Was tut ihr mit ihm?

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„PER!" Die Tür wird aufgerissen und gegen die Wand, respektive gegen mich geknallt. Ich sehe nur noch dunkle Holzmaserung, höre aber die zornig hervorgestoßenen Worte. „Sind die Hausaufgaben fertig!!!" Es ist keine Frage. Und der Tonfall verrät, dass der Mann nicht mit einer positiven Antwort rechnet.

Der blonde Junge schluckt hörbar und flüstert dann: „Ja."

„JA WAS!?!"

„Ja, meine Hausaufgaben sind fertig, Papa."

„Gut. Ich sehe sie mir dann an. Steh auf!"

Ein unterdrückter Schmerzlaut erschreckt mich und sorgt dafür, dass ich in Windeseile lerne, wie ich mich an Wänden und Türen entlangschiebe. Ich will sehen, was da passiert.

Als unsichtbares Graffiti auf der Tür kann ich einen großen Mann sehen, der den Jungen am Oberarm auf die Beine zerrt. Das Kind ist ihm wohl nicht schnell genug aufgestanden.

„Der Mama ist mal wieder das Blaukraut angebrannt. Geh zum Aldi und hol neues! Die Mama gibt dir das Geld."

„Ja, Papa, das mache ich gleich."

„Und beeil dich! Ich hab Hunger. Ich racker mich den ganzen Tag ab, damit ihr was zu Futtern und ein Dach über dem Kopf habt, da will ich nicht noch lange aufs Essen warten müssen! Außerdem zerfallen die Rouladen, wenn sie zu lange im Topf schmoren!"

„Ja, Papa, ich beeile mich." Der Junge zieht vorsichtig seinen Arm aus dem Klammergriff und eilt in Richtung des brenzligen Geruchs.

Jetzt ist mir auch klar, was Joel meinte mit „kannste besser als die". Mir brennt zumindest nicht dauernd etwas an. Ist angebrannt, muss ich wohl denken. Vergangenheitsform. Kochen werde ich in Zukunft nicht mehr können.

Über die Wände folge ich ihm. Der blonde Junge, der gestern – war es gestern? – so sehnsüchtig die anderen Kinder beim Spiel beobachtet hat, läuft in eine karg und unpersönlich eingerichtete Küche, in der eine sehr junge Frau sich verbissen bemüht, die schwärzliche Masse vom Topfboden zu lösen. Als Per in der Tür auftaucht, lächelt sie ihn an, aber ich kann die Tränen dahinter deutlich erkennen.

„Per, mein Schatz, es tut mir so leid, ich hab mal wieder Mist gebaut. Hier ist das Geld für neues Rotkraut. Schau mal", sie zeigt ihm das leere Schraubglas. „So sieht es aus. Papa möchte, dass du genau das hier mitbringst."

Per studiert aufmerksam das Etikett und wiederholt für sich, was darauf steht. „In Ordnung, Mama, ich machs schon richtig. Weine nicht, das kann doch passieren, dass was anbrennt." Dem Kind ist auch aufgefallen, dass der jungen Frau das Weinen näher ist als das Lachen.

Per rennt aus der Wohnung, den Zehn-Euro-Schein fest in der Hand. Ich würde ihm gerne folgen, aber dazu bin ich noch zu langsam und wenn ich Joel richtig verstanden habe, kann ich das ohnehin nicht, solange es draußen noch hell ist. Also bleibe ich fürs erste in der Küche.

Kaum ist das Kind fort, betritt der große Mann den Raum. Die Frau zuckt zusammen, als er eintritt, bemüht sich aber, sich nichts anmerken zu lassen.

Der Mann setzt sich an den wackligen Tisch. „Hast du den Topf immer noch nicht sauber?"

Sie schüttelt mutlos den Kopf.

„Nora, ich habe dir oft genug gesagt, wenn du Blaukraut kochst, musst du immer dabeibleiben und darfst es nicht eine Sekunde aus den Augen lassen!"

