(3/8) Kontakt

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Es war zu früh am Abend, um bereits zu schlafen. Wenn er jetzt einschlief, würde er sicher weit vor dem Morgen aufwachen und dann am Nachmittag schon wieder so durchhängen, dass er sich garantiert nicht besser konzentrieren können würde als gerade eben. Dabei hatte er das beunruhigende Gefühl, keine Zeit zu haben und daher die wenige Zeit, die ihm blieb, gut nutzen zu müssen.

Je länger seine nächtlichen Erlebnisse her waren, desto weniger Bezug hatte er dazu. Dies irritierte ihn, denn in den letzten vierundzwanzig Stunden war er immerhin zu einigen Erkenntnissen gekommen, die doch eigentlich das Gegenteil bewirken mussten! Er hatte Erinnerungen, Bilder, Eindrücke erhalten, die exakt zu dem passten, was offenbar gerade mit seinem Körper geschah – und hierzu gab es sogar Röntgenbilder! Und einen Mediziner als Zeugen! Und dennoch spürte er, wie ihm diese eigenartige Geschichte von Stunde zu Stunde mehr entglitt.

Es war, als hätte man ihn in einem Boot auf einem nebelverhangenen See direkt auf eine unsichtbare Grenze gesetzt... und als würde er sich aber von dieser immer mehr entfernen, wenn er weiterhin die Zeit so sinnlos verstreichen ließ und zu keiner brauchbaren Entscheidung kam. "Realität" schien mehrere Seiten zu haben. Auf welcher Seite wollte er sein? Er überlegte schon zu lange! Er trieb weg, verlor den Kontakt. Aber welchen Kontakt - wozu? In letzter Zeit kamen ihm seltsame Bilder und Worte in den Sinn. Solche Dinge waren ihm früher im Leben nicht eingefallen. Aber nun passten sie, denn sie beschrieben, was er fühlte und wahrnahm.

Ja, er musste eine Entscheidung treffen. Genau darum ging es! Auf der einen Seite das Irreale, das Seltsame, das Geheimnis, das auf unerklärliche Weise eine erschreckende Alternative zu dem verkörperte, was er zuvor stets als „Realität" bezeichnet hatte – und auf der anderen Seite das, worunter er sich immer das ganz normale Leben vorgestellt hatte. Dieses Leben, in dem im Grunde alles irgendwie berechenbar und nachvollziehbar war. Weil es nichts gab, das außerhalb von Logik und Ursache stattfand. Zumindest hatte er das immer gedacht. Nun war er sich nicht mehr sicher.

Er stand auf der Schwelle, aber er trieb langsam weg. Noch konnte er wählen, konnte sich für eine Seite entscheiden. Was wollte er glauben? Das erste war verlockend, es versprach ein Abenteuer. Zugleich war es aber auch irritierend und beängstigend, und: Er musste dafür seine Vorstellung von Realität in Frage stellen. Das zweite war vertraut, es versprach eine Rückkehr zu Sicherheit und Normalität. Aber es kostete ebenfalls, denn es verlangte, dass er seine eigene Wahrnehmung verleugnete. Seine Röntgenbilder. Die ... Erinnerungen.

Was sollte er tun? Er wollte nicht feige sein. Aber sein Bedürfnis nach Kontrolle zerrte an ihm, als wollte es um jeden Preis verhindern, dass er nach seinem Bauchgefühl entschied. Und Sicherheit ... was bedeutete das? War man sicherer, wenn man wegsah, wo es schwierig wurde? Oder der Mut nicht reichte?

Die Beziehung mit Giulia hatte er auf diese Weise gelebt. Oh, wie sehr hatte er hier an Kontrolle geglaubt, daran, dass er die Sache nur immer gut im Griff behalten musste. Und dass er sich seine Ignoranz und sein Wegsehen leisten konnte.

Nein, sein Lebensmotto sollte das nun wirklich nicht werden! Was diesen Fehler betraf, hatte das Leben ihm gerade  eine bittere Lektion erteilt. So wie diese Leute, die ihr gesamtes Leben auf solche Weise verbrachten, wollte er niemals sein! Auch, wenn er selbst ebenfalls in gewissem Maß ein Kontrollfreak war, wollte er diesem Bedürfnis doch keine Wahrheiten opfern, wollte nicht zum Verweigerer von Fakten und letztlich zum Verräter seiner eigenen Wahrnehmung werden. Wenn er hier also wählen musste, wenn es keinen Kompromiss zwischen den beiden Seiten geben konnte und er hier nicht ewig weiter in ängstlicher Erstarrung und Ratlosigkeit auf der Schwelle stehen bleiben durfte: Wie konnte er zu einer Entscheidung finden?

