(9/6) Die Mönche

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Die braunen Kutten waren schon von weitem zu erkennen. Dunkel hoben sie sich von den sandfarbigen Bauten der Häuser ab, die hinter ihnen wie Pilze den Berg hinauf wuchsen, bevor sie sich in ferner, dunstiger Höhe ganz verloren. Elf Mönche zählte Valerio, dazu einen Wagen mit einem Pferd davor, als die kleine Prozession über die abschüssige Straße heran kam. Sie gingen jeweils zu zweien nebeneinander. Das kleine Pferd, das den Wagen zog, trottete an der Spitze dahin, es wurde von einem der Mönche geführt. Auf der anderen Seite lief Schwester Sandrina neben dem einfachen Gefährt her. Als sie Anna und Valerio unter dem Torbogen erkannte, hob sie winkend die Hand.

"Bei allem, was meine alten Augen mich von hier aus erkennen lassen... unsere Sandrina sieht nicht glücklich aus", sprach Anna gegen Valerios Schulter. Die alte Heilerin kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit der Hand gegen das grelle Licht des Himmels ab, als sie den Blick wieder der Straße zuwandte.

Valerio zuckte zusammen. Seit ihrer Auseinandersetzung hatten sie nur die nötigsten Worte miteinander gewechselt. Den Weg bis zum Westtor des Klostergeländes waren sie schweigend nebeneinander her gelaufen. Evelina sollte aufpassen, dass die Bündel mit den Tüchern nicht hinten, wo der Karren offen war, herunter fielen. Da sie nun anhielten, um auf die Mönche zu warten, kam das Mädchen hinter den Körben und geschnürten Ballen hervor und stellte sich an seine freie Seite.

Prüfend sah er auf ihr Gesicht hinunter. Sie hatte sich ein wenig erholt, aber sie war immer noch sehr blass. Offenbar fühlte sie sich bei ihm sicher. Auch beim Bepacken der Karre vor der Krankenstube hatte sie bereits seine Nähe gesucht. Noch immer kaute sie auf dem Stück getrockneter Baldrianwurzel herum, das er ihr vor ihrem Aufbruch zugesteckt hatte. Das war sicher kein Mittel, das sie in den nächsten Tagen vor den Bildern und Eindrücken schützen konnte, unter denen sie leiden würde, aber es beruhigte sie zumindest in diesem Moment. Valerio hatte den Verdacht, er hätte dem Mädchen auch ein Stück Apfel oder eine Nuss gegen den Schock geben können, sie hätte ihm geglaubt, dass es ihr helfen würde. Es kam von ihm, und dies war das Wirksame daran.

Er wollte darüber lächeln, dass Evelina so brav die Wurzel kaute, obwohl sie immer noch ab und zu das Gesicht über den ungewöhnlichen Geschmack verzog - aber ein Blick auf seine linke Seite hinüber, wo Anna stand, und er geriet ins Grübeln. Bedeutete die Anmerkung der Heilerin und die vertrauliche Nähe, in die sie sich nun erstmals nach ihrem Streit zu ihm stellte, eine Art Friedensangebot? Wie sollte er reagieren? Er wollte nicht stur erscheinen, gerade auch deshalb nicht, weil sie ihm seinen Dickkopf in ihrem Streit vorgeworfen hatte... Stur und dumm sei er, hatte sie gesagt. Es hatte ihn mehr verletzt als er zugeben wollte. Auf dem Weg hier herauf hatten ihre Vorwürfe ihn sehr bekümmert.

Um wenigstens irgendetwas zu sagen und seine alte Lehrmeisterin nicht ohne eine Reaktion stehen zu lassen, murmelte er schließlich: "Ja ... Sie sieht nicht zufrieden aus. Sie haben lange gebraucht."

