20 | E M M A

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Mit meinen gesamten einundsiebzig Komma sechs Kilogramm liege ich auf diesem blöden Koffer. Auch diesmal konnte ich mich nicht entscheiden, was ich für den Kurz-Trip mit John einpacken soll. Dass er tatsächlich Zeit mit mir verbringen möchte, kann ich immer noch nicht so ganz fassen. Keine Berge von Akten oder sonst irgendwelche langweiligen Dinge.

Nur wir beide.

Obwohl ich mir nach wie vor nicht erklären kann, woher der plötzliche Sinneswandel kommt. Immerhin hat John in der letzten Zeit nur für eins gelebt. Außerdem werde ich L.A. vermissen.

L.A. oder doch jemand ganz bestimmten?

Ich seufze. Jetzt redet meine beste Freundin schon wieder auf mich ein. Genau das hat sie gestern gefragt, als ich ihr davon erzählt habe. Sie ist nach wie vor der Meinung, dass ich mich für Tom entscheiden soll. Als wenn das jemals zur Diskussion gestanden hätte. Aber so ist Lucy halt. Sie macht sich nie Gedanken über die Konsequenzen. Mittlerweile habe ich es fast aufgegeben ihr zu sagen, dass das mit Tom und mir rein platonischer Natur ist. Selbst wenn es John nicht gäbe, käme mehr für mich nicht infrage. Denn seien wir mal ehrlich, ich weiß nichts über diesen Mann. Außer, dass er gerne ›mit dem Feuer spielt‹ und Musik offenbar verabscheut.

Natürlich konnte Lucy es nicht lassen mir unter die Nase zu reiben, dass er genauso wenig über mich weiß. Was so nicht stimmt. Immerhin kennt er meine Adresse. Umgekehrt ist das nicht der Fall.

Erneut entfährt mir ein Seufzen. Der Koffer ist zur Nebensache geworden. Wie ein Planet um die Sonne kreisen meine Gedanken um Tom. Wobei das bei der Wärme, die er ausstrahlt, gar nicht mal so ein blöder Vergleich ist.

Also, was weiß ich noch? Er mag keine Autos. Beziehungsweise scheint er nicht viel Wert darauf zu legen. Und das, obwohl er sich gut mit ihnen auskennt. Soweit ich das beurteilen kann natürlich. Und ... ach ja, fast vergessen. Er trinkt auch keinen Alkohol. Welcher normale Mann mag bitte weder Alkohol noch Autos? Nicht, dass ich auf saufende Proleten, die ihren Sportwagen als künstliche Verlängerung ihres Geschlechtsteils missbrauchen, stehen würde, aber ungewöhnlich ist es schon.

Außerdem hat er ein Tattoo, das er aber keinem zeigen will. Mir jedenfalls nicht. Am meisten beunruhigt mich allerdings die Tatsache, dass er offenbar oft sein Leben für andere riskiert. Natürlich gehört es zu diesem Job dazu, an seine Grenzen zu gehen, aber Tom macht den Eindruck, als würde er mit voller Absicht ständig weit darüber hinausgehen. Überhaupt kommt es mir vor, als wären ihm sein Leben und seine Gesundheit nicht besonders wichtig. So etwas wie Schlaf kennt er scheinbar auch nicht. Das sagen mir jedenfalls die Schatten unter seinen Augen. Nichtsdestotrotz ist Tom ein attraktiver Mann.

Moment mal ... Habe ich das gerade wirklich gedacht?

Hast du, bestätigt mir mein ... was auch immer. Okay. Wo war ich? Augenschatten. Die sind nämlich das Einzige an ihm, was nicht perfekt ist. Obwohl das seiner Schönheit keinen Abbruch tut.

Jetzt ist aber auch mal gut!

Wie eine Mutter ihr Kind tadele ich mich in Gedanken, ehe ich mich wieder meinem Koffer widme. »Nun mach schon!«, fluche ich, aber es ist hoffnungslos.

Reden wir noch von dem Koffer oder doch von etwas anderem?

