die anderen Bezirke.

Aber die kleineren Inseln um Venedig, was war damit? Es gab diverse Inseln in der Lagune. Die weltbekannte Murano-Insel zum Beispiel... Aber Murano lag weit nördlich von Venedig. Der Weg durch Vendig bis hoch an die nördliche Grenze der Stadt und dann in die Lagune hinaus wäre viel zu weit gewesen und das galt auch für alle anderen Inseln. Auch, wenn er in einem bedenklichen Zustand gewesen war, als er von Valerios Haus flüchtete: Wenn sein Weg durch die Lagune geführt hätte, hätte er es bemerkt und sich daran erinnert.

Und nicht nur das! Er hätte ein großes Problem gehabt, das er sicher nicht allzu erfolgreich gelöst hätte; Gondeln waren Fortbewegungsmittel, die man innerhalb der Stadt und auf den Kanälen nutzte, nicht jedoch in der offenen Lagune, und noch viel weniger in der Nacht. Die Lagune war von Strömungen, Untiefen und Sandbänken durchzogen, die je nach Tageszeit und Wasserstand über oder unter Wasser lagen. Um mit einem Boot die Lagune zu durchqueren, konnte man nicht einfach direkt sein Ziel ansteuern, als befände man sich auf einem See, sondern man musste sich umständlich in mit Pfählen abgesteckten Fahrrinnen bewegen. Bei niedrigem Wasserstand konnte auch das riskant werden. Regelmäßig blieben Boote im Schlamm stecken und mussten angeschoben werden. Oder man wartete auf die nächste Flut, in der Hoffnung, dass diese das Boot wieder freisetzte. Er hatte buchstäblich keine Erfahrung mit diesen Fahrrinnen und den Wasserverhältnissen und Gezeiten dort draußen – und mit einer Gondel und bei Nacht war an eine Überfahrt zu einer der anderen Inseln in der Lagune gar nicht zu denken, dazu verwendete man Motorboote!

Urplötzlich fiel ihm sein Traum ein. Er hatte nachts an der Ruga Vecchia gestanden und auf den Kanal geschaut. Nicolò hatte seine Röntgenbilder mitgebracht, hatte sie unter dem Arm getragen. Er hatte dort am blauen Tor vor seinem im Mondschein leuchtenden Boot gestanden. Es hatte ausgesehen, als würde er ihn mitnehmen wollen ... Aber er hatte nur die Menschen in den Gondeln gesehen, ihre Gewänder, die Lichter, die Musik ... Etwas Eigenartiges hatte es in ihm ausgelöst.

Er erinnerte sich, als sei er immer noch im Traum gefangen; wie gerne wäre er mit ihnen gefahren, es hatte furchtbar geschmerzt, sie vorbei ziehen zu lassen. Aber als er Nicolòs Hinweis mit dem Blick gefolgt und das Schild an der Gasse gelesen hatte, waren beide plötzlich verschwunden, die Gondeln ... und auch Nicolò mit seinem Boot.

Ein seltsamer Traum war das. Seltsam auch, weil dabei so vieles in seinem Innern anklang, Dinge, die er aber nicht klarer deuten konnte, da sie sich in den Tiefen seiner emotionalen Welt regten. Ihm war, als hätte jemand in den Kellergewölben seines Daseins eine einzelne Harfensaite angeschlagen. Und solange der schwindende Klang noch zwischen den Wänden hin- und her geworfen wurde, musste er sich erinnern, was dieser anrührende Ton ihm mitzuteilen hatte. Oder das Fenster schloss sich wieder vor seinem Bewusstsein und es war zu spät.

Erneut rieb er sich das Gesicht. Seine Nase war kalt, die Augen schmerzten von dem schlecht eingestellten Bildschirm. Wie kam er auf einmal zu solchen Gedanken? Das passte doch gar nicht zu ihm! Ja, er musste zugeben, er befand sich in einer kritischen Phase, er versuchte das Schmerzliche, das er in den letzten Tagen in der Sache mit Giulia erfahren hatte, zu verdrängen, es nicht allzu brutal und nackt wahrnehmen zu müssen. Dazu der Ärger mit Harald. Und „Ärger" war nicht das richtige Wort, verletzt und verunsichert war er!
Auf seine Art hatte sein Freund und Chef schon Recht. Was sollte er auch anderes tun! Diese Angelegenheit war nicht viel geschickter zu handhaben, es gab keine Lösung, die allen gerecht wurde, er verstand das. Harald musste firmenbezogene und private Angelegenheiten strikt voneinander getrennt halten und war gegenüber seinen Angestellten zu allererst zu Sachlichkeit und Neutralität verpflichtet. Er war über die Jahre stets ein guter, fairer Chef für alle gewesen.

