II. B A N D - (9/1) Im Refektorium

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                                                                  B A N D   II

                         >>WAS IM INNERN NICHT KLINGT, WIRD DRAUSSEN
                                           IN DER WELT KEIN LIED WERDEN.<<


Der heiße Wind strich erbarmungslos über die Pilgerstadt. Er füllte alle Winkel, drang durch die Ritzen der Fensterläden hinein und unter jedem Türspalt hindurch. Am Abend des sechsten unerträglich heißen Tages gewitterte es schließlich vor der langgestreckten Bergkette auf der anderen Seite der Ebene. Sehnsüchtig und hoffend lauschten die Bewohner von Assisi dem Donnergrollen, das über das flache Land hallte. Die Nasen in die Luft gereckt wollten sie sich an dem Duft des Regens erfrischen - Aber keine der Regenwolken schaffte es über die dunstige Ebene hinweg und bis vor den Monte Subasio. Assisi blieb trocken und durstig, als eine weitere schwülwarme Nacht sich über den Berg senkte.

Am nächsten Tag flimmerte die Luft wieder vor Hitze. Die Pilger bewegten sich schleppend den Berg hinauf. Sie erklommen die Terrassen und Ebenen der Stadt,  trotteten langsam durch die Straßen. In der Kühle der Hauswände blieben sie stehen, ließen sich auf der Schattenseite der Brunnen nieder und füllten ihre Wasservorräte auf. Mönche des Franziskanerklosters gingen in kleinen Gruppen durch die Straßen - Sie verteilten Früchte und Brot oder sammelten Kranke und Verletzte ein, um ihnen klösterliche Pflege zukommen zu lassen, bevor sie nach Rom weiterzogen.

Eine betäubende Mittagshitze hatte sich über die Abtei der Schwestern gesenkt. Das unermüdliche Sägen und Zirpen der Grillen, das durch die halb geschlossenen hölzernen Läden nach innen drang, verstärkte die Müdigkeit nur noch mehr - war dieses durchdringende Geräusch doch seit jeher in der Erinnerung aller unlösbar mit der Erfahrung heißer Sommer verbunden. Die Nonnen waren froh, dass man sich jetzt, wo die Sonne ihre größte Kraft erreicht hatte, zumindest für die Zeit des Essens in den Schatten der Mauern zurück ziehen konnte. Im steinernen Gang kühlte sich die Luft ein wenig ab, sie strömte durch die offenen Flügeltüren des Refektoriums herein. Sie war ein Segen.

Drei lange Tische standen im Saal. Die meisten der Plätze blieben heute unbesetzt, denn ein Teil der Nonnen nahm das Mittagessen zusammen mit den Arbeitern und Konversschwestern auf den Feldern am Hang ein. Sie würden dort weiter arbeiten, wenn die Sonne am Nachmittag um den Berg herum wanderte und ihre gewaltige Hitzedecke auf das abschüssige Feld niedersenkte. Der Regen war überfällig, die Ernte musste bis zum Abend eingebracht werden. Erfahrungsgemäß entluden sich die sommerlichen Unwetter hier am Berg mit voller Gewalt. Das Gewitter in der Ebene war nur ein Vorbote dessen gewesen, was noch erwartet wurde, denn am Horizont ballten sich schon wieder neue Wolken zusammen.

Draußen war es nicht auszuhalten. Es schien, als wollte der heiße Wind die Steine und Dächer der alten Gebäude backen. Alle sehnten sich nach einer Abkühlung. Als Peppina anmerkte, man könne auf der Außenmauer sicher fünfzig Brote gleichzeitig gar bekommen, lachte niemand.

"Valerio! Spiel uns noch etwas Schönes", rief Filomena über die Länge des Tisches hinweg, während sie nach einem Stück Brot griff, um damit ihre Schüssel auszuwischen.