Er hatte sich so sehr bemüht, das Geheimnis ein wenig weiter zu lüften. Anhaltspunkte zu finden, die ihm ein Verstehen dessen, womit er es zu tun hatte, erleichtern könnten. Aber vergeblich! Es fehlten zu viele Puzzleteile, um das Motiv zu erkennen. Und je mehr er vor sich hin grübelte, ohne weiter zu kommen, desto verzweifelter würde er werden.

Mit Schwung kam er vom Bett hoch. Der Schwindel, der ihn erfasste, ließ ihn sofort wieder auf die Bettkante zurück fallen. Aber der stechende Kopfschmerz, der sich in solchen Momenten gestern noch typischerweise eingestellt hatte, hielt sich diesmal in Grenzen. Er atmete einen Moment durch und stand dann wieder auf, vorsichtiger und bedachter diesmal. Er ging zur Balkontür hinüber, warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, die auf dem runden Tisch lag. Es war beinahe fünf Uhr.

Sollte er doch schon ins Bett gehen und sehen, ob er bis zum Morgen durchschlafen konnte? Nicolò hatte ihm geraten viel zu schlafen. Je mehr er schlief, desto eher würde er sich regenerieren. Aber er wollte das Abendessen nicht verpassen, Rosa wollte ihm etwas nach oben bringen. Wenn sie sich schon die Mühe machte, sollte sie ihn nicht schlafend vorfinden.

Abgesehen von der Beschäftigung mit dem Laptop hatte er im Zimmer keine Unterhaltung; das Abendessen gehörte also zu den wenigen Abwechslungen, die es für ihn gab. Wenn er nun seinen Kopf ein wenig ausruhte, konnte er sich vielleicht zum Abendessen im Internet noch einen kleinen Film ansehen. Er drückte die Stirn an die Scheibe und ließ seinen Blick über die Hausdächer schweifen. Er vermisste den Fernseher, den Giulia und er in ihrem Hotelzimmer gehabt hatten. Sein neues Zimmer hatte zwar einen Anschluss in der Wand, gleich neben dem Vorhang zum Bad, aber es gab kein Fernsehgerät.

Frische Luft konnte jetzt gut sein, sie würde seine Gedanken klären. Er öffnete die Balkontür, trat hinaus, streckte seine verspannten Rückenmuskeln und atmete die feuchte Abendluft ein. Auf der Suche nach etwas Sehenswertem beugte er sich über die Balustrade und schaute den schmalen Kanal entlang. Unten im ersten Stock gab es keine Balkone, seiner war der unterste. Irgendwo darunter musste ein Wassertor in der Wand liegen, denn er konnte dort unten die äußere Kante eines kleinen Anlegestegs sehen. Davor ragten vier Pfeiler aus dem Wasser.

Der Palazzo gegenüber war klein und hatte drei gotische Fenster, farbiges Glas umlief die äußeren Kanten und die Spitzbögen. In der Mitte unterteilten metallene Verstrebungen die Fläche und Reihen filigraner Steinmetzarbeiten zierten die Mauerabschnitte zwischen den Fenstern.

Unten gab es keine Fenster in der schlichten Mauer, nur das Wassertor, von dem ein paar Stufen hinab führten. Zwei hölzerne Pfähle ragten aus dem stillen Wasserspiegel hervor, an dem einen war eine Gondel fest gemacht. Dies war eines der alten Kaufmannshäuser, wie sie vor Jahrhunderten die reichen Händler für ihre Familien gebaut hatten. Es war von derselben Art wie Valerios Haus, es musste aus derselben Epoche stammen - nur dass dieses hier trotz der feuchten Wände und der kahlen Stellen, an denen das Mauerwerk durch den Putz hindurch sah, wesentlich besser erhalten schien.