Anna verzog keine Miene. Nichts verriet ihm, ob sie seine bestätigenden Worte zur Kenntnis genommen hatte - oder ob sie womöglich sogar die tiefere Botschaft dahinter wahrnahm: Dass er ihrer Vergebung bedurfte. Für seine Sturheit, wie sie es genannt hatte - die er aber doch gegen ihre Argumente brauchte, um tun zu können, was sein Herz ihm sagte. Aus dem Augenwinkel warf er einen zweiten Blick auf das kleine runzelige Gesicht hinab, das unter dem schwarzen Schleier steckte. Sie schien alle Aufmerksamkeit auf die nahenden Mönche zu richten. Er wusste nicht, wie er sich ihr verständlicher machen könnte.

In den Jahren, die sie einander nun kannten, hatte es niemals ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen Anna und ihm gegeben. Sicher war das auch ihrer Weisheit, ihrem Humor und ihrer diplomatischen Art zu verdanken, die sie gegenüber jungen Leuten zeigte. Er selbst war inmitten seiner Entwicklung gewesen... und ja, er hatte es ihr sicher nicht immer leicht gemacht. Aber schließlich war er erwachsen geworden. Er musste eigene Standpunkte finden, zu eigenen Urteilen und Handlungen kommen. Er musste lernen sich selbst zu vertreten, seine Sichtweise, seine Entscheidungen. Diese neuen Umstände belasteten sie alle, solche Situationen forderten immer zu einer klaren Stellungnahme heraus. Er selbst war davon nicht ausgenommen.

Er konnte sich hier doch jetzt nicht hinter den Anderen verstecken, selbst tatenlos im Hintergrund bleiben und alle Verantwortung zurückweisen! Was sie hier erlebten, brachte nun verschiedene Haltungen zutage, die natürlich Konflikte herauf beschworen... Aber was dachte Anna nun von ihm? Was dachte er selbst über sich?
Ein anhaltendes Grollen drang zu ihnen herüber, und er wandte das Gesicht von den herannahenden Mönchen weg und zu den grauen Wolken hinauf, die sich über der Ebene sammelten.

Er hatte Angst. Angst vor dem, was ihn erwartete. Unter seiner Handfläche spürte er die kleinen Flaschen durch das wollene Gewebe der Tasche hindurch. Die Wahrheit war: Er trug sie für Caterina bei sich. Er hatte keine Ahnung, in welchem Zustand er sie finden würde. Und er konnte schlecht hoffen, sie tot vorzufinden, nur damit er nicht derjenige sein musste, der für sie eine so schwerwiegende Entscheidung traf oder sie leiden sah. Es gab nur eine Möglichkeit: Es musste ihr gut gehen.

Aber der Glaube an ihre Unversehrtheit war spätestens nach der Auseinandersetzung mit Anna kaum noch aufrecht zu erhalten! Diese mutige kleine Heilerin, seine Lehrerin, die sein Herz und seinen Respekt besaß und die mit ihrem unerschütterlichen Optimismus stets das Unmögliche möglich machen konnte, hatte das Schicksal der Novizinnen vollständig in Gottes Hände gelegt. Er wollte das nicht verstehen. Er konnte es nicht! Es bedeutete den Gedanken zu begraben, er könnte selbst irgend etwas für Caterina oder die anderen tun. Annas Resignation, ihre Ablehnung jeder eigenen Idee und Handlung - auch dessen, was er selbst tun wollte... Das war der Moment gewesen, in dem er sich mit dem Schlafmohnsaft bewaffnet hatte. Eine furchtbare Waffe gegen Gottes letztes Wort und dagegen, dass er auf diesem bestand. Ein Mittel gegen das Entsetzen des Ausgeliefert-Seins, gegen die völlige Hilflosigkeit.

