(4/4) Schattenwege

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Wie ein nasses Tuch legte sich die Dunkelheit um die Wände der Häuser, breitete sich über die Gassen und Kanäle. Dunst und Nebel hingen bereits in schweren, sichtbar abgegrenzten Schwaden an den Hausecken und den herunter getretenen Stufen - und an den Dächern, die sich jetzt kaum noch gegen den tintenblauen Himmel abzeichneten.

Die Nacht zog schwer über die Stadt hinweg, sie trug den sterbenden Sommer mit sich. Er roch bereits nach Fäulnis und Vergänglichkeit und es war aber noch so viel warmes Leben in ihm, dass die Nacht ihn nicht ablegen konnte. So wogte sein modernder Geruch in Wellen über die Stadt und die Lagune, vielleicht eine kurze Weile noch, bis er endgültig im sumpfigen Untergrund versinken und vergehen durfte, weil der Herbst ihn ablöste.

Zu Beginn war er noch einem jungen Mann mit einem Rucksack begegnet. Ein schmaler Schatten, der ihn leise grüßte, so als wagte er nicht die Stille zu stören. Dann war er allein mit den aufragenden Mauern, den Schatten und der Nacht. In den schmalen Gängen war die Dunkelheit undurchdringlich, man sah kaum die Hand vor den Augen. Wo es Stufen gab, musste man sehr aufpassen. Still war es, kein Laut war zu hören. Nur seine eigenen Schritte hörte er auf dem feuchten Pflaster. Langsam und immer noch ein wenig mehr stellten sich seine Augen auf die Dunkelheit ein, sein Gehör schärfte sich für die Stille der Nacht, hinter der sich Unsichtbares leise zu regen begann.

Er war in sich gekehrt. Der drückende und dichte nächtliche Charakter dieses Viertels hatte ihn bald vollständig eingenommen. Zuerst war er bemüht gewesen, diese Stimmung nicht an sich heran zu lassen, sich dagegen einen unsichtbaren Schutzmantel anzuziehen, doch schon bald fand er diesen zersetzt und aufgelöst.

Er fühlte sich wie ein Tier, reduziert auf die Sinne, die nützlich sein konnten, um eine solche Nacht zu durchlaufen und sein Ziel zu finden. Ein Ziel, das nicht gegenständlich, nichts Räumliches, kein Ort sein würde, sondern ... ein Zustand. Ein Zustand, der ihm Kommunikation ermöglichen würde. Einer, der ihn zu jemandem machte, der geortet, gefunden werden konnte.

Valerio hatte ihn am Getränkeautomat aufgespürt. Es war ihm offenbar möglich gewesen, ihn abzupassen. Und vielleicht hatte er ihn ja auch bereits an jenem Abend gefunden, wenn man so sagen konnte – auf der Brücke, in der Abenddämmerung. In der langen Gasse hatte er diesen geistigen Kontakt, diesen eigenartigen inneren Austausch mit ihm vollzogen. Er war sich sicher, dass es nicht nur sein persönliches Empfinden gewesen war, ein Eindruck, der täuschte, eine alberne Vorstellung, sondern dass Valerio es gezielt und mit Willen tat.

Er tat diese Dinge, wann immer er wollte. Was seine Motivation sein könnte, was ihn dazu bewegen mochte, so etwas zu wollen - dazu fiel ihm buchstäblich nichts ein. Das war nicht seine Welt, nicht sein System. Überhaupt war ihm das Wesen, das er verkörperte, vollkommen fremd. Er hatte nur ein subjektives Gefühl, dass Valerio sich – aus welchem Grund auch immer – mit ihm beschäftigte. So wie er selbst sich mit ihm beschäftigte. Und dies war der einzige Punkt, an dem er anknüpfen konnte: Sie hatten diese Verbindung, aus welchem Grund und auf welcher Basis auch immer.

Valerio hatte angeboten Antworten zu geben. Hier war er also, unterwegs mit seinen Fragen, mit Kleidung für einen oder zwei Tage, einer erbärmlich kleinen Menge Trinkwasser und etwas Geld. Und mit einem Kalender mit diffusem Gekritzel darin als Gedankenstütze. Um nicht seine wesentlichen Fragen zu vergessen, sollte er sie tatsächlich stellen können.