Aber er wollte hier jetzt nicht der Verständige, der Einsichtige sein, der allen anderen entgegen kam. Er fühlte sich hilflos und allein gelassen. Ganz sicher projizierte er gerade sein Verlassensein durch Giulia auf die Beziehung zu seinem Freund, und der musste das nun aushalten. Er seufzte schwer. Später. Später würde er das mit ihm besprechen. Jetzt hatte er ganz andere Sorgen, er musste dieses verdammte Rätsel lösen! Was vollkommen unmöglich schien, so wie es sich hier zeigte. Was nützten ihm die besten Karten der Welt, wenn er Gedächtnislücken von der Größe Disneylands hatte!

Für heute war jedenfalls Schluss damit, er war müde. Er fühlte sich niedergeschlagen und hilflos, er hasste diesen Zustand. Und die Tatsache, dass er ihm nicht entfliehen konnte, ganz gleich, wie sehr er sich um Orientierung bemühte.

Die offenen Seiten im Netz waren schnell geschlossen. Er fuhr das Gerät herunter, klappte den Bildschirm weg und schob den schweren Kasten auf die Bettseite, die er nicht benutzte. Dann warf er sich auf den Rücken und legte die Arme über sein Gesicht. Wie unglücklich und enttäuscht er war! Auch und vor allem über sich selbst. Draußen hatte der Regen aufgehört. Wie fand man eine Geisterstadt mit alten Bäumen - in einer Stadt, in der es gar keine Bäume gab – außer in einigen wenigen Randgebieten, die wohl so etwas wie Bäume zu bieten hatten, aber nichts Geisterhaftes, beziehungsweise keine reihenweise leerstehenden Renaissance Palazzos?

Sollte er in einem Forum fragen? Es gab diese Typen, die auf eigene Faust Geisterstädte erkundeten... oder die verlassenen Ruinen von Nervenheilanstalten oder alte Bunker - und darüber im Netz berichteten. Es gab Amateurvideos auf Youtube über manche dieser Besichtigungen. Oder Begehungen, wie man Einbrüche dieser Art nannte. Viele dieser durchgeknallten Abenteurer reisten viel und weit für ihre Leidenschaft und betrieben großen Aufwand. Sie kamen weit herum, immer auf der Suche nach neuen und lohnenswerten Zielen. Manche tauschten sich in Foren aus, gaben dort Tips zu interessanten Orten mit spukigem Ambiente. Oder sie fragten dort nach Empfehlungen. Gab es eigentlich seinen alten Youtube-Acount noch? Er konnte dasselbe tun, sich verlassene Orte in Venedig empfehlen lassen und diese dann systematisch abarbeiten!

Soweit er wusste, suchten diese Leute aber ihre Abenteuer nicht gern dort, wo es von Menschen nur so wimmelte. Ganz bestimmt waren verlassene Straßenzüge und Kanalabschnitte innerhalb von Venedig nicht unbedingt reizvoll für solche Unternehmungen. In dieser engen und übervölkerten Stadt konnte man nicht mal eben in einen alten Palazzo einsteigen, ein paar Bretter von Türen oder Fenstern wegnehmen und filmen, wie der Kumpel durch ein offenes Fenster im ersten Stock kletterte!

Oder sollte er sein Anliegen Nicolò anvertrauen? Sicher, er konnte ihm nicht die wahre Geschichte erzählen ... könnte er ihm vielleicht irgendeine andere Begründung für sein Interesse auftischen?

Nein. Das konnte er nicht. Der Arzt war in Begriff ein Freund zu werden, er hatte ihm sehr geholfen. Mehr, als sein Job gebot. Und davon abgesehen hatte er in den letzten Tagen bereits genug geflunkert. Er hatte Angelo und Rosa erzählt, er sei betrunken gewesen und eine Treppe hinunter gefallen. Dann hatte er Nicolò dasselbe erzählt. Er hatte den Arzt nach dem Röntgen in dem Glauben gelassen, er wüsste von seinen längst verheilten Knochenbrüchen. Was die schnelle Heilung seines Knöchels betraf, hatte er vor ihm behauptet, er hätte dies mit Kühlung erreicht. Rosa und Angelo hatte er erzählt, er bräuchte den Laptop zum Arbeiten. Und Harald hatte er erklärt, er habe einen Unfall gehabt und sei danach vier Tage lang im Krankenhaus gewesen.