Donata sah von ihrer Suppe auf. "Ach Messnerin, nun lass doch den armen Jungen in Ruhe essen! Hinterher ist auch noch Zeit." Ihr von Natur aus griesgrämiges Gesicht verlieh ihrer Anmerkung mehr Tadel als beabsichtigt war. Aber die Nonnen kannten sie gut genug, Donata wollte Valerio nur ein wenig Ruhe vor den Wünschen der Anwesenden verschaffen. Ihr Gesichtsausdruck stammte wohl von einer harten Kindheit - sie hatte jedoch ein gutes Gemüt und war mit ihrer Zuverlässigkeit und Konsequenz ein geschätztes Mitglied der Gemeinschaft.

"Hinterher habe ich keine Zeit, Donata", erwiderte Filomena. "Da muss ich den Hymnus für die Vesper vorbereiten. Wer weiß, ob ich bei dieser Hitze den Nachmittag überlebe. Besser, er singt  jetzt noch einmal, als zu meiner Beerdigung."

Der Wortwechsel zwischen der Messnerin und der Verwalterin hatte die träge Stimmung im Refektorium wiederbelebt. Man gab Filomena lachend Recht. Nur Schwester Camilla saß still an ihrem Platz. Die Arme vor der hageren Brust verschränkt schaute sie ernsthaft und versonnen zu Valerio hinüber. Er saß einige Meter vom Tisch entfernt auf einem steinernen Vorsprung und begann nun ein weiteres Lied anzustimmen, das er selbst kreiert hatte. Seine Finger zupften und strichen über die Saiten, gefällige Töne perlten in dichten Akkorden über die Wände und bis in das alte Balkengerüst der hohen Decke hinauf. Belustigt hatte er zugehört, wie Filomena ihre Bitte um ein weiteres Lied verteidigte und Donata sich für ihn einsetzte. Seine Schüssel stand halbleer neben ihm, das Stück Brot darin war aufgeweicht. Bei diesem Wetter machte es ihm nichts aus, die Suppe kalt zu essen.

Er musste hier nicht mit Musik zur Unterhaltung beitragen, niemand erwartete das von ihm. Vor einiger Zeit hatte er selbst damit angefangen, zum Essen das eine oder andere Lied zu spielen. Seine Laute trug er sowieso immer bei sich, außerdem gefiel es ihm, mit dem, was er beisteuern konnte, auf so einfache Weise zu guter Stimmung beizutragen. Er genoss das Publikum im Kloster nicht zuletzt aber auch deshalb, weil die Nonnen dank Camilla in musikalischen und gesanglichen Dingen gut geschult waren und daher seine Kunst zu schätzen wussten - anders als mancher grobe Bauer, wenn er gegen Lohn auf Hochzeiten spielte. Die Wertschätzung, die ihm die Nonnen entgegen brachten, war ihm hundert Mal mehr wert als jeder Lohn in harter Münze, denn hier gab es Aufmerksamkeit, Genuss und Dank auf beiden Seiten. Die Bildung und Kultiviertheit der Schwestern schätzte er sehr.

Als er zu singen begann, schoss er ein verschwörerisches Zwinkern zu seiner Meisterin hinüber. Es war ihm nicht entgangen, dass Camilla ihn beobachtete. Ganz sicher verfolgte sie wieder einmal jeden seiner Töne. Gewohnheitsmäßig beobachtete sie kritisch die Haltung seiner Hände und achtete bei jeder einzelnen Note, die er sang, auf seinen Stimmsitz, einen sauberen Einsatz und die optimale Formung der Vokale. Und wie er in den langen Passagen mit seiner Atemtechnik zurecht kam.

Noch bevor er die erste Zeile seines Liedes beendet hatte, leuchtete in den Zügen der alten Nonne ein Erkennen auf. Die kranzförmig um die blassgrauen Augen angeordneten Linien vertieften sich, sie nickte unmerklich. Der ernste Ausdruck ihres Gesichts wurde milder. Zum Takt seiner getragenen Komposition begann sie sachte den Kopf hin und her zu wiegen. Er hatte ihrem geliebten "L' Eterna è la mia luce", dem siebenundzwanzigsten Psalm, eine eigene Melodie gegeben. Camillas Entzücken war offensichtlich. Sie lauschte still und ließ ihren talentierten Schüler nicht aus den Augen, während sich an den drei Tischen die Gespräche fortsetzten.