Rechts neben dem Palazzo befand sich das kleine Restaurant, von dem Angelo gesprochen hatte. Es lag ein wenig zurück, so dass zwischen der schmalen, grün umwucherten Front und dem Wasser eine winzige Terrasse entstand. Darüber führte an der Außenmauer eine schmale Treppe nach oben, unter der man drei kleine Tische aufgestellt hatte. Zwei weitere standen dicht am Wasser. Auf der Terrasse saß ein älteres Paar, sonst gab es zumindest hier draußen keine Gäste. Beide Flügel der Tür standen offen und aus dem Innenraum drang leise Musik nach draußen.

Er erkannte die Melodie. Es war ein Lied, das sie auf der Hochzeit seiner Mutter gespielt hatten. In diesem Oktober vor vier Jahren hatte sie endlich dem Werben ihres langjährigen Freundes nachgegeben und ihn geheiratet. Er selbst war dreizehn Jahre alt gewesen, seine Schwester neun, als ihre Mutter ihnen Thomas damals vorgestellt hatte. Dessen bemühte Versuche der Annäherung, die er seiner neuen Partnerin zu Gefallen fortwährend unternahm, waren ihm damals bereits auf den Geist gegangen.

Für ihn war es in Ordnung gewesen, dass seine Mutter einen neuen Partner hatte; immerhin war die Scheidung seiner Eltern zu dem Zeitpunkt bereits drei Jahre her. Aber er hatte keine Ambitionen gehabt, in diese neuen Verhältnisse mehr als nötig einzusteigen. Er konnte nicht nachvollziehen, warum seine Mutter damals so viel Aufhebens um Thomas und dessen Beziehung zu ihren beiden Kindern gemacht hatte. Lena allerdings war damals sehr interessiert gewesen, sie war jünger als er und schien diesen Familienzuwachs positiv zu sehen.

Er erinnerte sich gut; mit seinen beinahe vierzehn Jahren war er sich bereits zu erwachsen für einen Stiefvater vorgekommen. Er musste jetzt lächeln, als er daran dachte, wie sehr man sich in diesen jungen Jahren doch bezüglich der eigenen Reife und Weitsicht verschätzen konnte. Dennoch schien er aber auch einen guten Instinkt gehabt zu haben, denn Thomas zeigte sich nicht als ausdauernd und konstant genug – schließlich blieb auch seine Beziehung zu Lena auf der Strecke und er wurde zu „Mutters Freund", nicht weniger, aber auch nicht mehr. Thomas war ihre Sache, er war letztlich nicht vollständig in die Familie hinein gewachsen. Dann heirateten sie. Und dieser Tag wurde an seinem Ende in der Historie der Familie zu etwas, dessen Unfassbarkeit bis heute nachhallte.

Mit Wehmut dachte Magnus an diesen Tag, den Lenas Tod zu einer Art Mahnmal gemacht hatte. Es hatte Übernachtungsgäste gegeben, da ein Teil von Thomas' Familie für die Hochzeit eine längere Anreise gehabt hatte. Für Lena und ihren kleinen Sohn Tom hatte es keinen Platz im Haus gegeben, sie wohnten nicht weit entfernt und konnten nach der Feier eine Mitfahrgelegenheit bei Freunden nutzen. Der Lastwagen, der ihnen in dieser Nacht entgegen kam, schnitt die Kurve, kam ins Schleudern und prallte direkt in die Seite, auf der Lena saß. Sie war sofort tot. Tom starb noch auf dem Weg zur Klinik.

Er hatte an diesem Abend etwas getrunken und wohnte außerdem in der entgegen gesetzten Richtung, darum hatte er die beiden nicht nach Hause gefahren. Und er war auch nicht so fürsorglich gewesen ihr vorzuschlagen, kurz auf ihn zu warten und sich dann mit ihm ein Taxi zu teilen. Nichts wäre ihr und ihrem kleinen Sohn passiert, wenn er in jener Nacht nur seine Verantwortung ernst genug genommen hätte.

Jetzt war September. In fünf Wochen würde es vier Jahre her sein. Seine Mutter hatte sich seitdem sehr zurück gezogen, sie war selten zu sprechen, suchte von sich aus keinen Kontakt zu ihm und bezog sich ganz auf ihre Partnerschaft mit Thomas. Wie sehr hatte er sich nach dem Tod von Lena und Tom um ihren Trost, ihr Verständnis bemüht! Zwei Jahre lang hatte er gehofft und gewünscht und gewartet und sich alles Mögliche einfallen lassen - hatte geglaubt, sie würde ihn mit der Zeit schon wieder an sich heran lassen.