Nein. Er wollte keine weitere Geschichte erfinden, nur um Nicolò um Hilfe bitten zu können, ohne sich zu blamieren. Wenn der Arzt ein wenig erstaunter, nur ein winziges Bisschen mehr verwundert gewirkt hätte, als er die unglaublich schnell voranschreitenden Heilungsprozesse gesehen hatte – vielleicht hätte er ihm seine Geschichte anvertraut. Aber Nicolò war ein so sachlicher und nüchterner Mensch, er würde ihn auslachen! Oder er würde seine Erlebnisse auf seine Gehirnerschütterung schieben und ihn wie ein Kind behandeln, das schlecht geträumt hatte.
Und er war Arzt. Wie leicht konnte er ihn in Schwierigkeiten bringen, wenn er ihm eine Geschichte erzählte, deren Kern durchaus eine unglaubliche Gewalttat samt Entführung und Freiheitsberaubung beinhalten konnte? Alles sah doch danach aus! Wenn ein Verbrechen dieser Art geschehen war, war es im allgemeinen Interesse, dieses anzuzeigen und dem Täter auf die Spur zu kommen! Immerhin lebte dieser mitten in Venedig, unter all den Menschen und arglosen Touristen ... Taten konnten sich wiederholen, es könnte neue und weitere Opfer geben. Jedenfalls würde man so denken, wenn man seine Geschichte zu hören bekam.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen; er ahnte jetzt, warum er so verbissen versuchte, den Freak mit dem eigenartigen Kleidungsstil wieder zu finden. Er hatte ganz persönliche Fragen - Fragen, die nur er ihm beantworten konnte. Er wollte wissen, was wirklich geschehen war. Und so vieles mehr! Denn er glaubte nicht an ein Verbrechen, jedenfalls nicht an eines, bei dem der junge Mann Täter gewesen sein sollte! Eine leise, aber sichere Stimme in seinem Innern beharrte darauf, dass er ihn geheilt hatte. Er wusste nicht, wie und warum. Und er brauchte allen Mut, so oft er die Bilder abfragte, die sich in sein Bewusstsein hinauf gearbeitet hatten. Er hatte Angst und dennoch tat er es, immer wieder.

Es war unheimlich und fremdartig, ja, das war es! Er wusste, dass er hier einer Ungeheuerlichkeit auf die Spur kommen konnte. Er spürte es von Stunde zu Stunde deutlicher: hinter all dem verbarg sich eine große Geschichte. Vielleicht war er längst ein Teil davon, seit sie einander auf der Brücke begegnet waren.

Er nahm die Arme vom Gesicht. Einige Sekunden lag er ganz still da, starrte an die weiß gekalkte Decke. Dann sah er sich im Zimmer um, in dem es langsam wieder heller wurde; die Wolkendecke draußen begann sich zu öffnen. Er legte den Kopf in den Nacken, er wusste selbst nicht, warum, und besah sich das Bild, das über dem Betthaupt hing und das sich ihm nun von unten her und auf dem Kopf stehend zeigte. Er mochte es nicht, auch nicht aus dieser Perspektive. Noch immer empfand er ein subtiles Grausen, wenn sein Blick auch nur die Wand streifte, an der es hing. Er hatte schon überlegt, es einfach abzuhängen und es hinter die Kommode zu stellen, bisher hatte er es aber nicht gewagt. Die Wahrheit war: Er mochte es nicht berühren.

Der Narr hatte im Traum sein Gesicht gehabt. Er lachte auf, als er sich bewusst wurde, wie sehr seine Psyche ihm hier verdeutlichte, welche Position er gerade in seinem eigenen Leben einnahm: Er war der Narr, der Unsinnige – der, der ohne Sinn war! Er redete Unsinn, ja! Er dachte das Falsche und kam nicht auf das Richtige, er fiel aus allen Beziehungen hinaus, verhielt sich wie ein Elefant im Porzellanladen und was er berührte, ging kaputt. Der Narr sah ihn durch seine Maske hindurch an. Er reichte ihm den Schlüssel, immer noch ...

Er selbst war der Narr, besser konnte man es nicht sagen. Nicht Giulia hatte ihm die Narrenmaske aufgesetzt, er trug sie freiwillig. Aber er hatte auch den Schlüssel in der Hand. Dort oben im Boot saß der Narr, der im Traum sein Gesicht gehabt hatte, und reichte den Schlüssel unermüdlich zu ihm hinüber. Er bot sich den Schlüssel also selbst an! Er musste ihn nur annehmen und etwas damit anfangen! Zu jedem Schlüssel, der gefertigt wurde in der Welt, gab es irgendwo... ein Schloss. Und eine Tür, hinter der Erkenntnisse lagen.

Ende Teil 24


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