Unter Camillas Blick tat er, was er gelernt hatte. Nichts machte ihn glücklicher, als die ehrgeizige und feinfühlige Nonne zufrieden zu stellen. Wie sie es ihm in unzähligen Stunden beigebracht hatte, vermied er bei den tiefen Tönen das Senken des Kinns und richtete den Nacken auf. Er achtete darauf, die gebundenen Noten mit lockerem Unterkiefer zu singen, in den Höhen die Zunge unten zu lassen und die Zungenspitze nicht von innen gegen die untere Zahnreihe zu pressen, damit die Halsmuskulatur entspannt blieb und der Ton frei und ohne Druck schwingen konnte. Eine Stelle in der vierten Zeile machte ihm wegen der Höhe Sorgen, aber die Öffnung des hinteren Gaumens im richtigen Moment gelang. Der Ton stützte sich am voran gesungenen sicher ab und er transportierte ihn entspannt, locker und klar von diesem Punkt aus in die Höhe - er traf sein Ziel sauber und präzise, der Ton öffnete sich, entfaltete seine Brillianz und strahlte voll und schön durch den Raum.

Die unsichtbare Luftsäule, die Camilla ihn aufzubauen gelehrt hatte, trug den Klang so kräftig und sicher, dass er lange auslief und über ein gutes letztes Drittel der Strecke ein beachtliches Vibrato entwickelte - ein Zeichen, dass der Stimmsitz in diesem Moment perfekt war. Er wusste, dies war gelungen, und er genoss Camillas Blick, der vielsagend auf ihm ruhte. Er hätte noch mehr Luft gehabt, aber da nun eine zweite Strophe folgen sollte, ließ er den Ton kontrolliert ausklingen.

Wie so oft in letzter Zeit wunderte er sich über sich selbst, wenn er sich so singen hörte. Dies alles zu lernen war viel harte Arbeit gewesen. Camilla hatte ihn nicht nur über Monate mit dem Gesicht zur Wand gestellt, um sein Gehör zu schärfen, während er konzentriert seine Übungen machte. Sie hatte auch wild mit den Armen in der Luft gerudert, um ihn bei bestimmten Passagen zu mehr Atem und Kraft anzuregen. Auch der Sitz der unterschiedlichen Töne, ihre Resonanz an Schädeldecke, Stirn, Wangenknochen, Nasenspitze und den oberen Schneidezähnen war ihm mit der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen.

Ganz besonders gestaunt hatte er, als Camilla eines Tages ihren dünnen, energischen Arm in seinen oberen Rücken zu drücken begann und ihn mit einer Kraft, die ihm höchst wundersam erschien, durch den halben Raum schob, wobei er Atem und Töne so stabil wie möglich halten sollte. Wenn er so laut aus sich heraus sang, war er aufgefordert, sich mit vollem Gewicht gegen Camillas Arm rückwärts zu stemmen - die erfahrene Frau brachte mit dieser Methode Töne, Höhen und Tiefen aus ihm heraus, die er nicht für möglich gehalten hatte.

Sie war so hart mit ihm! Aber er musste sich eingestehen, er liebte es, seit er sich an ihre Methoden gewöhnt hatte. Bevor sie sich an das eigentliche Singen machten, musste Valerio bis heute stets endlos Vokale und Silben vor sich hin sprechen, während sie ihn mit kräftigem in-die-Hände-klatschen anhielt, dabei im Takt in die Hocke und wieder hoch zu kommen, bis ihm die Oberschenkel zitterten...