Aber dann war es Gewohnheit geworden. Die Verhältnisse blieben letztlich, wie sie waren und er fühlte sich abgehängt. Insgeheim glaubte er, dass sie ihm die Schuld an dem furchtbaren Unglück gab, ihm nicht verzeihen konnte, dass er seine Schwester und seinen kleinen Neffen in dieser Nacht nicht nach Hause gefahren hatte. Ganz sicher dachte sie das - auch wenn sie es bis heute verleugnete, wenn er sie danach fragte.

Was er selbst dachte? Er wusste es nicht. Wer konnte sagen, was geschah, wenn man sich für A statt B entschied, wenn man fünf Minuten eher oder eine Stunde später losfuhr oder diesen oder jenen Weg nahm? Diese Fragen waren Klassiker, hier musste man das Wort Schicksal verwenden, auch wenn er es nur ungern aussprach, da es so festgelegt, gnadenlos und unausweichlich wirkte.

Schicksal, ein seltsames Ding war das ... und hier schien es ihn wieder einmal einzuholen! Wenn Lena noch leben würde, er hätte sie jetzt gern angerufen, ja, tatsächlich! Sie hatte immer Fantasie gehabt und war - ebenso wie er - in ihrem Herzen eine Abenteurerin. Sie war sogar aufgeschlossen gewesen für Dinge, die er als Blödsinn oder Aberglauben abtat. Sie hätte verstanden, was er zu erzählen hatte, mit ihr hätte er sich beraten können. Sie war immer aufgeschlossen gewesen, hatte nie über ihn gelacht, egal, womit er ankam.

Seine Mutter dagegen ... Plötzlich wurde ihm bewusst, wie lange er sie nicht mehr gesprochen hatte. Es musste ein halbes Jahr her sein! Und dass er sie gesehen hatte, war länger als ein Jahr her. Sie würde sich keine Sorgen machen, dass er nicht aus Venedig zurück kam, sie bemerkte es gar nicht, wie auch! Und wenn er es ihr vier Monate später erzählte, würde es sie kaum betreffen, es war erstens längst vorbei und zweitens war es sein Leben. Er könnte krank werden, mehrere Operationen haben und sich langsam wieder erholen, sie würde es nicht mitbekommen, so selten hatte sie den Wunsch, ihn zu sehen – oder ihm auch nur am Telefon Zeit zu widmen.

Dass durch Lenas Tod auf seltsame Weise auch er selbst offenbar für die Mutter gestorben war, ließ ihn die Verbundenheit mit seiner Schwester nur noch mehr fühlen. Im Grunde waren sie zwei gestorbene Geschwister ... und jetzt umso mehr noch, wo er Giulia verloren hatte, die auf eine Art sein Leben gewesen war. Oder zumindest ein guter Teil davon. Lena fehlte ihm auf einmal entsetzlich und er ertappte sich dabei, sich ernsthaft zu fragen, ob sie ihn jetzt in diesem Moment sehen konnte, wie er hier stand: so angeschlagen und verunsichert, so ratlos und einsam. Mit den Frauen in seinem Leben schien es irgendwie nicht zu klappen. Entweder vergaßen sie ihn über ihre eigenen Belange, oder sie verließen ihn. Oder sie starben. Insgeheim verfluchte er das Lied, das diese Gedankenlawine ins Rollen gebracht hatte. Als ob er nicht schon belastet genug war!

Oh Junge, was für ein Leben! Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die dringend wieder einen Schnitt gebrauchen konnten. "Komm schon, beweg dich", murmelte er zu sich selbst. "Geh ins Bad, geh aufs Klo, schau dich im Spiegel an, sieh nach, ob es dich noch gibt. Und verdammt nochmal, mach was mit deinen Haaren! Damit Rosa keinen Schreck bekommt, wenn sie das Abendessen bringt."

In solchen Momenten sprach er gern mit sich selbst, er mochte es, sich mit selbsterdachten Instruktionen aus einer Grübelphase heraus zu retten. Er hatte das mit ungefähr zwanzig begonnen und diese Gewohnheit in den letzten zehn Jahren nicht mehr abgelegt, weil es funktionierte. Also tat er nun, was er sich selbst verordnete, trat ins Zimmer zurück und verschwand im Bad.

Ende Teil 25

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