Gut, dass niemand wusste, was er hier unternahm, das ihn niemand so sehen konnte! Es war so lächerlich! Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich auf die Suche nach Drachen oder anderen mythischen Wesen machte – oder hoffte Batman zu begegnen, wenn er nur mutig und inspiriert genug durch die Dunkelheit schritt! Er überquerte eine schmale Brücke und tauchte ohne Zögern in die nächste Gasse ein. Leise lachte er auf. Ja, Batman wird mich finden, dachte er. Bestimmt! Er schüttelte über sich selbst den Kopf. In seinen Gedanken zeichnete er comicartige Bilder vom Held der Geschichte, wie dieser mit seiner eckigen Musterkatalogtasche, einer Unterhose, einem Paar Socken und einem magischen Ring bewaffnet, durch die Katakomben von Venedig stapfte, um die Welt zu retten. Seine Welt.

Etwas in ihm stoppte die Selbstironie, die doch nur dazu dienen sollte, ihm die mulmige Angst zu nehmen vor dem, worauf er sich hier einließ. Oh ja, er war sich dieser kleinen, hartnäckigen Ecke des Zweifels in seinen Gedanken bewusst! Er hatte gesehen, gehört, gespürt, wozu Valerio fähig war, er hatte es erfahren. Er hatte Erlebnisse, Wissen, Erinnerungen, Träume - aber auch weitaus weniger Interpretierbares, wesentlich Materielleres als das ... er hatte Röntgenbilder! Knochenbrüche! Und einen Arzt, der, wenn auch mit unsicherem Spott, von einem Wunder gesprochen hatte! Er hatte einen Ring. So leicht konnte er das alles nicht abtun. Es wäre unvernünftig, unlogisch, diese Fakten zu ignorieren. Es gab etwas an dieser Sache, das erschreckende, wenn auch rätselhafte Realität war.

Was also wohl weitaus mehr der Faktenlage entsprach: Er war ein lebendiger Köder, der sich blind, unwissend und schutzlos in die Nacht begab, um etwas anzulocken, dessen Wesen und Absicht seine menschliche Erfahrung und Fantasie überstieg.

Ob das gefährlich war? Eigenartig, dass er darüber erst jetzt nachdachte. Schnell wischte er diesen Punkt wieder von seiner inneren Tafel. Nein! Er war nicht feige. Und er ließ sich nicht einschüchtern, so nicht! Er hatte jede Berechtigung und jeden Grund, ihn zu suchen, ihm Fragen zu stellen. Dies konnte nur zu mehr Klarheit führen, es war wichtig.

Und noch war es ja nicht so weit. Irgendwie hatte sich in seinem Kopf eine Idee festgesetzt: Um ihm wieder zu begegnen, müsse er erst in eine bestimmte Gegend hinein finden, einen unsichtbaren Kreis beschreiten, sich in eine bestimmte Position innerhalb dieser Stadt bringen. Vielleicht irrte er sich, vielleicht dachte er hier zu männlich, dies war kein Strategiespiel. Aber der Gedanke erschien ihm zumindest nicht unlogisch.

Längst war ihm bewusst, dass in ihm nun Alltagslogik und technisches Denken einen Kampf ausfochten mit diesen... völlig anderen Ebenen und den Bedingungen, unter denen alles womöglich funktionierte. Aber was sollte er tun! Er konnte nun nicht spontan sein strategisch denkendes Gehirn gegen einen intuitiven Sensor und esoterische Flügel eintauschen. Okay - hier schien es um etwas zu gehen, das am ehesten vergleichbar war mit ... Spuk. Etwas Paranormalem, sozusagen. Er war derartige Gedankengänge nicht gewohnt, er hatte keine Übung darin.

Lena hätte hier keine Schwierigkeiten gehabt. Dabei war sie immer sehr intelligent und rational gewesen! Im Alltag hatte sie das stets bewiesen, sie war keine naive und weltfremde Spinnerin. Aber sie hatte schon immer auch diese andere Seite beherrscht, „Freestyle" hatte er es genannt aus Mangel an passenderen Begriffen. Oh, wie heftig hatten sie da manchmal diskutiert! Sich quer durchs Nichts denken, durch rationale Wände gehen, gedankliche Überflüge vollbringen – statt von bewährter Logik geprägte Trampelpfade abzulaufen, wie die moderne Gesellschaft sie den Menschen von Kindheit auf beibrachte. Und zu Recht! Aber Lena hatte das immer kritisiert. Ihr Sohn sollte ein Freidenker sein dürfen, das war eines ihrer Ziele gewesen.

