(4/3) Perspektivenwechsel

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Die Beschäftigung mit der Karte war Zeitverschwendung gewesen. Sicher, dachte er, während er kräftig ausschritt - die Chance hatte bestanden, dass er spontan zumindest irgendwelche Details wiederfand. Zugleich hatten die Gassen und Kanäle aufgrund ihrer abstrakten Darstellung aber auch gar nichts mit seinen tatsächlichen Erfahrungen in dieser Nacht zu tun. Er war in einem anderen Zustand gewesen. Wenn er auch nicht wusste, wie sich das tatsächlich erklären konnte, so war er doch überzeugt, es musste eine Erklärung geben.

Er kam nur nicht darauf, weil er zu kurz dachte. Lena hatte ihm oft gesagt, man müsse bei diesen Dingen seinen Geist wesentlich mehr öffnen, man müsse das, was man anhand seiner gewohnten, alltäglichen Wahrnehmung und Logik für gegeben halte, loslassen und stattdessen in die Tiefen des eigenen Bewusstseins eintauchen. Weil die tieferen Schichtungen mehr zu erfassen in der Lage seien, als es der bewusste Vorgang des rationalen Denkens könnte, den man ansonsten stets allein und isoliert bemühte.

Eines war ihm spätestens nach dem Erlebnis am Getränkeautomat klar geworden: All diese spukigen Erscheinungen, die erstaunlichen Heilungsprozesse an seinem Körper, Valerios Worte, diese seltsamen Zufälle, die keine waren, seine fremdartigen Erinnerungen, womöglich auch seine Träume - all dies geschah am Rande einer anderen Sphäre.

Wenn er also davon ausging, dass dies der Wahrheit näher kam als jede Erklärung, die auf der Symptomatik einer simplen Gehirnerschütterung aufbaute, dann musste er damit rechnen, dass auch der Weg, den er mit Valerio genommen hatte, von anderen Gesetzmäßigkeiten beherrscht gewesen war.

Ja, das war es! Die Dinge geschahen nicht einfach so, sondern weil sie jemand bewirkte, inszenierte. Valerio.

Valerio war mit ihm in dieser Nacht keinen bestehenden Weg gegangen. Er hatte diesen Weg erschaffen, kreiert. Es gab ihn auf keiner Karte dieser Welt. Der Weg zu Valerio schien nicht gefunden werden zu können, er musste geschehen. Und hier, heute Nacht, war er unterwegs, um das zu provozieren.

War er wahnsinnig ... ein Irrer? Oder lebensmüde?

Er musste alles ganz anders anpacken! Wie stumpfsinnig und blind war er, dass er seine Möglichkeiten nicht ausschöpfte! Sein ganzes Leben lang und bis heute hatte er seine Zeit mit unwichtigen Dingen vertan, hatte sich ablenken und aufhalten lassen! Was war nur mit ihm los, dass er nie etwas bemerkt hatte?

Ein Grausen überkam ihn bei der Vorstellung, dass er womöglich seit seiner Kindheit bereits an der Wahrheit, dem echten Abenteuer, an all seinen Möglichkeiten vorbei lebte. Was, wenn Lena die ganze Zeit Recht gehabt hatte!

Oh, er hatte sich immer gegen ihre Fantastereien gewehrt, hatte stets abgeblockt, was ihm albern und kindisch vorkam. Kindisch ... Ein Kind war auch er einmal gewesen! Ein kleiner Junge, inmitten einer gewaltigen Welt voller Wunder und geheimnisvoller Türen.

Plötzlich erinnerte er sich. Das Bild, das vor seinem inneren Auge entstand, war glasklar und real, und einen Moment lang durchströmte ihn das sichere Gefühl, die Überzeugung, die ihn auch damals ausgefüllt hatte - damals, als er sieben, acht oder zehn Jahre alt gewesen war.

Er war so inspiriert gewesen, so neugierig und offen! Und nie hätte er gedacht, dass er sich bereits kurze Zeit später diesen unschuldigen und leichten Zugang zu den anderen Seiten und Aspekten seiner Welt so gründlich verweigern würde. Seitdem hatte er mit Scheuklappen gelebt. Im Halbdunkel und zunehmend unbewusster. So lange, bis er vergessen hatte, ob er auf noch mehr Dunkelheit oder auf eine Art Dämmerung wartete - bis er den Blick, die Fantasie verlernt und sich von seiner Schwester entfremdet hatte. Er hatte den aufgeschlossenen und kreativen Jungen mit dem Abenteurerherzen vergessen. Er hatte ihn verraten.

Das hier war so gänzlich anders als alles, was er aus seiner Vergangenheit kannte. Es wirkte ... nicht ganz real! So wie ein Film, ein Traum, den jemand ihm auf eine längst vergessene Leinwand projizierte. Und doch fand es außen statt, hier, in seinem Leben, seiner Realität. In dieser Stadt, in dieser Nacht! Und er war der einzige, der das alles nun erlebte. Er musste Vertrauen finden und die Augen weit offen halten - denn hier würde jetzt nur er sein, es gab keine anderen Menschen, keine Zeugen, die bestätigen konnten, was er erlebte. Er fror von dieser Erkenntnis, sie strich kalt wie Eis über seinen Rücken.

Oh ja, er war in Gefahr, sich albern vorzukommen. Das war so typisch für den Mann, der er geworden war! Wie konnte er sicher sein, das er sich nicht täuschte? Machte er einen Fehler? Wer war er überhaupt in dieser unwirklichen Szenerie? Wer war er jetzt? War er es überhaupt noch - Magnus, der dreißigjährige Mann aus Frankfurt, den er kannte? Oder hatte es diesen Mann nie gegeben und er hatte sich ihn nur eingebildet? Und wachte gerade auf - nach langem Schlaf? Hatte er denn jahrelang nur geträumt... und das hier war ein Stück Realität, das aus der Vergangenheit zu ihm zurück kam, um ihn wach zu rütteln?

Er wollte es nun wissen, er konnte nicht länger warten. Die Nacht durchdrang ihn, griff mit dunklen Armen mitten durch ihn hindurch... Er fühlte sich gezogen, gelockt und verführt. Wer war Valerio? Wie oft hatte er sich das nun schon gefragt. Er würde es herausfinden, bald. In dieser Nacht.

Als die Schleier zerrissen und das bleiche Licht des Mondes sich über die stille Stadt ergoss, bog er nach links ab und verschwand im Labyrinth der Gassen von Dorsoduro.

Ende Teil 28


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