Valerio schluckte. Wie sehr brannte in ihm der Wunsch,  ihr am Ende zwei ungenutzte und vollständig gefüllte Flaschen zurück geben zu können. Wie gut wäre das für alle - für die Novizinnen, für Maria, für sein Verhältnis zu Anna. Und für ihn selbst. Sein Leben wäre niemals wieder dasselbe... Er wäre niemals mehr derselbe nach einer solchen Tat. Und plötzlich verstand er seine alte Lehrmeisterin, die immer schon mehr für ihn gewesen war als nur Vermittlerin praktischer Dinge: Sie verlangte nicht wirklich, dass er ihren Gott anerkannte. Sie wollte aus Liebe zu ihm nicht, dass er durch solche Entscheidungen ging und die Folgen lebenslang auf seine Seele nahm. Sie wusste von solchen Geschichten und wie sie endeten.

Aber sie hatte ihm nicht zugehört! Er warf einen weiteren Blick neben sich, schaute auf Anna herunter. Aus dem Gesicht der Heilerin war aber nichts abzulesen, denn noch immer schirmte sie ihre Augen mit der Hand gegen das grelle Licht ab.

Oh, wie stur konnte sie sein! In  Momenten wie diesem erschien sie ihm trotz der vielen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, sehr fremdartig... Und doch vertraute er ihr mehr als vielen anderen hier. Sie war manchmal unberechenbar, ja - aber er liebte sie wie eine Großmutter! Und diese Tatsache bewirkte, dass ihr Streit ihn so sehr mitnahm.

Anna war vor langer Zeit aus Schottland nach Italien gekommen, es war einige Jahre her, dass sie es ihm erzählt hatte... Valerio wusste nicht viel von den Umständen. Aber an der Art, wie sie sich der jungen Leute, ihrer Sorgen und Schwierigkeiten annahm, an ihrem wissenden Blick, wenn sie zuhörte - und daran, wie sehr sie sich bemühte, ihre Schützlinge stark und robust zu machen und sie zugleich vor Verletzung zu schützen - meinte Valerio ablesen zu können, was sie selbst durchgemacht und erlebt haben musste. Er hatte gesehen, wie sie im Kräutergarten mit ihrer humorvollen, aber bestimmten Reaktion auf Caterinas offenen Protest das Mädchen zurechtgewiesen und sie zugleich unter ihren großmütterlichen Flügel genommen hatte: Schützend und leitend, so wie sie Valerio vor Jahren aufgenommen hatte... als er ein unsicherer und unglücklicher Welpe gewesen war, der Liebe, Anerkennung und Orientierung suchte.

'Erfahrungen sind nichts, was man immer bis in jede bittere Konsequenz selbst durchleben muss, um klug und weise zu werden', hatte sie öfters zu ihm gesagt. Bisher hatte er nie ganz verstanden, wie er das auf sich beziehen sollte. 'Hört euch an, was die Alten euch zu sagen haben', das waren stets ihre Worte gewesen. 'Wägt es in euren Herzen, verwerft es niemals leichtfertig. Wenn es euch jetzt fremd erscheint, bewahrt es in euren Hinterköpfen auf. Der Wert und die Bedeutung älterer Erkenntnisse zeigen sich euch zumeist nicht, wenn ihr jung seid, sondern viel später.'..

Tief in seine Gedanken versunken hatte Valerio gar nicht bemerkt, wie schnell sie heran gekommen waren. Erst als er seine Augen von den Wolken weg und wieder der Straße zuwandte, hörte er das Knarren der Wagenräder und die Mönche, die zu beten schienen. Der Franziskaner, der das Pferd führte, gab ein Handzeichen und stoppte den Wagen. Das Gemurmel erstarb. Anna ging die wenigen Schritte zu Sandrina hinüber und umarmte sie. "Ihr seid da, Gott sei Dank", sagte sie halblaut, und Sandrina lächelte knapp. Anna warf ihr einen fragenden Blick zu, drückte aber nur kurz die Hände der jüngeren Schwester. Dann neigte sie den Kopf in Richtung des Mönchs.