Immer hatte er bezweifelt, ob diese Fähigkeit zur Einnahme anderer, ungewöhnlicher Perspektiven in der modernen Welt wirklich vonnöten war, ob sie überhaupt einem sinnvollen Zweck dienen konnte. Es gab schließlich nichts „Übernatürliches", jedenfalls nicht außerhalb kreativer und verspielter Köpfe, die daran Gefallen fanden, sich solche Dinge in ihrer eigenen Welt vorzustellen! Ja, bis vor Tagen hatte es das nicht gegeben. Nicht in seiner Welt. Aber hier und jetzt ... er hätte Lena in diesem Moment gern an seiner Seite gehabt, sie hätte gewusst, was zu tun war. Oder zumindest wären ihr die Ideen nicht ausgegangen. Und der Mut ganz sicher auch nicht.

Er war auf sich gestellt und musste mit dem Vorlieb nehmen, was ihm hier zur Verfügung stand. Falls es also auch um eine bestimmte Gegend ging, falls er in Valerios Radius gelangen musste, versuchte er diesem nun erst einmal so nahe wie möglich zu kommen, während er die Zeit nutzte, sich allem Weiteren, das kommen mochte und wollte, zugleich so weit wie möglich zu öffnen. Wie man sowas tat? Abgesehen von einigen sehr albernen esoterischen Klischees hatte er keine Vorstellung von einer solchen „Öffnung".

Er musste es irgendwie ausprobieren, was sonst. Schon vor seinem Aufbruch hatte er gewusst, dass dies letztlich nicht viel mehr als ein schlecht organisiertes, unausgegorenes Experiment werden würde, dazu eines, das wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt sein und ihn am nächsten Morgen müde und deprimiert wieder ans Hotel zurück führen würde.

Vielleicht brach er es frühzeitig ab, er entschied sich, diese Option offen zu lassen. Aber noch gab er sich ein wenig Zeit, er hatte erst begonnen. Außerdem, fiel ihm bedauernd ein, schloss das Hotel gleich und er würde zwischen Mitternacht und sechs Uhr am Morgen doch gar nicht mehr hinein kommen. Er hatte also Zeit genug und konnte diese getrost für sein Experiment nutzen. Tief atmete er durch und öffnete die Hände, die er während seiner Grübeleien zu Fäusten geballt hatte. Was will ich hier festhalten, woran klammere ich mich, fragte er sich. Das sind doch nur geistige Dinge, nichts Reales, ich muss mich nirgends festhalten. Ich kann loslassen. Nichts wird passieren. Gar nichts. Diesmal nicht.

Unermüdlich lief er weiter. Er ließ sich nun immer öfter von seiner Intuition, einem ersten Impuls leiten, wenn er vor einer neuen Abzweigung, einem Gang, einer Brücke stand und seine Entscheidung treffen musste. Er versetzte sich in die Stimmung, die ihn begleitet hatte, als er das Hotel vor sechs Tagen zu seinem Abendspaziergang verlassen hatte. Es war nicht zu vermeiden, dass er dabei an Giulia dachte. Er wollte nachfühlen, wie sehr er gelitten hatte, wie nahe alles an diesem Abend gewesen und wie blind er durch die Stadt gestolpert war. Welche Wege er benutzt hatte, wann und wo er nach hier oder dort abgebogen war, von welchen Szenerien, welchen Ansichten der Stadt er sich spontan angezogen gefühlt hatte, das musste irgendwo in den Kellern seines Gedächtnisses abgelegt sein. Er hatte sich treiben lassen an diesem Abend ... In den letzten Minuten hatte er zumindest ein sicheres Gespür dafür entwickelt, wo er nicht abgebogen war, wo er keine Brücke überquert hatte oder nicht vorbei gekommen war. Das wahrzunehmen erschien ihm leichter. Es war wie mit der Karte am Nachmittag: Da hatte er versucht Gebiete auszuschließen, ebenfalls, weil es ihm einfacher und sicherer vorgekommen war.

Er war hier nun gute zwei Stunden später unterwegs als an jenem Abend - zwei entscheidende Stunden waren es, denn sie zeigten ihm den Unterschied zwischen Abend und Nacht. Der Sonnenuntergang, der ihm beim ersten Mal noch geleuchtet und ihn danach noch mit einer grauen Dämmerung beschenkt hatte, hatte zu dieser Uhrzeit nicht die winzigste Spur am Himmel zurück gelassen. So war Licht also etwas, das nun am meisten fehlte.