Ich stoße einen unterdrückten Schrei aus, der einer Mischung aus Pferd, Hyäne und Raubkatze gleicht, und lasse mich bäuchlings aufs Bett fallen. Um die Stimme nicht mehr hören zu müssen, presse ich mir eines der Kissen gegen die Ohren. Ich sollte sie wirklich Lucy nennen. Schließlich klingt sie genauso. Ganz toll! Jetzt gebe ich den Stimmen in meinem Kopf schon Namen.

Nachdem der Anfall vorbei ist, stehe ich auf und ziehe ein paar Strickjacken wieder aus dem Koffer. Seit ich denken kann, ist mir einfach immer kalt. Sogar hier in Kalifornien friere ich ständig. Dabei soll Fett doch bekanntlich warm halten. Bereits in frühster Jugend hatte ich Gewichtsprobleme. Eine Diät nach der anderen habe ich ausprobiert. Von Kohlsuppe über irgendwelche Shakes, die ja angeblich so satt machen sollen, bis hin zu diversen Tabletten, die jedoch nichts anderes getan haben, als meinem Stoffwechsel endgültig den Rest zu geben. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass ich keine Modelmaße habe. Oder sagen wir – ich versuche es.

Mit einem heftigen Kopfschütteln verbanne ich die aufkommenden Erinnerungen. Erneut werfe ich mich auf den Koffer, drücke und schiebe. Mit einem leisen Knacken rastet das Schloss endlich ein, sodass ich ihn in die Ecke schieben kann.

Ich greife zu meinem Handy und setze mich damit aufs Bett. Diesmal schaue ich mir keine Bilder von John und mir an, sondern die, die in Yosemite entstanden sind. Fotografieren ist zwar nicht gerade eine meiner Stärken, aber ich liebe es, all die schönen Momente im Leben festzuhalten. Bruchteile von Sekunden zu Ewigkeiten werden zu lassen, um mich daran festzuhalten, wenn ich das Gefühl habe zu fallen.

* * *

Als John und ich am nächsten Tag das hölzerne Ortsschild mit der Aufschrift Carmel-by-the-Sea passieren, habe ich den Eindruck, durch das Tor in eine andere Welt zu fahren. Diese charmante Kleinstadt mit ihren verwinkelten Gassen und Fachwerkhäusern wirkt auf mich, als wäre ich zweihundert Jahre in der Zeit zurückgereist oder würde mich mitten in einem Märchen befinden.

John flucht, dass das Kopfsteinpflaster schädlich für das Sportfahrwerk des Mercedes wäre, um schließlich vor einem dieser lieblosen Betonklötze stehenzubleiben. Ein älterer Mann, der ein bisschen Ähnlichkeit mit Mason hat, kommt auf uns zu und bietet an, den Wagen in die Tiefgarage zu fahren. John drückt ihm den Funkschlüssel in die Hand. Allerdings nicht ohne ihn noch mal daran zu erinnern, dass er ja keinen Kratzer in den hochwertigen Lack machen soll.

Ein Page, den ich gerade mal auf Anfang zwanzig schätze, rollt mit einem goldenen Wagen an, um unsere Koffer zu verladen.

Wir folgen ihm in die riesige Lobby. Mit dem hellen Marmorboden und den imposanten Säulen wirkt sie auf mich wie der Eingang zu einem Palast. Dabei hätte ich viel lieber in einer der gemütlichen Hütten im Ortskern übernachtet, eingekuschelt in eine Decke vor dem Kamin. Aber gut. Man kann eben nicht alles haben.

Nachdem wir mit dem gläsernen Lift in die oberste Etage gefahren sind, empfängt mich beim Betreten der Suite die gleiche Eiseskälte wie in Beverly Hills. Weiße Wände, an denen nichtssagende Bilder hängen. Einzig und allein die wunderbare Aussicht ist ein Lichtblick. Am liebsten würde ich gleich an den Strand gehen, doch John hat andere Pläne.

