(4/1) Über die Grenze

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

[Oben: passend ausgewählte akustische Untermalung fürs Lesen dieses "creepy" Kapitels - aber Vorsicht: Lesen mit Akustik = nur für starke Nerven!]

Ein Wackelkontakt ließ das Licht im vorderen Bereich des langen Flures unruhig aufzucken. Das helle Surren der Deckenlampe, die die Ursache für die Störung zu sein schien, passte zu dem schwimmenden Gefühl in seinem Kopf.

Er hatte Durst und war in den ersten Stock hinunter gelaufen, um sich eine Cola zu holen. Der Automat stand gleich links an der Treppe. Das unangenehme Geräusch der Lampe über ihm setzte sich gegen den grummelnden Getränkeautomaten durch. Der musste überaltert sein und fraß wahrscheinlich eine Menge Strom. Er pickte die passenden Münzen von der Handfläche herunter und beförderte sie nacheinander in den Schlitz. Sein neues Feuerzeug hatte er für den Moment oben auf dem brummenden Kasten abgelegt.

Als er mit dem Finger den Knopf neben der beleuchteten Scheibe berühren wollte, zuckte er plötzlich heftig zusammen. Ein Luftzug hatte sein T-Shirt am Rücken in Wellen flattern lassen. Die Haare an seinem Unterarm stellten sich unangenehm auf. Dann war es vorüber.

Er ließ die Hand sinken, ohne den Knopf gedrückt zu haben. In seinen Ohren sirrte das Geräusch, das die defekte Lampe verursachte, doppelt so laut wie zuvor. Unter dem flackernden Licht hinweg sah er den Flur entlang, als ein Schatten sich in seinem Augenwinkel bewegte. Zu Tode erschrocken wich er nach hinten aus, verlor beinahe das Gleichgewicht. Etwas hatte ihn am Kopf berührt! Er hatte es ganz deutlich gespürt, es war, als wenn sich eine Hand über seine Stirn gelegt hätte ... aber da war nichts! Buchstäblich nichts! Er war allein im Flur. Er lauschte, sah sich wieder und wieder um. Von unten hörte man leise Musik, Stimmen und Geschirrgeklapper.

Diese vertrauten Geräusche, die ihn an die Normalität der realen Welt anbanden, beruhigten seine Nerven nicht. Der plötzliche Luftzug im Gang und die Berührung an seiner Stirn waren zu real gewesen!

Unsicher, was er davon halten sollte, wandte er sich zur Treppe um. Er trat ans Geländer, sah hinunter, dann nach oben ins zweite Stockwerk hinauf. ... Nichts.

So war das also! Er atmete durch und schüttelte über sich selbst den Kopf. Diese Halluzinationen, vor denen Nicolò ihn gewarnt hatte ... dass sie so real sein konnten! Der Arzt hatte gesagt, das könnte vorkommen. Und er sollte es gelassen nehmen, wenn es geschah, das würde vorübergehen.

Gut, das wollte er tun. Aber es war eine Herausforderung! Er lachte leise über sich selbst, schüttelte den Kopf über seine verqueren Sinne. Die Intensität des gerade Erlebten saß ihm noch im Nacken. Wenn es nach ihm ging, würde er dieses Phänomen gern auslassen, er musste das nicht haben. Es würde besser sein, wenn er gleich nach dem Abendessen schlafen ging. Es war seine erste Gehirnerschütterung, er hatte keinerlei Erfahrung mit solchen Dingen.

Er hob die Hand, um das eigenartige Gefühl von der Stirn zu wischen, drückte dann auf den Knopf, um den Automaten dazu zu bewegen, ihm seine Cola in die Klappe zu befördern, als er dicht an seinem Ohr eine Stimme hörte.

"Chi pecora si fa, il lupo se la mangia."

Er erschrak, sah über seine Schulter und den Gang entlang. Da war nichts.