„Aber – wenn ich vielleicht etwas Schmalz oder Öl zugebe ..." Die Frau bricht ab, als der Mann ihre Haare packt und ihren Kopf daran heftig nach hinten reißt.

„Ich habe dir schon oft gesagt, das ist nur ein Trick für faule Hausfrauen! Und es verdirbt den Geschmack. Wage es ja nicht, einfach Öl in den Topf zu geben! Ich schmecke das sowieso heraus und dann kannst du was erleben!"

Was für ein Idiot, denke ich. Ich für meinen Teil gebe Schmalz oder Ghee dazu und es schmeckt dann für mich genau richtig. Und wenn es ihm damit nicht mundet, dann soll er doch sein Rotkraut selbst kochen.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich mich auch nie anders verhalten habe als Nora. Mein Vater hat mich nie körperlich gezüchtigt, aber die demütigenden Worte hätten auch aus seinem Mund kommen können. Und wie Nora hätte ich dann auch nur genickt und um Verzeihung gebeten. Das ist mir auch immer als normal erschienen. Aber wenn ich es von außen sehe, wirkt es völlig anders auf mich.

Nora schrubbt weiter an dem Topf herum, bis alles Angebrannte gelöst ist. Ich hätte ihr ja geraten, den Topf mit Wasser, Spülmittel und Waschpulver aufzusetzen, weil es dann leichter abgeht. Warum sie das nicht tut, geht mir auf, als die Wohnungstür geöffnet wird.

Der Mann sieht auf die Uhr. „Reichlich spät", knurrt er und blafft dann Nora an: „Hast du ihn jetzt sauber? Ich will das Angebrannte nicht mehr schmecken müssen."

Ich hätte ja einen anderen Topf genommen. Aber entweder haben sie hier nicht genug Kochgeschirr oder Nora darf keinen anderen verwenden. Sie trocknet hastig den eben gewienerten Topf ab und stellt ihn auf die Platte, als Per hereinkommt, zwei kleine Gläser in den Händen.

„Was soll denn das? Wer hat dir gesagt, dass du zwei Gläser nehmen sollst? Und wieso hat das so lange gedauert?"

Per duckt sich unwillkürlich. „Da waren so viele Leute an der Kasse. Und es war kein großes Glas mehr da, ich musste zwei kleine nehmen."

Pers Vater wartet ab, bis der Junge die beiden Gläser der Mutter überreicht hat, dann holt er aus und gibt dem Kind eine Ohrfeige, die es von den Füßen reißt.

„Steh auf!" Er zerrt seinen Sohn erneut unsanft an dem dünnen Ärmchen hoch. „Und nächstes Mal passt du genauer auf! Da waren sicher noch große Gläser, du hast nur nicht richtig hingesehen!"

„Tobias, bitte ..."

„Nora, halts Maul und sieh endlich zu, dass das Blaukraut fertig wird! Und Per, du weißt doch, dass zwei kleine Gläser mehr kosten als ein großes! Zeig mal das Rückgeld her!"

Ungeschickt kramt Per in der Tasche herum und bringt einen Fünf-Euro-Schein und einige Münzen zum Vorschein. Tobias zählt das Geld nach und verpasst dem Jungen dann die nächste Ohrfeige.

„Da fehlen dreißig Cent! Glaubst du, ich weiß nicht, was ich für das Kraut bezahlt habe, das deine Mama mal wieder anbrennen lassen hat? Nora, guck auf deine Arbeit und nicht zu uns! Ich erzieh den Jungen schon richtig, da musst du dich nicht einmischen. Du hast doch selbst keine Erziehung, aber immer die große Klappe, wenn es um das Kind geht!" Diesmal bekommen sowohl Nora als auch Per einen kräftigen Schlag ab. Tobias teilt seine Watschen mit einer Selbstverständlichkeit aus, als setze er einen lediglich einen Punkt hinter seine abschätzigen Feststellungen.