"Gott segne Euch, Bruder Colombano! Habt Dank für Euer Kommen! Bitte verzeiht die eilige und formlose Begrüßung. Die Äbtissin ist beschäftigt aufgrund der Lage. Wir bringen gerade Tücher und Medizin zur Unglücksstelle. Dort könnt Ihr Euch erfrischen, es gibt einen Brunnen auf dem Gelände."

Der Prior nickte und lächelte. "Ich danke Euch, Schwester Anna. Die Umstände unseres Wiedersehens sind nicht gerade erfreulich. Und es tut uns aufrichtig leid, dass wir so spät kommen. Umso mehr hoffe ich aber, dass niemand inzwischen größeren Schaden erlitten hat?"

Die Heilerin ignorierte die Frage. "Wir brauchen dringend Euren Baumeister, Bruder Colombano. Das Problem ist komplizierter." Sie reckte den Kopf und besah die Reihe der Mönche. "Habt ihr ihn mitgebracht? Wo ist er?"

"Oh, ich bedaure, Schwester, er ist..."

"Er ist hier", unterbrach eine weitere Stimme den Satz des Priors. "Der Baumeister ist, sagen wir... nicht in dem Zustand, den der Herrgott für ihn vorgesehen hat. Er ist betrunken."

Den großen und schlanken Mönch, der hinter dem Wagen hervor kam, schätzte Valerio auf ungefähr fünfundzwanzig Jahre. Er zeigte durch die Verstrebungen des Gefährts hindurch auf die mit Tüchern bedeckte Fracht. Neugierig trat Valerio neben Anna, und nun sahen es beide: Auf dem Gepäck lag schlafend eine Gestalt mit wildem Stoppelbart und verdrecktem Gesicht.

Der Mönch neigte den Kopf. "Ich bin Bruder Clemente." Als er die Augen wieder hob, blickte er an Valerio vorbei. Etwas, das sich hinter dessen Rücken befand, schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Valerio warf einen Blick über die Schulter zurück, doch da war nur der Karren - und Evelina, die sich unsicher an das raue Holz drückte und auf ihre Finger sah.

"Bruder Clemente ist unser Sakretan", stellte Colombano seinen Mitbruder vor. "Er hat freundlich angeboten uns zu begleiten. Nachdem er half, diesen Halunken hier auf den Wagen zu laden." Er wies hinter sich und schüttelte den Kopf. "Wir fanden ihn nach einigem Suchen schlafend im Olivenhain. Wir sind nicht glücklich mit ihm, er zeigt sich kaum zuverlässig. Die Arbeiten an der Kapelle leisten seine Gesellen oft ohne ihn. Aber nun, da wir ihn hier dringend brauchen, werden wir sehen, dass wir ihn mit Gottes Hilfe und einem Eimer kaltem Wasser in einen akzeptableren Zustand bringen." Der Prior warf einen Blick zu den Wolken hinauf, die sich über der Stadt aufzutürmen begannen. "Aber lasst uns besser keine Zeit mehr verlieren. Wer weiß, wie lange es braucht, ihn munter zu bekommen."

Valerio war nicht entgangen, wie Clemente Evelina angesehen hatte. Als alle aufbrachen und der Mönch anbot, Anna mit dem Karren zu helfen, stellte Valerio sich ihm entgegen. "Unsere Heilerin hat bereits Hilfe durch mich. Die Ladung ist nicht schwer. Und es sind nicht mehr als zwei Hölzer an der Achse, um den Karren zu ziehen."

"Nun, dann werde ich gern hinten mit anschieben."