Heftiger Ärger wegen der vergessenen Taschenlampe kroch ihm den Hals hinauf, als er bemerkte, dass er jede geringste Sicht hoffnungslos aufgeben musste, wenn der Mond sich einmal wieder zwischen den Wolken verkroch. Der Lichtkegel einer Lampe verfälschte die Ansicht der Ecken, an denen er vorbei kam, ganz sicher sehr ungünstig – aber gar nichts mehr sehen zu können, zumindest nicht in den engeren Gassen und Durchgängen, bewirkte, dass er diese mied und sich besser auf den einigermaßen begehbaren Strecken hielt. Und das wiederum bestimmte natürlich auch seine Marschrichtung ganz anders, als es bei mehr und besserem Licht der Fall gewesen wäre.

Tatsächlich erinnerte er sich nun aber an Details, die er bereits vergessen hatte. Diese nützten ihm allerdings nichts, denn es waren Händler mit ihren Eiskarren und Souvenirs gewesen, die heute und zu dieser späten Stunde aber natürlich nicht mehr an den Hauswänden und Brücken standen. Dies allein ließ die Ecken und Gassen bereits vollkommen anders wirken, als er sie in Erinnerung hatte – so anders, dass er nicht genau hätte sagen können, ob er sich nun, eine geschätzte dreiviertel Stunde, nachdem er das Hotel verlassen hatte, überhaupt noch ungefähr auf der Strecke befand, die er an jenem Abend gelaufen war. Vielleicht stimmte schon jetzt nicht einmal mehr die grobe Richtung.


Es dauerte nicht lange, und er fand sich nicht mehr zurecht. Ein Kompass und eine Taschenlampe wären die zwei Dinge gewesen, die er wirklich gebraucht hätte. Wie dumm war er doch, einfach so loszulaufen! Er war über die Jahre so oft in Venedig gewesen, aber das bedeutete keinesfalls, dass er sich in den verwinkelten und verborgenen Ecken der Stadt blind zurecht fand. Er hatte mit wohlhabenden Kunden zu tun, sie besaßen Häuser im Zentrum der Stadt, in San Marco, San Polo, oben im jüdischen Viertel von Canareggio oder am Canal Grande. Dorsoduro und Santa Croce waren reine Wohngebiete, Stadtteile, in denen er sich niemals orientieren musste.

Das Hotel Fortuna in Dorsoduro hatte er gewählt, weil Giulia ein kleines, familiär geführtes Hotel abseits von Touristenrummel und Attraktionen vorzog. Es war nicht das erste Mal, dass sie in dieser Ecke von Dorsoduro, nicht weit vom Canal Grande entfernt, untergekommen waren. Auch dieses Hotel kannten sie noch von einem anderen Aufenthalt, es musste ungefähr acht Jahre her gewesen sein. Aber damals hatte es einen anderen Besitzer gehabt. Angelo musste es danach übernommen haben. Sie hatten hier und da kleine Spaziergänge zu den umliegenden Plätzen unternommen, hatten sich dabei aber stets Richtung Canal Grande oder Lagunenufer orientiert und waren niemals in das Labyrinth zwischen Dorsoduro und Santa Croce hinein gelaufen. Er kam zu dem Schluss, dass er bei seinem Abendspaziergang ganz sicher instinktiv die Orte gemieden hatte, an denen er gern mit Giulia gewesen war - ansonsten hätte es ihn an diesem Abend sicher viel eher zum Wasser gezogen, als dass er Lust gehabt hätte, sich ausgerechnet in den engen Gassen der Wohnviertel zu verirren.

Während er mechanisch weiter und weiter ging, war es still in ihm geworden. Eine kurze Weile hatte er seine tiefe Nachdenklichkeit für eine Angleichung an die nächtliche Stille gehalten, dann verbarg sich ihm sein Elend nicht mehr, seine Gnadenzeit war beendet. Giulia ... Der aufgestaute Schmerz und die Hilflosigkeit übermannten ihn urplötzlich. Er lief noch einige Schritte, blieb dann tränenblind stehen und hob die Hände vor das Gesicht. Der Aufprall war hart, sein Schutzwall, notdürftig zusammen geschustert aus Abstraktion und Verdrängung, brach in einem Stück rings um ihn weg  -und über ihm kollabierte die Welle der Verzweiflung, die sich seit Tagen in seinem Rücken zu gigantischer Höhe aufgetürmt hatte. Hier in der Dunkelheit überfiel es ihn nun, erwischte ihn dort, wo er allein und schutzlos, ohne Ablenkung, ohne Licht und Halt war.