„Ihr beide scheint zu glauben, ich hätte einen Goldesel im Stall! Begreift ihr nicht, wie hart ich arbeiten muss für das Geld, das ihr so leichtfertig aus dem Fenster werft? Die eine lässt das Blaukraut anbrennen, der andere kauft die teuren Gläser ein – ich sollte euch auf die Straße werfen, dann würdet ihr euch ganz schön umgucken! Dann wäre nämlich Schluss mit dem Luxusleben, das ich euch hier finanziere."

Nach Luxusleben sieht das hier nicht aus. Nora trägt verblichene Jeans, deren Löcher mit Stickblumen überdeckt worden sind und die ihrer Passform nach noch aus ihrer Teenagerzeit stammt, die allerdings nicht allzu lange her sein kann. Ihre Crocs sind rissig und fast farblos und die umhäkelten Säume an ihrem T-Shirt sind vermutlich weniger Schmuck als vielmehr Reparatur. 

Ich bin zwar auch dafür, seine Sachen solange zu nutzen, wie es geht und sie eher zu flicken als für Neues wegzuwerfen. Aber ich habe inzwischen nich nur Per, sondern auch Nora erkannt. Mein Vater, der ja viel mehr als ich von den Nachbarn mitbekommt, spricht von ihr nur als der „Lumpenfrau", weil sie seiner Meinung nach zu geizig ist, um sich etwas Neues zu kaufen. Als ich einmal eingeworfen habe, dass ihr vielleicht das Geld fehle, ist Vaters Antwort gewesen: „Dann soll sie doch dahin ziehen, wo Leute wie sie hingehören und nicht in eine gute Gegend wie hier. Bei solcher Nachbarschaft sinken ja die Immobilienpreise." Damals bin ich der Meinung gewesen, dass uns die Preise doch egal sein können, jetzt verstehe ich jedoch, warum ihm das so wichtig ist.

„Es tut mir leid, Papa", flüstert Per und bekommt dafür einen Tritt in den Unterleib. „Glaubst du, deine Entschuldigung bringt mir das verschwendete Geld zurück? Zeig mal deine Hausaufgaben her und du, Nora, passt gefälligst auf! Schau zu, dass die Knödel nicht zerfallen, die müssen doch auch schon fertig sein! Wenn du nicht wie üblich alles falsch gemacht hättest, könnten wir schon gegessen haben, aber jetzt bekommen wir breiige Rouladen und die Knödel werden entweder kalt sein oder trocken, wenn du sie im Ofen warmhalten willst, bis das Blaukraut fertig ist."

Während Per nach seiner Schultasche läuft, erklärt Nora hektisch: „Das Rotkraut braucht nur noch wenige Minuten, so schnell trocknen die Knödel nicht aus."

Daraufhin bekommt sie einen heimtückischen Tritt in die Kniekehle und sackt auf den Boden. Im letzten Moment lässt sie den Topf los, bevor die zweite Portion Rotkraut ebenfalls den Bach heruntergeht.

„Das heißt Blaukraut! Und ob die Knödel trocken sind, entscheide ich und nicht du. Du bist ja zu blöd zum Kochen. So wie zu allem anderen!"

Hier in der Gegend gibt es beide Bezeichnungen und auf dem Glas selbst steht das norddeutsche Wort Rotkohl. Aber die Debatte um den richtigen Namen dieses Wintergemüses ist nach wie vor in vollem Gang. Dass sie aber handgreiflich beziehungsweise fußtrittlich ausgetragen wird, ist mir jedoch neu.

„Mama, bist du hingefallen?" Per kommt herein, lässt die Tasche fallen und stürzt zu Nora. Die schüttelt nur den Kopf. „Alles gut, ich hab nur einen Moment nicht aufgepasst." Sie rappelt sich auf und schiebt den Topf wieder auf die Platte.

Währenddessen bekommt Per die nächste Ohrfeige ab, diesmal mit: „So geht man nicht mit der teuren Schultasche um!" kommentiert. Ihm steigen die Tränen in die Augen, aber er holt schweigend seine Hefte aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Tobias blättert sich zur letzten beschriebenen Seite durch.