Ihren Karren wollte er anschieben, dort, wo Evelina ging... Er hätte auch anbieten können, Anna abzulösen, die vorne zog, dachte Valerio. Clementes Lächeln erstarb in dem Moment, als dunkle Augen ihn scharf fixierten. Valerio schickte dem Mönch seinen intensivsten Blick. Er zwinkerte nicht einmal. Er wandte die Augen auch nicht von ihm ab, als er schließlich laut sagte: "Schwester Sandrina... Bist du so liebenswürdig und gehst mit Evelina zur Krankenstube zurück? Sie soll dort bleiben. Bitte achte auf sie bis zum Abend und beschäftigt euch, wir schicken euch weitere Schwestern. Gib Evelina einen Tee mit Schlangenwurz und Baldrian. Einen Becher jetzt sofort, einen zum Abend. Esst etwas dazu, bevor die anderen kommen. Ihr findet Brot, Äpfel und Quittenmus in der Kammer. Und dann baut ihr acht oder zehn Lager mehr auf, für die Verletzten. Evelina wird dir helfen."

Clementes Gesicht war unter Valerios scharfer Aufmerksamkeit erst rot, dann blass geworden. Valerio hielt den Blick des Mönchs immer noch fest. Schließlich nickte er dem völlig verunsicherten Mann zu. Er lächelte. Clemente konnte den Blick nicht mehr abwenden. Man sah ihm an, dass er hin und her gerissen war zwischen haltloser Faszination und Angst.

Valerio nutzte die Verwirrung, die er provoziert hatte. Als er nun leise zu ihm sprach, verlieh er seiner Stimme einen samtenen Mantel und senkte sie ein wenig ab.

"Wie schön, dass du deine Hilfe anbietest, Clemente. Deine Interessen und Handlungen hier scheinen sehr... vielseitig. Deinen Namen und dein Gesicht werde ich mir auf jeden Fall merken. Vielleicht möchte unsere Äbtissin dich später vor eurem Abt besonders hervorheben für deine... Taten." Clemente starrte auf die Augenbraue, die Valerios letzte Worte auf eine nur für sie beide verständliche Weise in die Nähe höchst pikanter Themen gestellt hatte.

Gefiel diesem schmierigen Kerl etwa, dass man so mit ihm spielte? Valerio schoss ihm alle Verachtung entgegen, zu der er fähig war. Dann ließ er ihn stehen und wandte sich an Anna. "Wir haben Unterstützung für unseren Karren." Er nickte mit dem Kinn zu dem Mönch hinüber. "Bruder Clemente hier möchte mit anpacken! Er ist kaum zu bremsen. Du kannst dich ausruhen, Heilerin. Wir Männer ziehen den Karren allein... Nicht wahr, Clemente?"

Der Donner, der in diesem Moment über den Himmel grollte, beeindruckte selbst Valerio. Beinahe hätte er gelächelt. Es wirkte, als wollte der Himmlische Vater den Mönch persönlich an seine allumfassende Präsenz erinnern. Über ihnen schoben sich die Wolken dichter zusammen und das Sonnenlicht verschwand. Valerio war nicht zum Lachen zumute.

Als sie zum abgestellten Wagen zurück kehrten, sah Evelina ihn flehend an. "Aber wieso muss ich denn zurück zur Krankenstube? Ich will bei euch bleiben! Bitte schick mich nicht weg! Mir geht es gut, wirklich!"

Valerio nahm das Mädchen beiseite und ging mit ihr einige Schritte. "Das glaube ich dir", beruhigte er sie. "Aber wir brauchen dich bei den Kranken. Hier kann gleich niemand mehr auf dich achten, Evelina! Die Arbeit an der Ruine ist gefährlich und wir werden jetzt alle Hände voll zu tun haben. So wie ihr in der Krankenstube, wenn wir..." Er brach den Satz ab. Dies war die letzte Gelegenheit, sie zu fragen, er hatte nur einige Sekunden, bevor sie aufbrachen.

"Du hattest mir doch erzählt, du seist irgendwo hinaus geklettert?"
Das Mädchen nickte. "Ja, aber die anderen..."

"Wo genau wart ihr, als es passierte?"

Ihre Augen wurden groß. "In... in der Schule."

"Bist du sicher? Wo genau?" Er war bemüht, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Er hatte Bilder im Kopf. Von der verwüsteten Rückseite des Schulgebäudes, den Trümmern, den weggestürzten Decken und Böden. "Wir haben keine Zeit mehr. Sag mir, wo genau wart ihr?"