Beinahe vier Jahre waren es nun, dass er bei ihr das Singen lernte. Sie hatten gestritten und gelacht, Camilla hatte gezetert, geschimpft und ihm Handküsse zugeworfen, hatte ihn getadelt, gelobt und gequält - und wollte doch nur, dass dieser Rohdiamant geschliffen und poliert wurde, um ihn von Schlacke und Dreck zu befreien und zum Funkeln zu bringen. Hier strahlte er nun - und konnte aus Camillas Gesicht pure Freude und Liebe, aber auch Stolz und so etwas wie Dankbarkeit ablesen. Dies hier war ihrer beider Werk.

Er war so konzentriert bei der Sache, dass er gar nicht bemerkte, wie still es bereits zum Ende der ersten Strophe im Refektorium geworden war. Er sang allein für Camilla - seit er in der letzten Woche mit dem Umdichten des Textes und der Melodie fertig geworden war, hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, ihr sein neuestes Werk zu zeigen. Nur selten gewährte er ihr Einblick in seine eigenen Schöpfungen. In Camillas Unterricht war er viel zu sehr mit den geistlichen Stücken beschäftigt, die sie für ihn heraussuchte. Dies hier war eine Ausnahme. Er hatte das Bedürfnis, ihr mit dieser Eigenkomposition ihres Lieblingspsalms seine Dankbarkeit für die unermüdliche Geduld zu zeigen, die sie für seine stimmliche Bildung aufbrachte.

Die dritte Strophe enthielt eine textliche Erweiterung, die vielleicht ein wenig zu frei und gewagt war. Aber man schien nur auf seine Stimme zu lauschen, niemand stieß sich an seiner persönlichen Dichtung. Als der letzte Ton verhallte, setzte ein Applaus ein, der ihn überraschte.

Camilla saß weiterhin still da, ihre schmalen Hände lagen gefaltet auf dem Tisch. Sie bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte; dann hob sie die Hände langsam und stimmte in das Klatschen der anderen ein. Sie nickte ihm zu, ihre Augen strahlten Zufriedenheit und Stolz aus. Aber da war noch etwas anderes, das er darin zu sehen meinte. Wehmut, ein eigenartiger Schmerz, auf den er sich keinen Reim zu machen wusste. Aber vielleicht hatte sein Beitrag sie auch nur sehr berührt.

Der Applaus klang gerade ab und er wollte seine Laute beiseite legen und sich dem Rest seiner Suppe widmen, da sah er aus dem Augenwinkel, wie Camilla aufstand. Er wunderte sich - Sie stand reglos da, alle zehn Finger gespreizt auf der Tischplatte aufgestellt. Sie schien zu lauschen. Ihr Gesicht war ernst. Nicht nachdenklich, wie er es von ihr kannte, sondern anders. Er wusste, sie hatte ein vorzügliches Gehör. Das Klatschen war nun vollständig verebbt. Ein fernes Grummeln, ein Donnergrollen drang hinter ihr durch den halb geschlossenen Laden.

Sie neigte den Kopf ein wenig, sie horchte. "Still", las er von ihren Lippen. Ihr Blick ging über den Tisch, eine aufkeimende Ahnung lag darin. Als es zum zweiten Mal von draußen her grollte, lauter nun und anhaltender, rief Filomena: "Ah, endlich! Nun kommt Regen für uns!"

"Still!"

Camilla schlug mit den Handflächen auf den Tisch und blickte streng in die Runde der Nonnen, die nun beim Zusammenstellen der leeren Schüsseln innehielten. Sie drehte sich zu den Fenstern um, stieß den nächsten Laden auf und blieb wie angewurzelt in der Fensteröffnung stehen. Im Refektorium erstarb das letzte Lachen und Reden. Vor dem Blau des Sommerhimmels stieg eine graue Säule auf, jeder konnte es sehen. Als Camilla sich blass und erschrocken wieder in den Raum wandte, um etwas zu sagen, sackte hinter ihr in der Ferne das Dach der Novizenschule vollständig zusammen. Hinter Camillas Kopf verdunkelte sich der Himmel.

Ende Teil 66


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