Verdammt! Was war das nun wieder! Seine wirren Synapsen gaukelten ihm hier offenbar einen Besuch seines ... seines seltsamen neuen Freundes vor! Du drehst langsam durch, Signor Magnus - behalte die Nerven, oder sie liefern dich noch ein, warnte er sich selbst. Sein Herz jagte, ihm war plötzlich so kalt. Diesmal hatte er sich wirklich erschreckt!

Er öffnete die Klappe und nahm die Coladose heraus. Chi pecora si fa, il lupo ... Erst jetzt realisierte er, was er da gehört hatte. Wer sich zum Lamm macht, wird vom Wolf gefressen. Ok, das war es also. Er hatte verstanden. „Ach du liebe Scheiße", lachte er hysterisch in den Flur hinein. Seine Psyche sprach offenbar zu ihm und benutzte dazu die gestörte Funktion seiner durcheinander geschüttelten Wahrnehmungsverarbeitung. Typisch für dich, du dummes Schaf, sagte er zu sich selbst. Ein Teil seines Kopfes war ihm immer schon suspekt gewesen. Er nahm sich vor, es mit Humor zu tragen. Aber er wollte sich beeilen, wieder ins Zimmer zurück zu kommen, vorsichtshalber. Die erfrischende Kälte der Dose in seiner Hand holte ihn vollständig in die Realität zurück. Mit der freien Hand griff er nach oben, um sein Feuerzeug vom Dach des Automaten zu nehmen ... und stutzte. Dort oben lagen zwei Gegenstände, nicht einer. Er griff nach beidem. Als er seine Hand öffnete, lag darin sein Feuerzeug – und ein Ring.

Er kannte diesen Ring. Oder konkreter gesagt: er verband eine ganze Flut von Bildern und Emotionen mit dem zierlichen Schmuckstück, das da neben dem Feuerzeug auf seiner Handfläche lag. Der Ring war alt, einige Jahrhunderte. Und er war echt. Es war kein Replikat, das sah man auf den ersten Blick, er kannte sich aus mit Antiquitäten. Ein geschliffener, herzförmiger Wassersaphir, ein Iolith, umgeben von filigranen Schlingen und Ranken aus meisterhaft geschmiedetem Gold. Italienische Renaissance.

Nicht der Wert und die Seltenheit dieses Schmuckstücks waren das Erschreckende an seiner Entdeckung, sondern, dass er diesen Ring mit einem Namen verband. Einem Namen, der ihn in dem Moment in Tränen stehen ließ, als sein Klang durch die Hallen seines Bewusstseins wehte.

Isabella.

"L'anello. Der Ring. Du erkennst ihn" , hörte er Valerios Stimme direkt neben sich. "Wenn du Fragen hast, frage."

Valerios Stimme, seine Worte jagten ihm Schauer über den Rücken. Hektisch überblickte er den stillen Flur. Durch die in regelmäßigen Abständen angebrachten Deckenlampen entstanden über viele Meter hinweg Streifen tiefer Schatten an den Wänden. Aber auch, wenn das Licht der Lampe direkt über ihm in immer kürzeren Abständen zuckte und flackerte, war es doch nicht möglich, sich in einem dieser Schatten so zu verbergen, dass man nicht entdeckt werden konnte! Außerdem hatte er die Stimme unmittelbar neben sich wahrgenommen!

In der dunklen Gasse hatte er Verständnis für seine unzulängliche Sehfähigkeit gehabt - aber hier grenzte die Tatsache, dass er Valerio nirgends in seiner Nähe entdecken konnte, an Spuk! Und bevor er derartige Erklärungen akzeptierte, würde er eher seinen Geist für gestört erklären, dachte er ... und rief sich energisch zurück. Stopp ... so wollte er nicht mehr denken! Er hatte es sich heute erst versprochen, auch Lena zuliebe! Er wollte nicht sein Vertrauen in seine Wahrnehmung opfern, nur um ein womöglich veraltetes oder unvollständiges Weltbild zu verteidigen.