Er drückt dem Jungen in der roten Uniform ein paar Dollar in die Hand und kommt mit schweren Schritten auf mich zu.

Ich schließe die Augen, als seine Hand mir an den Po fasst. Instinktiv weiß ich, worauf das hinausläuft. Sein steifes Glied, das sich von hinten gegen mich presst, bestätigt meine Befürchtung. Wahrscheinlich ist irgendwas nicht richtig mit mir, aber ich verspüre nicht den Drang, körperlich mit einem anderen Menschen zu werden. Doch es gehört in einer Beziehung eben dazu, auch wenn es mir jedes Mal schwerfällt. Denn um mich meinem Partner so zu zeigen, wie Gott mich schuf und Schokolade mich formte, braucht es Vertrauen.

Und das ist mir nur bei Lucy möglich.

Deshalb bin ich froh, dass John nie lange fackelt, bis er sich das holt, was er braucht. Auch diesmal drückt er mich auf das Bett, bevor er über mich herfällt wie ein ausgehungertes Raubtier. Und ich? Ich bin seine Beute, ein Stück Fleisch, das er verschlingt, um die knöchernen Überreste danach liegenzulassen.

Leidenschaft oder gar Zärtlichkeit. Dieses Gefühl zu verbrennen, um mit dem anderen zu verschmelzen. All das spüre ich dabei nicht. Aber das ist okay. Mein Verhältnis zu Geschlechtskontakt ist eben spätestens seit Christian gestört. Dafür sollte ich einem anderen Mann nicht die Schuld geben. Vielleicht ist es ohnehin nur ein Gerücht. Bestimmt ist es das! Denn seien wir mal ehrlich, wenn Menschen keinen Geschlechtsverkehr mehr hätten, würden sie irgendwann zwangsläufig aussterben. Da ist es doch logisch, dass man diesen Mythos von bedingungsloser Liebe und grenzenlosem Vertrauen aufrechterhalten muss. Oder?

Na klar! Und ich bin Germany's Next Topmodel!

John steigt von mir runter. Er zieht die Stoffhose hoch und knöpft sein Hemd zu.

Einerseits bin ich froh darüber, mich nicht mehr unter ihm gefangen zu fühlen. Andererseits verspüre ich auch den Wunsch, mich in seine Arme zu kuscheln. Doch dazu ist er nicht der Typ. Manchmal habe ich den Eindruck, er hat ähnliche Erfahrungen gemacht und geht damit einfach nur anders um. Was wiederum bedeuten würde, dass wir eigentlich gut zusammenpassen. Das sagt mir jedenfalls mein Verstand, dem ich eindeutig mehr Glauben schenke, als irgendwelchen Gefühlen, die ich nicht mal genauer beschreiben kann.

Frisch geduscht und mit Turban auf dem Kopf betrete ich kurz darauf den Wohnbereich und sehe, dass John sein Handy in der Hand hat. Wahrscheinlich überprüft er mal wieder die Börsenkurse oder er schreibt E-Mails. Genauso wie ich braucht er die ständige Kontrolle.

Machst du gerade allen Ernstes eine Pro- und Kontra-Liste für eure Beziehung?

Ich sehe Lucy regelrecht mit dem Kopf schütteln. Obwohl ihre Beziehungenbisher nie länger als zwei Monate hielten, ist sie der Meinung, dass man so etwas Irrationales wie Liebe und Gefühle nicht mit seinem Verstand erklären kann. Entweder sind diese Gefühle da oder sie sind eben nicht da. Das Dumme daran ist nur, dass man nicht so tun kann, als wären sie da, wenn sie nicht da sind. Genauso wie man nicht so tun kann, als wären sie nicht da, wenn sie eben da sind.

Argh ...! Da MUSS man ja durcheinander kommen!

»Kommst du mit an den Strand?«, traue ich mich zu fragen, nachdem ich meine Haare zu einem Flechtzopf gebunden habe. In letzter Zeit glätte ich sie kaum noch. Zum einen, weil es sowieso nichts bringt, und zum anderen ... Darüber möchte ich lieber nicht nachdenken.

»Was willst du denn da? Ist nichts anderes als in L.A.« John stöhnt, ohne den Blick von seinem Handy zu nehmen. »Lass uns lieber ins Spa gehen. Ich brauche mal wieder eine anständige Massage.«

Ich verneine. Ehrlich gesagt habe ich keine besonders große Lust, mich von fremden Menschen anfassen zu lassen, während mein Kopf mit dem Gesicht nach unten in einer Kuhle steckt.

Dementsprechend läuft es genauso wie in den letzten Jahren. Er macht seins und ich mache meins. Vielleicht soll es aber auch einfach so sein. Wir sind beide Menschen, die Abstand schätzen. Auch wenn ich mir in schwachen Momenten wünsche, dass wir wieder eins sind. »Dann ... wünsche ich dir viel Spaß. Bis später.«

Sein Brummen ist nicht wirklich eine Antwort, aber auch das bin ich inzwischen gewohnt. Ohne noch etwas zu sagen, gehe ich zur Tür. Der einzige Vorteil dieses Luxushotels ist, dass es direkt am Strand liegt. So dauert es nicht lange bis ich den feinen warmen Sand zwischen meinen Zehen spüre.

Dennoch hält selbst im Sonnenstaat Amerikas langsam der Herbst Einzug. Die vom kühlen Wind getriebenen Wellen brechen an den Klippen und lassen dazwischen nichts als Stille zurück. Seit ich denken kann, übt das Meer auf mich die größte Faszination aus. Es kann sanft und klar sein, aber auch rau und unergründlich.

Genauso wie wir Menschen.

Erneut weht mir eine frische Brise ins Gesicht, die an meiner Strickjacke zerrt. Ich wickele sie fester um den Körper, schließe die Augen und atme tief ein. In solchen Momenten bin ich ganz bei mir. Ich denke nicht über die Zukunft nach und versuche, die Vergangenheit zu vergessen. Ich bin einfach im Hier und Jetzt.

Ich fühle.

Als das Rauschen der Wellen an meine Ohren dringt, kann ich sie für einen Moment tatsächlich spüren. Grenzenlose Freiheit. Instinktiv schlinge ich meine Arme um die Taille und atme ein paar Mal bewusst ein und wieder aus. So als könnte ich damit die Wärme, die an diesem Oktobertag in mir aufsteigt, für immer festhalten.

Dabei ist nichts für die Ewigkeit. Vielmehr ist das Leben eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Es gibt schlechte, aber auch gute. Leider neigen wir oft dazu, nur das zu sehen, was schiefläuft, anstatt uns an dem zu erfreuen, was das Leben zu bieten hat. Wir sehen nicht mehr all diese bunten Farben um uns herum, sondern nur schwarz-weiß. Auch wenn ich versuche, mich in Momenten wie diesen vom Gegenteil zu überzeugen.

Ein letztes Mal sauge ich die frische Meeresluft in meine Lungen, ehe ich die Augen langsam öffne. Die Sonne erkämpft sich ihren Weg durch die dicken Wolken. Genauso wie ich es oft tue, wenn die dunklen Gedanken ihre langen Schatten auf meine Seele werfen. Wenn ich mir die Frage stelle, wieso ich überhaupt auf dieser Welt bin. Was meine Aufgabe hier ist. Ich musste schon öfter die ein oder andere Prüfung bestehen. Aber was will das Schicksal mir damit sagen? Dass dich jede Last, die das Leben dir auferlegt, stärker macht?

Doch bin ich das wirklich? Stark?

Sicher. Ich versuche es so aussehen zu lassen. Tief in meinem Inneren bin ich zerbrochen. Nur die übriggebliebenen Trümmer halten meine zerstörte Seele zusammen. Und ich? Ich bin der einzige Soldat auf diesem Schlachtfeld. Die Leichen, die diesem Krieg bereits zum Opfer gefallen sind, sie rauben mir den Mut. Machen mir Angst. Trotzdem stehe ich da mit erhobenem Schwert und versuche mit aller Macht, den Widerstand niederzuzwingen. Denn ein guter Soldat fragt nicht nach dem Grund. Er kämpft. Bis entweder er oder der Gegner schachmatt ist. Doch es ist verflucht schwierig, jemanden zu besiegen, wenn dein Herz, die Mauer, die du dir in all den Jahren mühsam errichtet hast, Stück für Stück bröckeln lässt. Wenn du versuchst, sämtliche Gedanken an einen Menschen zu unterdrücken, er dich aber auf fast schon perfide Art und Weise dazu zwingt, nicht nur ihm, sondern deinen größten Ängsten ins Gesicht zu blicken. Ja. Tom gibt mir das Gefühl, schwach sein zu dürfen.

Er akzeptiert mich so, wie ich bin.

Doch wieso sollte man einem einzigen Menschen Glauben schenken, wenn der Rest der Welt das Gegenteil behauptet? Das ergibt doch keinen Sinn.

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und komme wie beim letzten Mal zum gleichen Ergebnis. Ganz egal, was das zwischen Tom und mir ist, ich darf diesen Funken nicht anzünden. Sonst steht meine Welt bald komplett in Flammen.

Als ich die Suite betrete, wartet John schon auf mich. »Wozu hast du eigentlich ein Handy, wenn man dich doch nie erreicht?«, wettert er und befiehlt mir, ohne auf eine Antwort zu warten, dass ich dafür sorgen soll, tageslichttauglich zu werden, damit wir endlich etwas essen gehen können.

Eigentlich habe ich gar keine Lust, unter Menschen zu gehen. Dennoch nicke ich wie immer brav und begebe mich ins Bad.

»Geht doch«, meint er, als ich in einem schwarzen Cocktailkleid und mit hochgesteckten Haaren sowie der üblichen Menge Make-up wieder vor ihn trete.

Ich will es nicht, aber gedanklich mache ich für diese Reaktion erneut einen Strich für die Gegenseite. Wenn das so weitergeht, wird die Mauer, die ich eben wieder ein Stückchen höher gezogen habe, in sich zusammenklappen wie ein Kartenhaus.

Auch heute sucht John das Menü aus. Diesmal gibt es zwar keinen Fisch, aber ich bin auch kein Fan von blutigem Steak. Dennoch sage ich nichts. Immerhin sitzen wir nicht alleine hier. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, stochere ich in meinem Essen herum und höre mit einem Ohr Johns Erzählungen zu. Wie immer gibt es für ihn nur ein Thema – seinen Erfolg.

Ich freue mich für ihn, dass er sich mit Seven Clouds einen lange gehegten Traum erfüllt hat. Manchmal frage ich mich allerdings, ob das wirklich alles im Leben ist. Geld, Erfolg, Ansehen. All diese Dinge, nach denen ein Großteil dieser Gesellschaft strebt. Sind wir wirklich nur dann etwas wert, wenn wir die Ansprüche von anderen erfüllen? Dabei ist das Leben doch kostbar genug. Wir alle sind doch auf unsere eigene Art und Weise wertvoll. Ein Geschenk, das du bekommst, versuchst du ja auch nicht besser zu machen. Du freust dich darüber.

Wieso schaffen wir das dann bei diesem schönsten von allen nicht? Genießen einfach die Momente, die man uns schenkt.

Schließlich weiß keiner von uns, wann der Vorhang fällt. Sollten wir dann nicht lieber mit einem Applaus diese Bühne des Lebens verlassen, anstatt das Gefühl zu haben, dass das Publikum froh ist, uns los zu sein? Nicht etwa, weil unsere Performance nicht gut genug war, sondern weil wir niemanden berühren konnten. So ist es doch mit allem. Egal, ob wir singen, tanzen, schreiben, malen oder auf anderen Wegen Kreativität ausleben. Am Ende zählt nicht, ob unsere Wortwahl perfekt ist. Wichtig ist, dass wir unser ganzes Herzblut auf die leeren Seiten tropfen lassen, die ein jeder von uns mitgegeben bekommt. Das ist das, was ein Buch für mich besonders macht. Diese Achterbahnfahrt der Gefühle, auf die ich mich beim Lesen einlassen kann. Zeilen voller Trauer und Verzweiflung, die mir Tränen in die Augen treiben, nur um im nächsten Moment herzhaft zu lachen.

Leider schaffe ich das im wahren Leben nicht. Obwohl ich mich in die Gefühle von anderen sehr gut hineinversetzen kann, bin ich für meine eigenen blind und taub. Diese feinen Antennen, sie funktionieren bei mir einfach nicht. So als würde in mir ein riesengroßes Funkloch herrschen.

»Und Blondie? Was sagst du?«

Langsam hebe ich den Kopf. »Hmm?« Hatte er etwa was gesagt? Bestimmt hat er das, so genervt wie er schon wieder schaut. Er meint immer, ich wäre eine Träumerin, die ihre Zeit damit verschwendet sich in ihren Gedanken zu verlieren, anstatt Taten sprechen zu lassen.

Er stöhnt. »Ich habe dich gefragt, was du davon hältst, wenn wir Nägel mit Köpfen machen.«

Nägel mit Köpfen?

»Wir sind jetzt schon so lange zusammen und ich denke, es wird Zeit für den nächsten Schritt.«

Den nächsten Schritt?

Bin ich die Einzige, die mal wieder nur Bahnhof versteht oder sollte das gerade wirklich so etwas wie ein Heiratsantrag sein? Wenn ja, dann ist es der unromantischste, den ich je bekommen habe. Gut. Eigentlich ist es der erste überhaupt.

John schiebt mir ein kleines dunkelblaues Kästchen zu. Genauso wie an diesem Abend. Es kommt mir vor, als würde sich dieser Film noch einmal abspulen. Nur dass er diesmal ein anderes Ende haben wird. Eines, von dem ich nicht weiß, ob es mir besser gefällt.

Der übergroße Diamant, der in einen wuchtigen Platinring eingefasst ist, strahlt mir förmlich entgegen und streut erneut tausende von Fragen in mein Gedankenchaos. Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel? Hängt es vielleicht mit dem Gespräch zusammen, das Nolan und er vor einiger Zeit geführt haben? Fakt ist, dass es bei jemandem, der bereits zig Paaren zu ihrem Glück verholfen hat, ziemlich seltsam aussehen muss, wenn er sein eigenes Glück noch nicht gefunden hat. Wahrscheinlich wirkt es nicht authentisch genug, dass jemand, der offiziell allein ist, in Interviews ständig von Liebe und der Suche nach dem passenden Puzzleteil spricht. Dabei ist diese App lediglich darauf ausgelegt, Menschen zusammenzubringen, die laut speziellen Tests, die gleichen Charaktereigenschaften und Ziele im Leben haben.

»Seven Clouds – Sie suchen nach dem Partner, der zu ihnen passt? Wir finden ihn für Sie ... innerhalb weniger Minuten.«

Wie es typisch für Amerika ist, wurden gerade in Sachen Marketing keinerlei Kosten und Mühen gescheut. Aber auch die stetige Verbesserung dieser Persönlichkeitstests lässt sich John bestimmt einiges kosten. Trotzdem verdient er mehr als genug. Scheinbar geben Menschen gerne ein Heidengeld dafür aus, dass irgendein Computerprogramm ihnen den Partner fürs Leben heraussucht.

Vielleicht sind wir heutzutage aber auch einfach so. Statt auf unser Herz verlassen wir uns lieber auf die Technik. Die ist beständiger als das seltsame Kribbeln im Bauch, wenn man einem anderen Menschen zum ersten Mal gegenübersteht und instinktiv weiß: Der ist es.

Wir brauchen Sicherheiten. Wie in einer Geschäftsbeziehung. Eine Bank gewährt dir ja auch keinen Kredit, wenn du nichts vorzuweisen hast. Ganz egal, wie sehr du für deinen Traum brennst. So läuft es auch bei der Partnerwahl. Mit jemandem, der Ecken und Kanten hat, verbringst du vielleicht eine Nacht, aber du würdest niemals versuchen, etwas Ernsthaftes mit diesem Menschen aufzubauen. Die Gefahr, alles zu verlieren, ist viel zu groß, wenn die anfangs sprühenden Funken sich allmählich in Rauch auflösen und das Feuer der Leidenschaft endgültig erlischt. Dinge wie gemeinsame Interessen und Ziele oder eine stabile berufliche Position bleiben hingegen bestehen. Gegensätze ziehen sich eben doch eher aus und nicht an. So unromantisch das auch klingen mag. Der Erfolg gibt John recht. Nicht selten bekommt er Hochzeitsfotos oder andere Bilder zugeschickt, auf denen glückliche Menschen abgebildet sind, die sich bei ihm dafür bedanken, dass er ihr Leben verändert hat. Zumindest schreibt er das immer ganz stolz auf die Plattformen der sozialen Netzwerke.

Ja. Seven Clouds verändert tatsächlich Leben. Auch meins. In den letzten Jahren habe ich mir oft die Frage gestellt, wie etwas, das dafür wirbt Träume zu erfüllen, es gleichzeitig schafft, meine zu zerstören. Ich weiß, dass ich diesen Gedanken nicht haben sollte, aber manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche, es hätte diese App nie gegeben.

John presst die Lippen zusammen. Entweder ist er wütend oder er wartet angespannt auf eine Antwort. Wahrscheinlich beides.

Doch was soll man sagen, wenn man den Eindruck hat, einen Vertrag abzuschließen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit? Das ich mir das ganz anders vorgestellt hat? Er muss ja nicht mal vor mir auf die Knie fallen. Aber so ein Antrag ist doch etwas Besonderes. Einer der Momente im Leben, von dem man später noch seinen Enkelkindern erzählt. Da ist es doch nicht zu viel verlangt, wenn man sich wünscht, dass sich der andere Gedanken darüber gemacht hat und es nicht einfach lieblos abhandelt wie irgendein Geschäft, oder?

Mein Blick wandert wieder zu diesem Ring. Ich mochte Johns teure Geschenke noch nie. Vielleicht weil ich weiß, dass ich ihm all das nicht mal ansatzweise zurückgeben kann. Nur meine uneingeschränkte Dankbarkeit kann ich ihm geben. Leider ist das etwas, das John nicht glücklich machen kann. Während ich an all diesen schönen Momenten, die es einst zwischen uns gegeben hat, versuche festzuhalten wie eine Ertrinkende auf hoher See, schwimmt er in seinem Erfolg.

»Hättest du bitte die Güte, dich endlich dazu zu äußern.«

Mist. Jetzt ist er wirklich sauer. Ich sollte tatsächlich etwas sagen, auch wenn ich nach wie vor keine Antwort habe. Dabei wollte ich doch genau das die ganze Zeit. Von dem Moment an, als ich mich zusammen mit ihm in diesen Flieger gesetzt habe. Mit all den Träumen und Hoffnungen, die meine Heimat mir gnadenlos zerstört hat. Und nun liegen sie quasi auf dem Silbertablett vor mir. Ich muss nur danach greifen. Zwei Buchstaben trennen mich von all dem, was ich mir als kleines Mädchen schon immer gewünscht habe.

Doch bin ich wirklich noch dieses Mädchen? Ändern Wünsche sich, bevor sie in Erfüllung gehen? Oder steckt hinter all dem bloß die Angst sich in unbekannte Gewässer zu begeben?

Obwohl in meinem Kopf immer noch das reinste Chaos herrscht, ringe ich mich zu einer Entscheidung durch. »Ja.« Es ist nur ein Wort, aber aus irgendeinem Grund versagt meine Stimme kläglich. Ich räuspere mich und ringe mir ein Lächeln ab.

»Also, die Antwort auf deine Frage lautet ... Ja.«

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro