(4/2) Aufbruch

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Das Wasser lief an seinen Haarspitzen herunter, es rann ihm über die Wangen, tropfte an Kinn und Kiefer ab und durchnässte Kragen und Knopfleiste seines dunkelroten Poloshirts.

Der Spiegel hatte ein paar Spritzer abbekommen. Er hielt inne und starrte in seine Augen. Noch einmal warf er sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, kam mit dem Kopf hoch und betrachtete sich wieder.

Die Augen. Seine Augen mit dem markanten, dunklen Kranz rings um die wolkengraue Iris begannen ihm fremd zu werden. Sie nahmen langsam, schleichend die Farbe der Lagune an. War er noch ... er selbst? War dies noch sein Leben? Mit den Handflächen strich er über die nassen Lider, über die Wangen und das Kinn hinunter.

In den letzten Tagen und Nächten war so viel Fremdartiges auf ihn eingestürzt, dass er sich nicht mehr zurecht fand. Seine Träume redeten in einer Sprache zu ihm, die er nicht verstand. Seine Gedanken erzählten Geschichten, die nicht seinem Leben entsprangen. Seine Augen sahen Schatten, die verschwanden, seine Ohren hörten Worte, die niemand gesprochen hatte. Sein Gehirn beherbergte fremde Bilder, fremdes Wissen, fremdartige Szenerien, die er nicht zuordnen konnte und die ihm fortwährend zuraunten: Doch, Magnus, das alles kennst du! Du musst dich nur ... erinnern.

Und der Ring! Isabella ... Wenn er Fragen habe, sollte er fragen. Wer war Valerio? Und was hatte er mit ihm zu tun?

Er nahm das Handtuch vom Haken und drückte sein Gesicht hinein. Wie sollte er ihn denn fragen, wie nur! Er hatte Fragen, ja! Und er war jetzt soweit, er wollte Antworten, ganz gleich, wie diese ausfielen - aber er wusste doch nicht, wo er ihn suchen sollte!

Durch die Balkontür fuhr ein Windstoß ins Zimmer. Er bauschte den offen stehenden Vorhang, der die Badezimmertür ersetzte. Der Wind drang bis an seinen Rücken. Hinter sich hörte er ein flatterndes Geräusch aus dem Zimmer. Er nahm das Handtuch vom Gesicht und sah im Spiegel gerade noch, wie die Seiten seines aufgeschlagenen Kalenders, der auf der Tagesdecke lag, im Luftzug umgeblättert wurden.

Das Handtuch noch in den Händen haltend kam er zögernd aus dem kleinen Bad heraus. Er blieb stehen, sah sich im Zimmer um. Nachdem sich der Windstoß in den Raum hinein verirrt hatte, war die Balkontür zugeschlagen. Das Licht des nicht mehr ganz vollen Mondes ergoss sich über einen Himmel, der ihn spontan an wolkiges Tuschwasser erinnerte - nachdem man einen Pinsel mit Preußischblau darin ausgewaschen hatte. Als er ein kleiner Junge war, waren in preußischblauem Tuschwasser immer unsichtbare Haie geschwommen. Jedenfalls hatte er sich dies gern vorgestellt. Und Lena hatte es ihm geglaubt.

Die Lampe auf der Kommode brannte. Das kalte Licht des Laptops ließ den weißen Bettbezug bläulich schimmern. Es war still im Raum. Nichts regte sich mehr.

Er ging zurück ins Bad, um das nasse Handtuch aufzuhängen. Als er seine Zahnbürste greifen wollte, blieb sein Blick nochmals an seinem Spiegelbild hängen.

Über den ernsthaften und müden Augen war die Stirn glatt und eben, eine gleichmäßige Fläche, nur unterbrochen von feinen, quer verlaufenden Falten ... Er stutzte. Was war daran nicht in Ordnung, was irritierte ihn? Plötzlich wurde es ihm bewusst: Es gab nicht die kleinste Spur einer Verletzung, eines Schlages mehr. Da war ... nichts! Keine noch so geringe Verfärbung, keine Schramme, kein Bluterguss! Kein Schatten eines blauen Flecks, nicht einmal ein winziger Rest dessen, was er heute Mittag noch auf seiner Stirn gesehen hatte. Mit der Hand strich er über die Stelle, wo mittags noch die grüngelben Verfärbungen geprangt und sich bis in den Haaransatz hinein gezogen hatten. Noch einmal fuhr er über die Haut. So wie Valerio es getan hatte, am Getränkeautomat, dachte er ... und verstand plötzlich.