Ihr Blick wirkte abwesend. Es schien, als habe sie nun, weil er sie fragte, alles wieder vor Augen. Er wollte sie nicht unter Druck setzen, aber er musste es wissen. Vielleicht gab ihre Antwort die entscheidende Idee zu einem Plan, zur Rettung. "Evelina? Kannst du es mir sagen?" fragte er noch einmal.

Endlich öffnete sie den Mund. "Unten...", sagte sie zögernd. Sie blinzelte. "Unten in dem Raum mit den alten Karten waren wir. Gleich hinter dem großen Schulraum. Maria wollte mit uns die Karten holen, auf denen die fremden Länder zu sehen sind. Ich glaube, sie sind alle tot." Sie sah ihn mit großen Augen an. Dann sagte sie plötzlich in festem Ton: "Du kannst das Loch nicht finden."

Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen wegsackte. "Warum nicht?"

"Weil es einer der Ausgänge war. Zum Säulengang hinaus. Der Ausgang war zusammen gebrochen, aber da war ein Loch, ganz unten, am Boden. Da kam Licht heraus. Ich habe mich durchgequetscht, auf dem Bauch. Ich dachte, ich würde steckenbleiben." Ihre Unterlippe zitterte. "Aber dann... aber dann ging es doch. Und dann ist hinter mir das Dach herunter gekommen und hat den Gang einstürzen lassen. Da bin ich gelaufen und... und habe mich nicht mehr umgedreht." Sie ließ den Kopf hängen und krallte ihre Finger ineinander, dass die Knöchel schneeweiß wurden. "Ich habe sie allein gelassen, alle", wisperte sie. "Bestimmt sind sie jetzt tot."

Valerio bemerkte erst jetzt, dass er die Luft angehalten hatte. Er legte einen Arm um ihre Schultern. "Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, Evelina", hörte er sich tonlos antworten. "Bis dahin glaube ich ganz fest, dass wir sie retten werden. Wenigstens einige von ihnen." Er rang um seine Beherrschung.

Evelina sah mit glänzenden Augen zu ihm auf. "Meinst du damit, ihr könnt sie rausholen?", fragte sie erstaunt. Valerio hörte die aufgeregte Hoffnung in ihrer Stimme. "Die kleine Scalea... glaubst du wirklich, du findest sie? Und Luisa? Und Maria auch? Die nette Gabriella... und Isotta, bestimmt kannst du sie auch retten! Sie haben sich gestern so lieb um mich gekümmert, weil ich Heimweh hatte... und die anderen alle? Kannst du sie rausholen?"

Ihre Worte versetzten ihm einen Stich. Wie gern hätte er auf ihre einfachen Fragen mit einem ebenso einfachen, klaren "Ja" geantwortet! Aber ein solches Versprechen musste enttäuscht werden! Wie sollte er ihr Zuversicht geben? Durfte er das tun? Konnte er hier ein "Ja" vorwegnehmen, wenn er noch nicht einmal wusste, wie ein Anfang zu schaffen war - bei dieser Aufgabe, die ein Zauberer nicht meistern konnte... geschweige denn einer wie er, der nur Schnupfen heilte und ein wenig Musik zustande brachte? Was sollte er diesem Mädchen sagen? Seine Hand umschloss ihre Schulter fester. Ihr Blick verlangte nach einer Antwort.

In ihrer Kindlichkeit war sie so viel zuversichtlicher und hoffnungsvoller als er! Valerio wusste nicht, ob er ihre Schulter hielt, um ihr irgendeinen Halt zu geben, oder ob er sich selbst nur an ihr festhielt. Der Widerstand in seinem Hals ließ ihn heiser klingen, als er sich zu ihr hinunter beugte und sagte: "Wir werden alles versuchen... Aber wir müssen uns jetzt beeilen. Es ist keine Zeit mehr. Ich möchte, dass du mit Sandrina gehst und auf alles hörst, was sie dir sagt." Er warf einen Blick zurück. Anna und Clemente hatten den Karren gewendet und waren voraus gegangen, während die Mönche ihnen mit ihrem Pferdewagen folgten.

