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Schon immer hat mich die Natur fasziniert. Egal, ob es ein Sonnenuntergang, das Meer oder die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt ist. All das zeigt mir jeden Tag, wie wunderschön und bunt dieser Planet ist. Letztlich sind es die Menschen, die ihn zerstören. Mit ein Grund dafür, warum ich zwischendurch in meine eigene kleine Welt abtauche. Eine, in der alles leicht und rosarot ist, um die Realität erträglicher zu machen. Zumindest rede ich mir das ständig ein.

Seitdem ich Tom kenne, ist das anders. Wobei das wohl der falsche Ausdruck ist. Im Grunde genommen habe ich überhaupt keine Ahnung, wer dieser Mann wirklich ist. Obwohl wir in den letzten Wochen ziemlich viel Zeit miteinander verbracht haben. Aber sind wir deshalb gleich Freunde? Die erzählen sich doch alles. Jedenfalls ist das bei Lucy und mir so. Vielleicht handhaben Männer das aber auch einfach anders. Wer weiß das schon?

Was ich allerdings weiß, ist, dass seine Reaktion auf dieses Lied ziemlich erschreckend war. Für einen kurzen Moment habe ich gedacht, wir landen im nächsten Graben. Plötzlich war sein braun gebranntes Gesicht weiß wie die Wände in Johns Villa. Ich war heilfroh, dass Tom auf mich gehört und angehalten hat. Noch einen Unfall brauche ich nicht.

Das war jedoch nicht der alleinige Grund, warum ich aus dem Wagen geflüchtet bin. Vielmehr habe ich mich geschämt. Diese verdammte App hat rund siebzig Millionen Lieder zur Auswahl und ich suche mir ausgerechnet dieses aus? Wie dämlich kann man sein?

Nachdem ich die Wasserfälle und die Mammutbäume bestaunen durfte, ist es mittlerweile Abend. Bisher war dieser Tag einfach großartig. Obwohl ich mich immer noch frage, womit ich das verdient habe. Er hat nicht nur die Fahrt auf sich genommen, sondern sich auch nicht nehmen lassen die Tickets zu zahlen. All mein Zetern, dass ich selbst Geld dabei hätte und er mich nicht einladen müsse, hat nichts gebracht. Ich soll es als verspätetes Geburtstagsgeschenk betrachten, hat er gesagt. Sicher. Nach über fünf Monaten. Ich mag zwar wirklich keine Überraschungen, aber diese ist ihm auf jeden Fall gelungen.

Gerade verfluche ich ihn allerdings ein wenig. Angestrengt setze ich einen Fuß vor den anderen, während er im Laufschritt gut zwei Meter vor mir geht. Erst war ich dagegen hier hochzukraxeln, aber Tom meinte, dass mir Tuolumne Meadows gefallen würde und ich etwas verpasse, wenn ich diesen blöden Berg nicht bezwinge. Eigentlich klettern wir gar nicht richtig. Es ist nur ein steiler Wanderweg.

›Nur‹ ist gut, meckert der Teil von mir, der jegliche Art von Sport verabscheut. Meine Lungen signalisieren mir, dass ich es in drei Jahren nicht schaffen werde, oben anzukommen. Und wenn, dann kann ich diese ach so tolle Aussicht nicht genießen, weil ich erst mal ein Sauerstoffzelt benötige, um nicht elendig zu ersticken. Und als ob das nicht alles schlimm genug wäre, stelle ich mir schon die ganze Zeit eine einzige Frage: Soll ich ihn noch mal auf die Sache von heute Mittag ansprechen?

Gut. Ich bin auch nicht gerade jemand, der mit dem, was ihm im Leben passiert ist, um sich schmeißt, aber Tom macht mir so langsam echt Konkurrenz. Dieser Mensch ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Einerseits ist er dreist und direkt, doch in manchen Momenten habe ich den Eindruck, dass das nur Fassade ist. Eine, die ziemlich ordentlich verputzt ist und deshalb nur selten bröckelt. Wie soll ich denn bitte nicht gleich ins nächste Fettnäpfchen trampeln, wenn ich nicht weiß, was ich falsch mache?

Dabei bin ich sonst ziemlich gut darin Menschen zu beobachten. Diese feinen Antennen haben mir in der Vergangenheit treue Dienste erwiesen. Sie haben mich zwar nicht vor allen Enttäuschungen bewahren können, aber mit jeder wurden sie feinfühliger und mittlerweile glaube ich erkennen zu können, ob jemand ehrlich ist oder nicht. Und Tom verheimlicht mir etwas. Da bin ich mir inzwischen sicher.