„Warum ist hier nur Mathe und Sachkunde? Du hast doch heute auch Deutsch gehabt!"

„Ja, aber wir haben keine Hausaufgaben bekommen."

„Zeig mir dein Hausiheft!", fordert Tobias.

Per kramt das Heft heraus, in dem er täglich notiert, welche Hausaufgaben zu machen sind. Tobias sieht sich den heutigen Eintrag an. „Hm, deine Klassenlehrerin hat unterschrieben – dann will ich dir mal glauben." Tobias sieht sich nun das Matheheft an. „Das Ergebnis ist falsch! Da kommt hundertsieben raus und nicht hunderteins!" Klatsch!

Ich hasse meine Zweidimensionalität als Schwarzer Mann. Wäre es dunkler in der Küche, könnte Per eine flache Zeichnung von geballten Fäusten sehen, aber wirklich ballen und damit zuschlagen kann ich nicht. Bisher habe ich niemals den Wunsch gehabt, jemanden mit aller Kraft ins Gesicht zu boxen und mich für einen Menschen gehalten, der Konflikte gewaltfrei löst. Tobias' Verhalten zeigt mir versteckte Teile meines Wesens, die ich nie bei mir vermutet hätte.

„Ich habe doch hundertsieben geschrieben", schluckt Per. Tobias sieht genauer hin, packt Pers „goldene Locken" und knallt sein Gesicht auf das Matheheft auf dem Tisch. „Das nennst du eine Sieben? Nach dem Abendessen holst du dir ein Blatt aus dem Übungsblock und schreibst es voll mit Siebenern. Schönen, versteht sich! Wenn du die wieder so hinschmierst, nimmst du dir noch ein Blatt! Solange, bis du weißt, wie man eine ordentliche Sieben macht!"

Der Tisch steht nahe genug an den Hochschränken, dass ich mich an deren Unterseite gleiten lassen kann, um einen Blick auf das Heft zu erhaschen. Gut, es ist keine perfekte Sieben, aber meine sieht nicht wesentlich anders aus. Bisher hat sich niemand, dem ich eine handschriftliche Berechnung vorgelegt habe, darüber beklagt. Und meine Mandanten in solchen Fällen sind in der Regel Oberbuchhalter, Steuerberater oder Firmenchefs gewesen, deren Ansprüche an leserliche Zahlen sicherlich höher sind als die einer Lehrerin der dritten Klasse.

Per reibt sich die Beule an der Stirn. Nora läuft zum Eisfach, holt ein Kühlakku heraus, schlägt es in ein Handtuch und drückt es Per auf die Stirn.

„Nora, kümmer dich ums Essen und hör auf, den Jungen zu verweichlichen!" Tobias bekommt diesen Satz ohne Punktsetzung in Form eines Schlages hin. Wahrscheinlich, weil er sich bereits mit dem anderen Heft beschäftigt. Er liest mit grimmiger Miene, was Per geschrieben hat, schlägt es dann missmutig zu und bemängelt: „Keine Fehler diesmal. Aber ein bisschen länger hätte es ausfallen können, deine Lehrer sollen doch nicht merken, wie faul du bist!"

„Tut mir leid, Papa. Ich schreibe nachher noch etwas dazu."

„Soll ich dann nach den Nachrichten nochmal deine Hausaufgaben nachsehen müssen? Ich will doch auch mal Feierabend haben!"

Jetzt sagt Per nichts mehr. Nora auch nicht. Beiden ist wohl klar, dass jede Antwort nur aus Schlägen und Tritten bestehen würde. Und was immer sie sagen könnten, es würde an diesem Klotz ja doch nur abprallen.

Ich hingegen hätte eine Menge zu sagen. Worte, die dieser Mensch nicht so einfach ignorieren könnte. Aber jetzt bin ich für ihn unsichtbar, stumm und handlungsunfähig.

Und ich bin selbst schuld daran.

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