Es hatte so kommen müssen. Womöglich war alles, was ihm geschah, alles, was er unternahm - auch dies hier wieder – seinem irritierten und absolut desolaten Zustand zuzuschreiben. Hatte es etwa mit Giulia zu tun, dass er hier durch die Dunkelheit lief, anstatt gemütlich in seinem Hotelzimmer zu liegen und sich einen Film anzusehen? Suchte er die Einsamkeit, das Extreme, isolierte er sich, um seinen Zusammenbruch auszulösen? Weil die Welle, die ihn bedrohte, unerträglich geworden war und er wollte, dass sie endlich über ihn hinweg rollte und ihn dann in Ruhe ließ?

Er wischte sich die Tränen weg, aber es kamen mehr, der Damm war gebrochen. Er nahm den Ärmel seines T-Shirts, es sah ja niemand, rieb sich die nassen Hände an den Hosenbeinen ab. Energisch und mit einer Wut im Bauch, die sich schnell steigerte und die vor allem leichter zu handhaben war als dieses verzweifelte Gefühl der Hilflosigkeit und des Verlassenseins, schritt er vorwärts und drang in eine Gasse vor, ohne sich der Richtung noch bewusst zu sein. Er hatte sich längst furchtbar verlaufen und würde sowieso jetzt nicht noch zum Hotel zurück finden können. Er musste hier draußen bleiben, bis die Sonne aufging. Dann erst würde er sich orientieren können oder Gelegenheit haben, jemanden nach dem Weg zu fragen. Und wenn er hier draußen allein und im Dunkeln weinte und dabei endlos durch diese unwirkliche Welt lief, die auf irritierende Weise seiner inneren glich, dann war dies besser, als zwischen den engen Wänden seines Zimmers auf und ab laufen zu müssen. Oder in einem Bett zu liegen, dessen andere Hälfte kalt und leer blieb.

Wenn es letztlich allein das sein sollte, was ihm die Nacht und die Stunden füllte, so kam er doch hoffentlich dadurch mit sich selbst nun ein gutes Stück weiter, ermutigte er sich und blieb einige Schritte später an einer Hauswand stehen, die geballte Faust dagegen drückend, und dann auch die Stirn. Die Mauer gab weder Halt, noch rührte sie sein Schmerz.

Wie dumm und naiv war er gewesen, wie kurzsichtig! Sie hatte ihn so gebeten, so oft nach einer Erklärung verlangt, ihn ermutigt, sich seinen blinden Flecken zu widmen, bevor es zu spät sein würde. Und er war ausgewichen, jedes einzelne Mal, hatte sich den entscheidenden Themen nie gestellt! All die Jahre hatte sie gewartet, ihm Gelegenheit gegeben, sich hier zu entwickeln, hatte Geduld mit ihm bewiesen, aber er hatte nichts Besseres zu tun gehabt als seinen Problemen auszuweichen. Er hatte ihre Lebenszeit, ihre Energie und Zuversicht verbraucht, er hatte sie hingehalten bis zum Sankt Nimmerleinstag. Er war so blind und so bequem gewesen und er schämte sich dafür.

Seine Nase lief. Er suchte noch einmal nach Taschentüchern, von denen er bereits wusste, dass er sie nicht mitgenommen hatte. Der Ring fiel ihm ein und er nahm ihn mit nassen, ungeschickten Händen aus der Hosentasche, wickelte ihn aus dem Taschentuch und steckte ihn zurück, diesmal in die Brusttasche seines T-Shirts. Über dem Herzen ... Nur einen Augenblick dauerte dieser Gedanke, er war nur ein Funke, der beinahe sofort verglühte. Wie ein zweiter, einzelner Ton der Harfe in seinem Innern schlug er an, hallte einen Moment lang durch leere Räume und verschwand.

Er putze sich die Nase und wandte sich dem Ausgang der dunklen Gasse zu. Dort hinten schien es ein wenig heller zu werden. Der Mond beleuchtete etwas, das ein Platz sein konnte, der erste, der ihm auf seiner Wanderung begegnete ... und richtig: Als er aus dem schmalen Gang hinaus blinzelte, blendete ihn das Licht eines unglaublichen Mondes. Er schien von der anderen Seite her über die kleine, gepflasterte Fläche direkt zu ihm herüber. Am anderen Ende des Platzes gab es eine breite, flache Treppe aus hellem Stein. Im flirrenden Licht erschien sie, als würde sie sich im Nebel auflösen.

Gegen das gleißende Mondlicht stand am oberen Rand der Stufen eine Gestalt. Die breiten Schultern, die welligen Haare, die schlanke, hohe Silhouette, die Haltung erkannte er, noch ehe Valerios Stimme dicht hinter seinem Kopf zu sprechen begann:

"Chi pecora si fa, il lupo... se la mangia. Du beweist Mut ...

... Magnus Weber."

Ende Teil 29

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