»Du bist ganz schön langsam, Emmchen!«

Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein Tempo gedrosselt hat. Rückwärts läuft er vor mir her und sieht dabei nicht mal ansatzweise so fertig aus wie ich.

Beneidenswert.

»Wie hast du mich gerade genannt?« Auch wenn ich inzwischen völlig außer Atem bin, kann ich mir einen bösen Blick nicht verkneifen.

»Emmchen.« Ich habe ja in meinem Leben schon viele Spitznamen bekommen. Einige waren schön, andere weniger. Aber noch nie hat mich jemand so genannt. Meinen skeptischen Blick quittiert er mit einem Schulterzucken. »Was denn? Ist doch niedlich.«

Abermals wische ich mir den Schweiß von der Stirn. »Das ist nicht niedlich! Das ist erniedrigend! Auf Deutsch klingt das wie 'ne lahme Ente!«, beschwere ich mich, doch dieser Kindskopf lacht nur und zeigt mir damit wieder den frechen Jungen in ihm, der sich über einen lustig macht, ohne es böse zu meinen. Eine vollkommen neue Erfahrung für mich.

»Na und? Bist du doch auch!«

»Irrtum, mein Lieber! Du bist ganz einfach zu schnell!« Ich sollte dringend mehr Sport treiben. Könnte helfen, ein paar überschüssige Pfunde loszuwerden. Erneut versuche ich, Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen. Ich hoffe nur, dass diese Aussicht wirklich so grandios ist.

»Soll ich dich vielleicht huckepack tragen? Nicht, dass du mir noch kollabierst, Emmchen.« Natürlich entgeht mir die Betonung meines neuen Spitznamens nicht, während er gemütlich neben mir herläuft.

Komischerweise hört es sich aus seinem Mund gar nicht mal so schlecht an. »Nicht nötig! Das schaffe ich gerade noch so.« Auch wenn die Seitenstiche mich fast umbringen, lache ich. Niemals würde ich mir diese Blöße geben. Selbst wenn ich mich gerade fühle wie Emma die Dampflok, die es in Lummerland mit letzter Kraft den Berg hoch schafft.

»Na dann?!«, gibt er schulterzuckend zurück und wird augenblicklich wieder flotter.

Das macht der doch mit voller Absicht! Dieser ... Arsch!

Ja, das ist er. Zweifelsohne. Ein verflucht charmanter Arsch. Das muss man ihm lassen. Während ich mich mal wieder darüber ärgere, dass er mich mit voller Absicht an meine Grenzen bringt, komme ich sage und schreibe fünfzehn Minuten nach ihm auch endlich oben an.

Und nein. Er hat ganz und gar nicht zu viel versprochen. Ein paar Sekunden lang stehe ich einfach nur da und blicke ehrfürchtig auf das, was sich vor meinen Augen abzeichnet. Eine Kulisse, die aussieht, als wäre sie gemalt. Eingerahmt von imposanten Granitfelsen biegen sich die hohen Grashalme im seichten Wind des Spätsommers. Insekten tanzen auf dem spiegelglatten See. Das klare Wasser ist so friedlich, dass man einfach nur die Augen schließen und tief durchatmen möchte, um den Duft von frischer Bergluft und saftigen Wiesen in sich aufzusaugen. Am Horizont geht die Sonne langsam unter und taucht dieses Szenario in ein warmes goldenes Licht. Es ist ein Traum, obwohl meine Augen nach wie vor weit geöffnet sind. Jede Sekunde dieses atemberaubenden Anblicks will ich festhalten. Ja. Kalifornien hat viele schöne Ecken, aber das hier ist definitiv meine Nummer eins.

»Na? Habe ich zu viel versprochen?« Dieses sanfte Raunen seiner tiefen Stimme an meinem Ohr lässt mich erstarren.

»Wow ...« Leider macht mich nicht nur dieses wunderschöne Fleckchen Erde sprachlos, sondern vor allem seine Nähe. Ich zwinge mich dazu, nicht zu tief einzuatmen, doch die Gänsehaut ergreift von meinem Körper Besitz, sodass ich gar nicht anders kann, als meine Augen doch zu schließen.

Ein Fehler.