Als er plötzlich Sandrinas Stimme hinter ihnen hörte, zuckte er zusammen. "Nun komm, Evelina", ermunterte die Schwester das Mädchen und kam zu ihnen heran. Sie hatte die Unterhaltung mitgehört und im Hintergrund still gewartet, um Evelina nicht abzulenken und die Befragung nicht zu stören. In dem Augenblick, als Sandrina sie zum Mitkommen aufforderte, umklammerte Evelina sofort Valerios Arm, als wollte sie sich an ihm festhalten.

Freundlich und bestimmt löste die Schwester Evelinas schmale Hand aus dem Ärmel seiner Tunika. "Na, komm mit mir. Lass ihn los, er wird jetzt woanders gebraucht. Und wir beide machen uns nun in der Krankenstube nützlich. Heute lernst du einige Dinge, die sonst nur die Schwestern tun dürfen. Das wird sicher interessant für dich - und heute Abend wirst du sehr stolz auf dich sein, dass du uns geholfen hast."

Der Blick, den Sandrina über Evelinas Kopf hinweg zu Valerio hinüber warf, war ernst und erschrocken. Er sah, dass sie gegen ihre Tränen ankämpfte. Sie hatte hier nun zum ersten Mal einen weiteren Eindruck von dem Ausmaß des Unglücks erhalten. Bis eben hatte sie nur von einem defekten Dach gewusst. Und dabei wusste sie auch jetzt noch längst nicht alles.

"Vergesst den Tee nicht", erinnerte Valerio sie knapp, während er den Blick abwandte, damit die Schwester nicht sah, dass es ihm ebenso ging wie ihr. "Schlangenwurz und Baldrian, zu gleichen Teilen. Jetzt gleich - und noch einmal frisch aufgebrüht am Abend." Er rückte den Riemen seiner Tasche über der Brust zurecht. In seinem Innern klaffte ein schmerzendes, dunkles Loch. "Tu ihr Honig hinein. Und lass sie nicht aus den Augen."

Die Nonne nickte, dann nahm sie Evelina energisch um die Schultern und zog das Mädchen mit sich fort. Valerio atmete auf. Er war froh, wieder mit sich allein zu sein - in seinem Zustand taugte er einfach nicht dazu, anderen Hoffnung zu machen.

Er drehte sich um und lief den Helfern hinterher. Er überholte die Reihe der Mönche und dann auch Bruder Colombano, der das Pferd zu schnellerem Tempo antrieb. Im Vorbeilaufen sah er, dass sie die meisten der großen Körbe auf den Wagen der Mönche umgeladen hatten. Der betrunkene Baumeister saß einigermaßen aufrecht, da er nun weniger Platz auf dem Wagen hatte. Aber er schien an die Verstrebungen gelehnt gleich wieder eingeschlafen zu sein. Als Valerio ihre Körbe neben dem Baumeister wiedererkannte, bedauerte er, dass Annas Karren nun so viel leichter zu ziehen war. Er hätte gerne gesehen, dass dieser Clemente ordentlich ins Schwitzen kam.

Valerio war erstaunt, wie schnell er den Handkarren eingeholt hatte, so sehr beschäftigte ihn die rauschende Flut seiner Gedanken. Anna schickte er nach hinten, damit sie sitzend mitfahren konnte. Dann übernahm er zusammen mit Clemente  das Ziehen des sperrigen Gefährts. Mit zusammen gebissenen Zähnen ignorierte er, dass der Mönch ihn immer wieder von der Seite anstarrte, wenn er glaubte, dass es niemand sah.

Ende Teil 71





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