Er hätte Valerios Stimme doch nicht derart real und lebendig in seinem Kopf nachempfinden können! Abgesehen davon, dass er noch wusste, wie sehr diese Stimme ihn beeindruckt hatte, hatte er ihren konkreten Klang bereits beinahe vollständig vergessen gehabt. Aber wenn er sie hörte, konnte er sich erinnern. Und er hatte sich sofort erinnert, er hatte sie gleich im ersten Moment erkannt - so klar, so deutlich, dass er sich vor Schreck beinahe in die Hose gemacht hätte! Es war Valerios Stimme gewesen, hier draußen, gleich neben seinem Ohr, und keine Stimme in seinem Kopf.

Das hier war auf irgendeine phantastische Art ... real. Schweiß trat ihm ins Gesicht, ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Er fühlte seine Beine nicht mehr, gleich würden sie unter ihm wegbrechen. Zitternd atmete er aus, versuchte wieder Grund unter seine Füße zu bekommen. Wurde er nun verrückt? Oder befand er sich inmitten einer Spukgeschichte? Real oder nicht, er wusste nicht mehr, wie er das Eine vom Anderen unterscheiden sollte!

Die Panik, die ihm langsam und stetig den Rücken herauf kroch, ließ jeden Glauben an Halluzination und Täuschung von ihm abprallen. Seine Angst beruhte auf seinem Instinkt! Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, er machte sich nichts vor, er spürte das.

Der Ring brannte auf seiner Handfläche. Nichts auf der Welt konnte ihn dazu bewegen, dieses Schmuckstück mit den Fingern zu berühren oder es sogar in die Tasche zu stecken und mitzunehmen! Er wollte es nicht näher ansehen, das brauchte er nicht. Er kannte diesen Ring mit all seinen Details. Und diese Tatsache war deshalb so entsetzlich, weil er zugleich buchstäblich keine Ahnung hatte, woher er den Ring kannte. Ihm fehlte jede Geschichte dazu, er wusste nichts von den Umständen - aber allein sein Anblick löste Emotionen in ihm aus, die ihn wie eine riesige Welle wegrissen.

Und da war dieser ... Name. Er gehörte untrennbar zu dem Ring. Isabella. In seinem Leben gab es keine Isabella! Es hatte niemals eine gegeben, er kannte keine! Wer sollte das sein? Und dennoch war es dieser Name, zusammen mit dem Ring, der ihm urplötzlich und schockartig Tränen in die Augen getrieben hatte.

Er wollte zurück in sein Zimmer. Nur weg aus diesem Flur, die ganze Situation war ihm absolut nicht geheuer. Er ließ Feuerzeug, Ring und Coladose fallen; mit wenigen Sätzen stürzte er zur Treppe, jagte die Stufen hinauf und den Gang entlang. Glücklicherweise hatte er seine Zimmertür unverschlossen gelassen.

In heller Panik warf er sich gegen die Tür, drehte den Knauf und war schon drinnen. Mit fliegenden Schritten gelangte er irgendwie zur Kommode, griff den Schlüssel und hetzte zur Tür zurück. In seiner Not verfehlte er das Schlüsselloch, und noch einmal, er traf es einfach nicht! Der Raum war so dunkel ...
Als es an die Tür klopfte, fiel ihm der Schlüssel aus der Hand.

Er wachte auf. Schweißgebadet und mit einem Puls, der ihm beinahe den Hals sprengen wollte, saß er im Bett und rang nach Luft. Es klopfte wieder.


„Signor Weber, Rosa ist hier. Sind Sie da? Ich bringe Ihnen Ihr Abendessen!"

Mit der Bettdecke wischte er sich den kalten Schweiß vom Gesicht ab, dann schwang er die Beine über die Kante. "... Moment noch ... bin unterwegs", brachte er gepresst heraus, während er nach dem Schalter der kleinen Lampe fischte, die auf der Kommode stand.

Es war nur Rosa. Rosa, die Angestellte. Mit dem Abendbrot. Er hatte geschlafen und geträumt. Er war so erleichtert! Sein Durst, den er nun deutlich verspürte, die Tür, an der es geklopft hatte, sein neues Feuerzeug, die Suche nach Valerios Haus heute Nachmittag – all das hatte er offenbar in seinen Traum eingebaut. Er strich sich die Haare nach hinten, drehte den Schlüssel, der im Schloss steckte, und ließ Rosa mit dem Tablett herein.

"Oh, bitte entschuldigen Sie, ich war wohl eingeschlafen", murmelte er erklärend. "Warten Sie ... stellen Sie es doch einfach hier auf dem Bett ab, auf dem Tisch liegen noch meine Sachen, also ... vielen Dank, das .. ist riesig nett."

Es tat ihm gut, zu einer lebendigen, realen Person zu sprechen, er kam langsam wieder zu sich. Sein Herz schlug bereits ruhiger, während er mit Begeisterung auf das Tablett sah und realisierte, was Rosa ihm mitgebracht hatte. Rührei und Salat, Tomaten, Brot, Butter und Aufschnitt gab es, dazu etwas in einer Schale, das aussah wie gebratene Champignons. Der Duft, der sich im Zimmer ausbreitete, weckte einen Bärenhunger in ihm.

„Oh, das ist phantastisch", stieß er aus, dankbar, dass sie ihn auf so freundliche Weise aus seinem Traum gerettet hatte. "Und dass Sie mir das nach oben bringen, also das ist ..."

Rosa lächelte. „Danke, Signor Weber, ich freue mich, wenn's Ihnen zusagt. Ich habe das ... sehr gern gemacht, es ist in Ordnung." Ein wenig verlegen strich sie mit den Händen an ihrer Schürze herunter und hielt plötzlich inne. „Oh, warten Sie ... bevor ich es vergesse: Hier sind noch Ihre Sachen. Sie müssen sie unten vor dem Getränkeautomat verloren haben. Das müssten Ihre sein, richtig? Ich habe es an Ihrem Feuerzeug erkannt, das ich Ihnen gestern gegeben hatte. Hier. Ich lege es Ihnen hier hin." Sie griff in ihre Schürze, legte das Feuerzeug auf die Kommode und stellte die Coladose daneben.

Noch einmal fühlte sie in ihrer Schürzentasche nach. "Und, oh ... der hier auch. Dass ich den nicht vergesse, er ist bestimmt einiges wert. Ein hübscher Ring ist das, Signor Weber. Es tut mir so leid für Sie wegen der Signora." Er starrte befremdet auf ihr mitfühlendes Lächeln, dann ging sein Blick wieder zu dem Ring zurück, den sie immernoch zwischen ihren Fingern hielt. "Sie waren ein schönes Paar. Wenn Frauen ihren Ring zurück geben, schmerzt das doppelt. Tut mir wirklich leid."

Er stand wie betäubt da. Ein Bild entstand in seinem Kopf; ein Fahrstuhl, der haltlos und ungebremst abwärts stürzte und ihn gnadenlos mitnahm.

Rosa legte den Ring neben der Coladose ab. Sie warf einen zögernden Blick in sein Gesicht. "Ich ... lasse Sie nun in Ruhe essen, Signor. Stellen Sie das Tablett dann einfach nach draußen auf das Buffet im Flur, wenn Sie fertig sind, ich komme später wieder herauf und nehme es mit."

Magnus blieb stumm. Er starrte auf Feuerzeug, Coladose und Ring. Er sagte nichts, er nickte nicht einmal.
Noch lange,  nachdem Rosa die Tür hinter sich zugezogen hatte, stand er einfach nur da und wartete. Es musste möglich sein, noch einmal aufzuwachen, diesmal wirklich und richtig. Aber es geschah nicht. Er war bereits wach. Noch wacher wurde man nicht.

Ende Teil 26



Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro