Kapitel 2.2 - Himmel ohne Sterne

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Ich schüttelte den Kopf und stopfte das Papier in meine Jackentasche. Was auf dem Zettel stand, hörte sich für mich vielmehr nach einer schnell erledigten Hausaufgabe zum Thema „Gedicht über Leid" an, als nach einer ehrlichen Nachricht an einen Fremden. Warum sollte diese Daisy jemandem, den sie gar nicht kennt, ihr Leid klagen? Um Aufmerksamkeit zu bekommen? Wollte sie den Zettel irgendwo verstecken oder ihm jemanden zustecken?

Ich merkte nicht, dass ich mir den ganzen Heimweg über Daisy und ihren Zettel Gedanken machte, bis mich Teal aus meinem Tagtraum holte. Sie kam im Rollstuhl mit einem Grinsen auf mich zugefahren und umkreiste mich so lange, bis ich stehen blieb.

„Was grinst du denn so?", fragte ich.

„Das hier", sagte sie und hielt ein Gänseblümchen in der Hand, „lag vor der Garagentür." Sie wackelte mit den Augenbrauen und grinste mich schelmisch an.

„Und?"

„Hat da etwa jemand eine Verehrerin?" Sie sah mich eindringlich an.

„Nein."

„Und wie erklärst du dir dann die Blume vor deiner Tür?"

Ich kramte meinen Schlüssel aus dem Rucksack und schloss besagte Tür auf.

„Hey Leute!", rief Phuc, der gerade die Einfahrt hereinspaziert kam. „Was geht ab?"

„Earl hat eine Verehrerin. Er hat eine Blume bekommen."

„Oh ja, die ist von mir." Phuc machte einen Kussmund und zwinkerte mir zu.

Teal lachte und schlug ihm spielerisch auf den Arm. „Lass das. Es ist ernst, Fuck."

„Nenn mich nicht so", lachte er.

„Was denn, das ist dein Name. Lust auf 'ne Runde Basketball?"

Ich beachtete die beiden nicht weiter und betrat die Garage. Einer der wenigen Orte, an denen ich meine Ruhe hatte. Tante Annie hatte sie für mich hergerichtet, als ich von Frankreich nach England kam. Das Haus war gerade groß genug für ihre Familie, mir konnten sie nur noch die Garage anbieten. Mit Betonboden und kalten Wänden war es nicht gerade kuschelig. Das machte mir aber nichts aus. Das Teil war riesig. Ich hatte ein großes Bett, ein Sofa und eine richtige Filmecke mit Filmregal, Leinwand und Beamer.

Als ich am Anfang hier wohnte, verschanzte ich mich monatelang in der Garage und tat nichts anderes als den ganzen Tag Filme und Serien zu schauen. Eine Nebenwirkung davon: ich kannte gefühlt jeden Schauspieler bei vollem Namen.

Teal war die einzige, die mich nicht zwang zum Essen zu kommen, oder mal nach draußen „an die frische Luft" zu gehen.

(„Frisch" konnte man das nun wirklich nicht nennen. Die Nachbarn hatten es sich zum Hobby gemacht, in ihrem Ofen Zeug zu verbrennen, das man besser nicht verbrennen sollte, wenn man keinen Lungenkrebs bekommen wollte. Niemand wusste, was es war, aber es stank ungeheuerlich und produzierte dunkelgraue Rauchwolken, die einen am sonnigsten Tag des Jahres an den Weltuntergang glauben ließen.)

Zwar drängten mich Tante Annie und Roger nie direkt, aber man sah ihnen an, dass sie mich nur zu gerne einmal angeschrien und am Ärmel an den Esstisch gezogen hätten. Teal war das nicht egal, aber sie akzeptierte meine Meinung.

So kam es, dass ich anfing mit ihr auf den Basketballplatz zu gehen. Sie saß im Rollstuhl und trotzdem zog sie mich jedes Mal ab. Irgendwann lernte ich auch ihren Kumpel Phuc kennen und seitdem spielten wir regelmäßig zu dritt Basketball. Phuc und ich gegen Teal. Sie gewann trotzdem immer. Ich wollte es nur ungern zugeben, aber Basketball lenkte mich von der Scherbenwelt ab, die in meinem Inneren stechende Schmerzen verursachte, sobald ich an Maman dachte. Phuc und Teal wurden schon bald meine engsten Freunde.

Die beiden waren gerade im letzten Jahr ihrer Schulzeit; ich war ein Jahr älter und hatte meinen Abschluss schon. Für einen richtigen Job fehlte mir allerdings jegliche Motivation. Nur um Annie friedlich zu stimmen, half ich ab und an am Flughafen aus. Baines kam auf diese grandiose Idee... Nur weil ich Astronomie mochte und schon immer Astronaut werden wollte, hieß das noch lange nicht, dass mich Flugzeuge glücklich machten. Im Gegenteil. Ich wurde die ganze Zeit daran erinnert, dass mir etwas fehlte, wenn ich aus einem der unzähligen Fenster sah und ein Flugzeug am Himmel bemerkte. Mir wurde jedes Mal bewusst, dass ich niemals Astronaut werden könnte und dass Maman so lange unerreichbar bleiben würde, bis ich selbst starb.

Ich wollte sterben. Aber betüttelt von Annie und Baines war das ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Stimmen vor der Garage waren verstummt. Ich saß allein auf meinem Bett und wünschte mir nichts sehnlicher als eine warme Umarmung von meiner Mutter. Sie würde mich anlächeln und mir über die Wange streichen und mir sagen, wie froh sie war, dass sie mich hatte. Wir würden im Garten hinter unserer kleinen Holzhütte sitzen und den Nachthimmel beobachten. Lediglich das Zirpen der Heuschrecken würden wir hören. Hin und wieder würden wir eine Sternschnuppe aufblitzen sehen und meine Mutter würde mir die Sternbilder erklären, obwohl ich sie selbst schon alle auswendig kannte.

Ich wischte mir eine Träne aus dem Gesicht.

In solchen Momenten gab es nur eine Sache, die mir half, nicht völlig zu verzweifeln. Wie hypnotisiert ging ich auf die Hintertür der Garage zu und drückte die Klinke herunter.

Die Nacht lag schwer auf der großen Wiese hinter dem Haus. Der Wald am Horizont verschmolz mit dem Himmel zu einem tiefen Schwarz. Kein einziger Stern war zu sehen. Dunkle Wolken raubten Mond und Sternen in dieser Nacht jegliches Licht. Nur die Häuser am Rand der Wiese spendeten einen Funken Helligkeit. Aus den Fenstern schimmerte warmes Licht nach draußen. Familien aßen zusammen, unterhielten sich und lachten. Bestimmt hatten manche auch einen Kamin, an dessen Feuer sie sich alle zusammen wärmen konnten. Die Hände um eine Tasse mit heißer Schokolade geschlungen, genossen sie die Gesellschaft der Familie.

Draußen wehte ein kalter Wind. Ich zog die Kapuze meines Pullovers auf und stampfte mit verschränkten Armen durch das kniehohe Gras. Die Blätter der Hecken und Sträucher, die sich wie einsame, schwarze Gestalten aus dem Gras erhoben, raschelten leise – als würden sie sich etwas zuflüstern.

Nach einer Weile erreichte ich den großen Busch in der Mitte der Wiese. In dem hohen Gras wucherten allerlei Pflanzen, aber die Eibe war mit Abstand die größte. Stolz ragte sie in die Nacht hinein und wachte über die gesamte Wiese, von den Häuserreihen bis hin zum Wald.

Ich setzte mich ins Gras. Es war an dieser Stelle neben der Eibe schon ganz plattgedrückt, weil ich fast jede Nacht hierher kam. Ich ließ mich rücklings auf den Boden sinken und blickte auf die dunkle Wolkendecke über mir.

Im Schutz der Eibe und des hohen Grases um mich herum, fühlte sich die Nacht weniger kalt an. Der Wind konnte mich hier nicht finden.

Ich kam hier her, wenn ich das Gefühl hatte, die Welt wollte mich nicht. Dann schaute ich in den Nachthimmel und beobachtete wie die Sternbilder in der Dunkelheit wanderten. Es fühlte sich dann fast so an wie früher, als ich mit Maman auf der Terasse hinter unserer Holzhütte saß. Umhüllt von einer dicken Wolldecke und mit einer Tasse heißer Schokolade in den Händen. Wir blickten in den Nachthimmel und sie zeigte auf den hellsten Stern.

„Das ist Sirius", sagte ich.

Sie lächelte mich an und man konnte genau sehen, wie stolz sie auf mich war. Wie viel ich ihr bedeutete und wie froh sie war, dass sie mich hatte. „Nur du und ich und die Sterne", flüsterte sie. „Es ist wie unser eigenes kleines Universum."

Das sagte sie immer, wenn sie mir die Sternbilder erklärte. Sie brachte mir bei, welche Planeten es gab und wie sich die Konstellation von Sternen und Planeten mit den Umständen veränderte. Das Weltall faszinierte sie und mich faszinierte ihre scheinbar endlose Leidenschaft für alles, was sich außerhalb der Atmosphäre der Erde befand.

Die Sterne waren das einzige, was mir nach ihrem Tod von unserem „eigenen kleinen Universum" geblieben war. Maman liebte das Weltall so sehr, dass ich mir vorstellte, dass sie nach ihrem Tod bestimmt von den Sternen aus zu mir herunter schaute. Nach all den Jahren ohne sie, waren die Sterne immer ein Trost gewesen. Eine Erinnerung an den einzigen Menschen, der mir Halt gab.

Aber diese Nacht war kein einziger Stern am Himmel.

Still und leer.

Pechschwarz und ohne Licht.

So war der Nachthimmel ohne die Sterne – und so fühlte ich mich ohne meine Mutter.

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Gedanken zum 2. Kapitel? :) Was haltet ihr von Daisy? Und was denkt ihr, was ihre Rolle in der Geschichte sein wird?

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