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Er füllte seinen Becher, quetschte Zahnpasta auf die Bürste und putzte sich eilig die Zähne. Nach wenigen Sekunden brach er ab, spülte seinen Mund und die Bürste aus, warf sie in den Becher zurück und stellte ihn auf die Ablage. Er blickte sich kurz in dem engen Bad um, dann fuhr er sich mit den Fingern durch die viel zu langen Haare, strich sie zu den Seiten, dann nach hinten und klemmte sie schließlich hinter die Ohren. Seine Haare wuchsen so schnell ...

Er lief ins Zimmer zurück, fuhr den Laptop herunter, klappte ihn zusammen, schob ihn auf die unbenutzte Bettseite. Dann eilte er zur Kommode hinüber, zog die kleine Lampe näher an die Kante heran, damit er besser sehen konnte, und wühlte in der oberen Schublade. Er zog das rote Polohemd aus, ließ es auf den Boden fallen, wo er stand, und schlüpfte in ein nachtschwarzes T-Shirt.

In der unteren Schublade fand er seinen dunkelblauen Pulli und warf ihn aufs Bett. Auf dem Tisch lag die Armbanduhr. Er stopfte sie zusammen mit seinem Feuerzeug in die Hosentasche. Seine Hand zögerte kurz, dann griff sie auch den Ring. Hastig wickelte er ihn in ein Papiertaschentuch ein und steckte ihn zu Feuerzeug und Uhr.

Unruhig ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Er brauchte irgendein Behältnis, eine Tasche... die Katalogtasche! Er lief um das Bett herum, warf sich davor auf den Bauch und fischte mit langem Arm unter dem Bett nach der kleinen, eckigen Tasche. Da war sie! Er holte die drei dicken Musterkataloge heraus und warf die leere Tasche aufs Bett. Dann schnappte er sich seinen Kalender, setzte sich auf die Bettkante und notierte im Licht der kleinen Lampe in Windeseile und mit zittriger Handschrift seine Fragen:

...und zuletzt:

Eine Frage, bei der er nicht mit einer Antwort rechnete. Aber er brauchte die Frage für sich selbst.

Eilig schlug er das mit Kunstleder eingebundene Buch zu, klemmte den Stift in die kleine Halterung und steckte es in die Tasche. Darüber stopfte er den Pullover. Dann warf er seine Brieftasche hinein und überlegte.

Er brauchte ein frisches Handtuch, Socken und eine Unterhose, dazu ein weiteres schwarzes T-Shirt aus der Kommode. Die Sachen legte er zu Kalender und Pullover in die Tasche. Sie war nun voll, aber die kleine Trinkflasche musste noch mit hinein.

Die Flasche fand er im Koffer; er spülte sie im Bad aus, füllte sie mit Wasser und schob sie an der Kleidung vorbei in die Seitenwand der Tasche. Dann schloss er den Reißverschluss, richtete sich auf und bemühte sich, einen klaren Kopf zu bekommen, um nichts Wesentliches zu vergessen. Er holte die Armbanduhr wieder aus der Hosentasche und schloss sie um sein Handgelenk.

Was noch? Sein Personalausweis ... der musste hier bleiben! Noch einmal öffnete er den Reißverschluss der Tasche, schob eine Hand hinein und fischte nach der Brieftasche. Den Ausweis versteckte er im Geheimfach des Koffers, schloss ihn sorgfältig und schob ihn wieder unters Bett.

Während er in seine Schuhe schlüpfte, sah er sich einen Moment lang von außen - als sei er nur Zuschauer seines seltsamen Handelns.

Was sollte das werden? Frodos Aufbruch, um den Ring nach Mordor zu bringen - nach Mordor, wo die Schatten drohen? Er lachte sonst immer über seine eigenen Witze. Diesmal nicht. Die Stille im Raum rauschte ihm in den Ohren. Sein Herz jagte. Durch seinen Kopf zogen Bilder.

Als er in die Halle kam, standen die Zeiger der dicken, runden Uhr über der Rezeption auf zwanzig Minuten nach Zehn.

Angelo hatte die Schritte gehört. Er sah von seiner Zeitschrift auf. Erstaunt hob er die buschigen Brauen, dann erkannte er ihn und grüßte nickend. Gerade wollte er etwas sagen, als Magnus ihm zuvor kam.

„Guten Abend, Angelo. Würdest du meinen Zimmerschlüssel hier aufbewahren? Und auch diesen hier?" Er legte den Zimmerschlüssel und dazu auch seinen eigenen Schlüsselbund auf den Tresen.

„Ah, du willst noch ausgehen, Signor Magnus? A sera tarda – so spät noch?" Er runzelte die Stirn. „Ist aber alles zu jetzt, meine Freund! Keine Essen mehr, keine Trinken, keine Musica, nix. Jedenfalls hier in diese Gegend. Ist nicht Canal Grande." Sein Blick ging neugierig an ihm herunter, blieb an der Tasche hängen, die er über der Schulter trug.

„Das macht nichts, Angelo. Ich weiß, dieses Viertel schläft nachts. Es ist nicht Las Vegas. Ich ... fotografiere. Er klopfte auf seine Tasche. „Ein Hobby ... aber ich bin gut!" Er lachte. „Mein kleiner Unfall ... eigentlich wollte ich in diesen Tagen zum Abschluss noch ein paar Fotos machen. Ich habe den Vollmond verpasst, aber nun ist mein Knöchel wieder fit. Der Mond ist beinahe noch rund - und er wird nicht mehr voller, bis ich nach Hause fliege. Ich will sehen, ob ich Venedig bei Nacht einfangen kann. So zum Sommerende, weil mir jetzt da draußen nicht mehr so viele Touristen vor die Linse laufen. Und nicht zu vergessen: Venedig bei Sonnenaufgang! Wenn die Häuser im Morgennebel liegen."

Angelos Mimik nahm einen entspannten Ausdruck an und er lächelte nun ebenfalls. „Ah, capisco ... fotografare. Bellissimo!" Er zeigte auf Magnus' Tasche. „Gute Kamera, eh?" Er lachte. „Angelo hat auch Kamera. Aber kaputt." Sein breiter Schnurrbart verbog sich zum umgedrehten U. Er schüttelte den Kopf. „Nix mehr fotografare, muss erst neu kaufen. Angela sagt, Angelo kauft lieber Küchenmaschine, ist besser." Er rollte mit den Augen und seufzte. „Aber sonst... wir sind felice! Glücklich!" Er lachte wieder und hob abwinkend die Hände in die Luft. „Nein, Fotos machen ist schöne Sache. Also wird das ein bisschen lange dauern ...?"

„Ja. Ich ... weiß nicht, wann ich zurück komme. Vielleicht nehme ich mir morgen noch den ganzen Tag, das entscheide ich nach Lust und Laune. Ich habe gestern und heute genug geschlafen, ich muss mal raus, das ist gut für mich. Ich komme klar und habe Geld dabei, kann mich morgen über den Tag verpflegen. Ich möchte die Schlüssel nicht im Zimmer lassen oder mitnehmen; ich hole sie mir dann hier wieder ab, wenn ich zurück bin."

Er spürte, wie sein Herz klopfte bei dem, was er da sagte. Nach seinen letzten Erfahrungen konnte er gar nicht wissen, wann er zurück kam - und beinahe wäre er gar nicht zurück gekommen! Wenn alles so lief, wie er es sich erhoffte, würde wahrscheinlich exakt dies erneut seine Situation sein, als Beigabe sozusagen.

Angelo nickte, nahm die Schlüssel vom Tresen. "Keine Problem, Magnus, gute Freund. Ich stecke sie hier hinein, in die Schließfach. Und wünsche gute schöne Foto für diese Nacht und morgen." Er lächelte verschmitzt. „Und Gruß an den Mond! Ach... Angelo würde gern mitkommen jetzt. Eine gute Abenteuer."

Magnus lachte, hob die Hand und grüßte, dann drehte er sich um und ging Richtung Glastür. Nein, Angelo, das würdest du nicht, dachte er. Nicht einmal er selbst wusste, worauf er sich in dieser Nacht einließ.

Sein Plan war nicht sehr ausgefeilt. Im Grunde hatte er keinen. Er hatte nur etwas, was er waghalsige Hoffnung nennen konnte. Es war eine Idee, ein Funke, nicht mehr. Mit Strategie und Glück allein würde er bei Weitem nicht auskommen. Es war ein Experiment, zu dessen Gelingen etwas beitragen musste, das er... Spuk nannte. Es gab keinen anderen Namen dafür. Ja, das war es: Es war paranormal.

Vor der Hoteltür blieb er stehen. Der Himmel hatte das tiefste Preußischblau, das jemals ein Tuschglas gefüllt hatte. Auch ohne Haie hatte dieser schwere, tiefe und sternenlose Himmel eine einschüchternde Wirkung auf sein abenteuerliches Herz - und seinen sehr mulmigen Magen, der eine Handbreit darunter lag.


Die Abendluft war frisch und der Mond stand riesig und blass hinter einem dünnen Wolkenschleier. Der Mond war wie Valerio: Er war da und ließ sich doch nicht in die Karten schauen. Einige Male atmete er tief ein und aus. Schließlich packte er den Riemen seiner Tasche und hob ihn über seinen Kopf und auf die andere Schulter hinüber, so dass er quer über der Brust lag. Dann marschierte er aus dem Lichtkreis des Hotels hinaus nach links und in die Dunkelheit hinein. Eine Taschenlampe hätte er von Angelo leihen können, sicher hatte er eine... aber dafür war es jetzt zu spät.

Ende Teil 27

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