Die frische Luft vermischt sich mit seinem unverwechselbar süßlich-herben Duft und flutet jede einzelne Zelle, bevor mir sein warmer Atem in meinem Nacken endgültig den Rest gibt.

Wieso tut er das plötzlich?

Sicher hat er nichts mehr dagegen, dass ich ihm manchmal einen kleinen Schubs gebe. So nah waren wir uns allerdings bisher nur zweimal. Davon hat er mich einmal fast zu Fall gebracht und das andere Mal schnell von sich weggeschoben. Wenn auch sanfter als bei unserer ersten Begegnung.

Gerade macht er keinerlei Anstalten, sich von mir zu entfernen. Fehlt nur noch, dass er von hinten die Arme um mich legt und man hält uns für ein verliebtes Paar. Das Schlimmste daran ist, dass ich mir genau das für einen Augenblick wünsche. Das ist doch verrückt und noch dazu unglaublich unfair. Die Beziehung zu John ist zwar schwierig, aber betrügen würde ich ihn nie. Vielleicht, weil ich weiß, wie sich das anfühlt.

»Was ist? Hat es dir etwa die Sprache verschlagen? Dass ich das noch erleben darf.«

Ich müsste lügen, wenn ich die leichten Vibrationen seines rauen Lachens, die von seinem Brustkorb direkt auf meinen Rücken übertragen werden, nicht genauso genießen würde wie dieses Gefühl von Geborgenheit. Aber gerade das ist nach wie vor das Problem. Ich darf das nicht tun. Auch wenn mir eine kleine Stimme zuflüstert, dass ich mir genau das immer gewünscht habe. Zum Glück schreit mein Verstand mich inzwischen nahezu an, dass ich schleunigst Abstand zwischen uns bringen muss, bevor ich etwas tue, was ich hinterher nur bereuen würde.

Er hat recht.

Unser Verhältnis bedeutet mir sehr viel. Tom schätzt mich wert. Und das, obwohl ich nicht mal sein Typ bin. Ja. Er ist immer noch frech und so ehrlich, dass es manchmal schmerzt. Aber hinter dieser auf Hochglanz polierten Fassade verbirgt sich mehr. Man muss nur die Geduld aufbringen, den Putz Stück für Stück abzuschlagen. Wie sehr man sich doch in Menschen täuschen kann, wenn man sich nicht die Mühe macht, einen zweiten Blick zu riskieren. Eine Erkenntnis, die mein zugegebenermaßen voreingenommenes Wesen so heftig getroffen hat wie ein Erdbeben der Stärke sieben.

Trotzdem darf ich nicht zulassen, dass er mir zu nahe kommt. Dieser Mann gleicht einer Naturgewalt. Ein Tsunami, der dich genau dann erfasst, wenn du glaubst einen stillen See vor dir zu haben. Das habe ich ganz deutlich in seinen Augen gesehen, als er mich angeschrien hat. Instinktiv will ich zurückweichen, doch mehr als ein kurzes Zucken geht nicht durch meinen Körper, weil Toms Energie mich an Ort und Stelle hält. Zusammen mit den vielen offenen Fragen. Allen voran eine: Wieso hat er mich nicht fahren lassen?

Je öfter ich die Puzzleteile, die ich in den letzten Monaten gesammelt habe, drehe und wende, desto verwirrter bin ich. Es ist wie bei einem dieser Zauberwürfel von damals. Du schiebst und drückst, glaubst, du kommst der Lösung langsam näher, nur um letztlich festzustellen, dass das Chaos noch viel größer ist. Und genau das herrscht gerade in meinem Kopf.

Pures Chaos.

Ich lache. Wahrscheinlich aus Verzweiflung. »Wie war das?«, frage ich und will Tom einen kleinen Schubs geben. Egal, was. Hauptsache er ist mir nicht mehr nah. Doch er greift nach meinem Arm und zieht mich mit sich zu Boden.

Nein. So war das ganz und gar nicht geplant.

»Also eins muss man dir lassen, Emmchen. Du verstehst es echt, einen umzuhauen.«

Als ich das belustigte Funkeln in seinen warmen braunen Augen entdecke, vergesse ich meine guten Vorsätze und falle über ihn her. »Na warte! Dir wird das Grinsen schon noch vergehen!«

»Hey! Was habe ich jetzt schon wieder verbrochen?« Seine Stimme klingt nicht vorwurfsvoll, eher amüsiert. Sonst würde er wohl kaum lachend zum Gegenangriff übergehen.

Diesmal hört es sich anders an. Fast schon kehlig. Wie Musik in meinen Ohren. Und obwohl ich diese Melodie noch nie gehört habe, würde ich sie am liebsten auf Repeat stellen. »Das weißt du ganz genau!«

»Ich schwöre.« Japsend hebt er die Hände. »Ich habe keine Ahnung!«

»Ach ja?!« Wie kleine Kinder rollen wir uns über die Wiese. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich so viel Spaß hatte.

Das ändert sich jedoch, als Tom mich kitzeln will. »Nein!« Mit letzter Kraft drücke ich seine Hand weg. Inzwischen tun mir sogar Muskeln weh, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie besitze. »Hör auf! Das ist ... unfair!«

»Nur, wenn du ganz lieb bitte sagst.«

Gerade würde ich alles tun, damit diese Folter ein Ende hat. »Bitte ...!«, stoße ich beinahe atemlos hervor und lasse mich ins Gras fallen, nachdem er endlich von mir abgelassen hat.

Eine Weile liege ich einfach nur da und lasse die Wolken an mir vorbeiziehen. Sie sehen aus wie große Wattebäusche, die vor meinen Augen auf und ab tanzen. Ich könnte ewig hier liegenbleiben. »Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so gelacht habe«, rutscht es mir heraus. Leider passiert das oft, wenn ich vollkommen entspannt bin. In diesen Momenten denke ich nicht an die Konsequenzen.

»Hmm ...«

Etwas verwundert, dass diesmal kein dummer Spruch von ihm kommt, drehe ich meinen Kopf zur Seite. Tom hat wie ich die Arme im Nacken verschränkt. Seine vorher weichen Gesichtszüge sind der Ernsthaftigkeit gewichen. Er starrt ins Leere. Ein seltsames Bild. Es scheint fast so, als wäre er gerade woanders. Vielleicht ist er auch einfach nur müde von der langen Fahrt. Obwohl ich mich nach wie vor frage, wieso er mich nicht hat fahren lassen. Er klang nahezu panisch, als er meinen Vorschlag abgelehnt hat. Zumal er ohnehin ziemlich sensibel reagiert, wenn es um sein Auto geht. Dabei mag er es nicht mal. Sonst wäre es wohl kaum ein Mülleimer auf Rädern. Irgendwann werde ich nicht mehr drum herumkommen, mit ihm zu reden.

Jetzt will ich aber erst mal diesen Moment genießen. Gerade im Begriff die Augen zu schließen, erblicke ich etwas auf seinem rechten Oberarm. ›Day‹ steht da in geschwungenen Lettern. Komischerweise ist mir das Tattoo nie aufgefallen. Ich selbst habe zwar keins, aber Lucy hat einige und sie meinte mal, dass es meistens eine Bedeutung hat, wenn man sich etwas für die Ewigkeit unter die Haut stechen lässt.

Oh! Da steht ja noch mehr. Ist das ein l oder doch ein e? Mit viel Fantasie könnte es auch ein t sein. Mist! Wieso muss das denn so schnörkelig geschrieben sein?

Vollkommen vertieft darin, diese Hieroglyphen zu entziffern, fällt mir gar nicht auf, dass Tom inzwischen wieder im Hier und Jetzt angekommen ist. Misstrauisch folgt er meinem Blick. »Ist was?« Es klingt nicht wie eine ernst gemeinte Frage, sondern eher wie ein leicht aggressives »Geht's noch?!« Das sagt mir vor allem sein Blick, der mich nahezu verbrennt. Der Gleiche den ich im Auto schon einmal von ihm zu spüren bekommen habe.

»Nein. Nichts«, erwidere ich schnell. Entweder war es eine Jugendsünde und er schämt sich dafür oder Lucy hatte recht und dieses Wort, dieser Name oder was auch immer, hat eine tiefere Bedeutung, die er mit mir nicht teilen will. Sonst hätte er inzwischen nicht den Ärmel so weit runtergezogen, dass man nicht mal erahnen kann, was sich darunter verbirgt. Erneut kommen mir Zweifel. Nicht, dass ich Angst vor ihm hätte. Ich würde es nur gerne verstehen. Normal ist so ein Verhalten schließlich nicht.

Na und? Bist du denn normal?

So langsam geht mir diese Stimme mächtig auf den Geist. »Darf ich dir eine Frage stellen?«, beginne ich vorsichtig das Gespräch, während er mit angezogenen Beinen, vor denen er die Arme verschränkt hält, neben mir sitzt und in die Ferne schaut.

»Mach.«

Sehr überzeugend klingt das nicht. Dennoch nehme ich all meinen Mut zusammen und atme tief ein. »Wie kommt man dazu, ausgerechnet zur Feuerwehr zu gehen?«

Noch immer starrt er auf einen imaginären Punkt in der Ferne. Wenn es nicht so abwegig wäre, würde ich sagen, er sucht am Horizont nach irgendwas. »Ich spiele halt gern mit dem Feuer.«

Was ist das denn bitte für eine Antwort? Man wird doch wohl wissen, wieso man sich für einen Beruf entscheidet. Immerhin weiß ich auch ganz genau, wieso ich Erzieherin geworden bin. »Gehörst du eigentlich zum Löschtrupp oder zur Drehleiter?«, will ich nach einiger Zeit des Schweigens wissen, obwohl ich mir die Frage selbst beantworten könnte.

»Drehleiter.« Tom hebt die Augenbraue. »Wieso?«

»Nur so.« Dummerweise habe ich mich von Lucy dazu hinreißen lassen, mit ihr Chicago Fire anzuschauen. Eigentlich wollte sie mir nur ihren Jimmy zeigen. Natürlich entspricht das, was im Fernsehen gezeigt wird, nicht immer der Realität. Dennoch bekomme ich diese Bilder nicht aus dem Kopf. Erst recht nicht, nachdem ich mich ein bisschen mit der Materie auseinandergesetzt habe. Das tue ich oft, wenn mich ein Thema interessiert. Diesmal war es ein Fehler. »Ist das ... nicht schrecklich gefährlich?«

»Kann sein.«

Verdammt! Er grinst doch sonst immer oder macht irgendwelche akrobatischen Verrenkungen mit seinem Gesicht. Wieso ausgerechnet jetzt nicht?

»Und was machst du so den ganzen Tag, wenn du nicht gerade mit irgendwelchen Luxuskarossen durch die Gegend schipperst?« Einerseits beruhigt es mich die Grübchen in seinem Gesicht wiederzusehen. Andererseits bestätigt er mit dieser Frage eine meiner schlimmsten Befürchtungen.

Er hält mich wirklich für eine reiche, oberflächliche Tussi.

Weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll, mache ich das, was ich meistens in solchen Situationen tue. Ich verkrieche mich sinnbildlich gesehen in meine Höhle und schweige.

»Das ... gehört alles nicht mir«, rechtfertige ich mich dann doch, weil sein Blick förmlich an mir klebt. Leider entspricht das absolut der Wahrheit. Ich habe wirklich nicht den Eindruck, dass irgendetwas von dem, was John besitzt, nur ansatzweise mir gehört. Davon abgesehen sind mir solche Dinge auch nicht wichtig. Denn wie meine Oma immer zu sagen pflegte: »Die wirklich wichtigen Dinge im Leben kann man nicht mit Geld kaufen.« Dinge, wie dieser Moment eben.

»Okay.«

Es ist nur ein Wort. Vier blöde Buchstaben. Und doch löst es etwas in mir aus, das ich nicht stoppen kann. »Gib's doch einfach zu! Du hältst mich für eine reiche, oberflächliche Tussi!«

Überrascht dreht er seinen Kopf in meine Richtung. »Habe ich das gesagt?«

»Nein, aber gedacht«, erwidere ich kaum hörbar, nachdem ich meinen Blick auf das Gras gerichtet habe. Ich schäme mich gerade in Grund und Boden. Dafür, jemandem, der für andere sein Leben riskiert, sagen zu müssen, dass ich den ganzen Tag über tatsächlich nichts Besseres zu tun habe, als sinnlos durch die Gegend zu fahren.

»Woher willst du wissen, was ich denke?«

Seufzend lasse ich die Schultern hängen. Wieso kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Das Thema ist schwer genug für mich. »Weil ... alle das denken.«

»Alle? Oder du selbst vielleicht?«, fragt er und erwischt mich damit eiskalt.

Natürlich nagt es an mir, dass ich nicht in meinem Beruf arbeiten kann. Wem ginge das nicht so? »Vielleicht ein bisschen ... ja.«

»Und warum änderst du dann nichts daran?«

Ha! Scherzkeks! Als ob ich das nicht versucht hätte?! In den ersten Jahren hier habe ich mir die Hacken abgelaufen. Einige haben mich belächelt. Andere haben sich meine Bewerbung nicht mal angesehen. »Ich schätze, manche Dinge kann man einfach nicht ändern.«

»Kannst du nicht oder willst du nicht?«

Dass er nicht locker lässt, sorgt dafür, dass meine Mauer nun Stück für Stück bröckelt. »Glaub mir. Ich habe alles versucht. Aber den Menschen hier scheint es offenbar wichtiger zu sein, dass derjenige, der ihre Kinder betreut, ihnen fünf Sprachen auf einmal beibringt, anstatt sie zu Menschen zu erziehen, die wissen, was wirklich zählt im Leben!« Mit jedem Wort wird meine Stimme schriller. So lange trage ich diesen Gedanken nicht gut genug zu sein jetzt schon mit mir herum, ohne dass ich mit jemandem darüber reden konnte. Mal abgesehen von meinem Tagebuch.

»Und das wäre?« Er sieht zu mir, wendet seinen Blick aber wieder ab, als ich ihm ausweiche.

»Ich ... bin Erzieherin geworden, weil ich es besser machen wollte.« Tief atmend senke ich die Lider. Eigentlich wollte ich diese Information nicht mit ihm teilen, die für ihn offenbar so interessant ist, dass er mich doch wieder ansieht. »Und außerdem«, schiebe ich schnell hinterher, »wer könnte unser Morgen besser beeinflussen als die Kinder von heute?«

Dass er seine Augen nicht von mir nimmt, verunsichert mich zunehmend. »Ich weiß, klingt total bescheuert. Bestimmt hältst du mich jetzt für ... albern oder so.« Erneut widme ich mich den Grashalmen und beginne sie auszurupfen, um nicht wieder meine Finger zu malträtieren. Immerhin hat er mir ja schon mal gesagt, dass ich das besser lassen soll. Wenn das mal so einfach wäre.

»Finde ich nicht. Um genau zu sein, ist es sogar ein bisschen ...« Er zuckt mit den Schultern und schenkt mir dieses schiefe Lächeln, das ich so an ihm mag. »Süß.«

Gerade kann mich das jedoch nicht beruhigen. »Süß?« Mein Lachen erinnert mich an eine der Hyänen aus König der Löwen. »Du meinst wie naiv oder dumm?« Ich seufze. »Glaub mir, das ist das Gleiche. Nur netter ausgedrückt eben.«

»Wieso tust du das?« Wieder trifft mich dieser Blick, bei dem ich jedes Mal das Gefühl habe, er wolle mich durchleuchten.

»Was?«

»Na ja. Egal, was man dir sagt, du fasst es als Angriff auf.«

»Erfahrung. Vielleicht?«, sage ich nach einer gefühlten Ewigkeit und lasse die Luft aus meinen Lungen entweichen.

Tom schweigt. Sein Gesichtsausdruck sagt jedoch mehr als tausend Worte.

»Weißt du, ich ... ach! Vergiss es einfach!« Es ist unfair, dass ich ihn anschreie, aber in meiner Verzweiflung kann ich nicht anders.

»Hast du deshalb Angst belogen zu werden? Weil du oft enttäuscht wurdest?«

Wieso zum Teufel merkt der sich alles, was ich irgendwann mal gesagt habe, nur um es dann gegen mich zu verwenden? Macht ihm das Spaß?

»Oh! Schon so spät! Ich glaube, wir gehen jetzt besser.« Schnell springe ich vom Boden auf und plappere weiter drauflos. »Wir haben schließlich noch ein paar Stunden Fahrt vor uns.« Bei dem Gedanken daran wird mir schlecht.

Wie soll ich das bloß überleben?

Trotzdem will ich nur noch weg, bevor es in meiner Brust so eng wird, dass ich gar keine Luft mehr bekomme. Weit komme ich nicht, weil ich etwas an meinem Unterarm spüre.

Bitte nicht!

Obwohl ich weiß, wer mich da berührt, wandert mein Blick langsam nach oben. Ich muss nicht in sein Gesicht sehen, um zu wissen, was er gerade denkt. Und ich will auch nicht, dass er die Panik sieht, die mich erfasst wie eine gigantische Welle. Ohne, dass ich etwas dagegen tun kann, breitet sich erneut diese Wärme in mir aus. Zentimeter für Zentimeter flutet sie mit trügerischer Sicherheit. Wunderschön und schrecklich zugleich. Einerseits fühlt es sich fast vertraut an, andererseits macht mir gerade das unglaubliche Angst. Denn es sorgt dafür, dass mein Verstand kurz davor ist, die weiße Flagge zu schwenken.

Ich muss das verhindern.

Instinktiv trete ich einen Schritt nach hinten, werde aber augenblicklich zurückgezogen. Ich will schreien, dass er mich loslassen soll, bekomme aber kein einziges Wort heraus. Ich weiß gar nicht mehr, ob mir heiß oder doch eiskalt ist. Dieses Wechselbad überfordert mich zunehmend. Frischer Wind kommt auf und versetzt den stillen See in Aufruhr. In der Ferne vernehme ich Tierlaute. Vielleicht steht jemand mit einem Gewehr vor ihnen und sie warten auch nur darauf, dass der erlösende Schuss fällt. Leider höre ich im nächsten Moment Toms Stimme.

»Emma, jetzt ... lauf nicht schon wieder weg. Bitte!« Sie klingt seltsam gepresst.

Ich sollte das unter keinen Umständen tun. Dennoch hebe ich den Kopf und sehe ... definitiv einen Blick, den ich nicht einordnen kann. Verunsicherung vielleicht? Etwas, das mir bekannt ist. Aber ihm? Dieser Mann ist alles, aber nicht unsicher. Warum also jetzt? Es kann ihm doch egal sein.

Ein ganz kleiner Teil von mir wünscht sich, dass es genau das nicht ist. »Schön! Ja, verdammt! Vielleicht fällt es mir schwer anderen zu glauben.« Für einen Moment schließe ich die Augen und hole tief Luft. »Menschen können manchmal verdammt grausam und feige sein. Sie lächeln dich an, nur um dir im nächsten Moment ein Messer ins Kreuz zu rammen!«

Ich weiß nicht, wo all diese Worte herkommen, die ich ihm förmlich entgegen spucke. Zumal er nichts für das kann, was diesen Menschen aus mir gemacht hat, der ich inzwischen bin. Obwohl ich mich krampfhaft dagegen wehre, verschwimmt alles vor mir zunehmend. Es ist verdammt lange her, dass ich geweint habe. In ihren Augen war es ein Zeichen von Schwäche. Etwas, das bestraft werden musste. Es ist bescheuert, aber diese Angst – sie begleitet mich bis heute. Eilig wische ich mir übers Gesicht, darum bemüht Tom nicht anzusehen.

»Nicht alle sind so, Emma.«

Seine Worte sollten mich nicht wütend machen. Ich sollte Menschen ihr Glück gönnen und nicht neidisch darauf sein, was sie haben. Dennoch spüre ich, wie sich die giftige Pfeilspitze der Missgunst tiefer in mein Herz bohrt. Er hat keine Ahnung! Er weiß nicht, wie es ist, nichts als Dunkelheit um sich zu haben. Wie soll jemand, der auf der Sonnenseite des Lebens steht, das auch wissen? 

»In meiner Welt schon«, flüstere ich mit Blick auf meinen Arm, den er daraufhin Gott sei Dank loslässt.

»Okay.« Tom atmet hörbar laut aus. »Dann lass mich dir eben das Gegenteil beweisen.«

Mittlerweile hat sich der Himmel in ein Farbenmeer aus Orange und Rosa verwandelt. Wie geplant genießen, kann ich diesen wunderschönen Sonnenuntergang allerdings nicht, weil ich krampfhaft damit beschäftigt bin meine Schnürsenkel zu fixieren. Gar nichts läuft gerade nach Plan. Dabei brauche ich Kontrolle. Ich bin quasi süchtig danach. Vielleicht, weil sie bisher die einzige Konstante in meinem Leben war.

Sei stark, Emma! Nur dieses eine Mal.

»Du musst mir nichts beweisen. Außerdem hast du schon genug für mich getan. Ich will nicht, dass du denkst ...« Auch wenn ich es mit Mühe und Not schaffe, die dämlichen Tränen zurückzuhalten, wird meine Stimme immer brüchiger, bis sie ganz ihren Dienst einstellt. Wie der letzte Volltrottel stehe ich vor ihm, nachdem ich die Hoffnung aufgegeben habe, dass sich der Boden unter mir auftut.

»Was soll ich nicht denken, Emma?«

Gute Frage. Ich wäre hilflos und schwach vielleicht? Dass ich es nicht schaffe, mein Leben allein auf die Reihe zu kriegen? Dass ich eine Versagerin bin? Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher als jemanden, der mich in den Arm nimmt, ohne mir das Gefühl zu geben, mich zu fesseln. Jemanden, bei dem ich keine Angst haben muss, dass er meine Verletzlichkeit ausnutzt. Jemanden, der mir zuhört, weil ihn meine Meinung interessiert. Jemanden, der sich für MICH interessiert. Wie gern würde ich all diese Dinge einfach mal aussprechen. Aber ich schaffe es nicht, weil ich es irgendwann verlernt habe. Oder sollte ich lieber sagen, es wurde mir abtrainiert?

»Was für ein Film läuft da drin gerade?«

Seine Worte kommen verspätet in meinem Gehirn an, weil ich mich nur auf seine Hand konzentrieren kann. Es ist eine kleine Berührung, als sein Daumen über meine Schläfe streicht. Dennoch sorgt diese federleichte, fast schon zärtliche Annäherung dafür, dass sich in meinem Bauch ein Kribbeln ausbreitet. Blinzelnd sehe ich zu ihm hoch und glaube, durch den Tränenschleier ein klitzekleines Lächeln auf seinem Gesicht erkennen zu können. »Was?«

Tom räuspert sich. Er nimmt seine Hand weg und schiebt sie beide in die Hosentaschen. »Du hast gesagt, du würdest dir wünschen, zu wissen, was in den Köpfen von anderen vor sich geht. Und gerade interessiert mich einfach, was in deinem passiert«, sagt er schulterzuckend, ohne den Blick auch nur eine Sekunde lang von mir zu nehmen.

Wie kann er bitte so unfassbar cool bleiben, während ich am ganzen Körper zittere wie ein Aal?

»Glaub mir, das willst du nicht wissen.« Mein humorloses Lachen wird abgelöst von einem leisen Seufzer.

»Warum denkst du das?«, fragt er mich mit dieser sanften Stimme, die mir jedes Mal eine meterdicke Gänsehaut beschert und mein Herz dazu bringt, noch heftiger zu schlagen.

Hört sofort auf damit! Ich habe gerade echt andere Sorgen!

Abermals schreie ich die Schmetterlinge in meinem Bauch an, dass sie endlich verschwinden sollen, aber die Biester hören einfach nicht auf mich. Ich glaube, selbst wenn ich einen Liter Säure trinke, würden sie fröhlich weiter in meinem Magen flattern. »Weil du ... schon zu viel weißt.« Meine Stimme ist nur mehr ein Flüstern. Erneut versuche ich, seinem Blick zu entkommen.

Tom weicht einen Schritt zurück und fährt sich schwer atmend durch die Haare. »Und das ist ein Problem für dich.« Er stellt es nicht infrage, sondern spricht es eher wie eine nüchterne Tatsache aus. Meine zuckenden Schultern sind dann wohl endgültig Grund genug, Abstand zu nehmen. »Verstehe.«

Ein ganz kleiner Teil von mir würde ihn am liebsten in den Arm nehmen. Dieser Teil will daran glauben, dass er mein Vertrauen nicht missbrauchen würde.

Der größte Teil von mir allerdings ist sich bewusst, dass Menschen das Talent haben, andere zu täuschen. Sie versprechen dir den Himmel auf Erden und am Ende findest du dich in der Hölle wieder. Jedes Mal, wenn sie dir etwas geben, nehmen sie sich einen weiteren Teil deines Herzens, um darauf herumzutrampeln, bis nichts als Splitter übrig bleiben.

Aber ist Tom auch so ein Mensch?

Fakt ist, dass er mir etwas verschweigt und solange will ... Nein, kann ich ihm keinen Teil von mir geben. Irgendwann kommst du eben an einen Punkt, da stellst du fest, dass nichts mehr von dir übrig ist, was du geben könntest. Ein Moment, in dem du begreifst, dass es zu viele Splitter sind. Vor einigen Jahren war ich schon einmal an diesem Punkt. Ich will nicht riskieren, dass das erneut passiert.

Dafür habe ich zu lange gebraucht, um wieder aufzustehen.

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