Das Gefühl nicht genug zu sein, ist immer da

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Triggerwarnung Suizid und Selbstverletzung

,,Wusstest du, dass ich eigentlich nicht mehr hier wäre?'', platzte es dann aus mir heraus, als ich den Deckel der Kiste gerade schließen wollte.
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, schlug ich mir die Hand vor den Mund und sah meinen fragend blickenden Freund mit großen Augen an.
,,Vergiss' das schnell wieder!'', sagte ich sofort, legte das Selfcare-Kit zur Seite und schlang die Arme um ihn, um ihm meine Lippen aufzudrücken.

,,Warte mal, Timi...'' Lukas löste mich ruckartig von sich und krallte sich an meinen Oberarmen fest.
,,Warum warten? Wollen wir nicht da weitermachen, wo wir aufgehört hatten?'' Meine Stimme überschlug sich fast und meine Augen glitten zu meiner ausgezogenen Jogginghose.
,,Lass' uns die Stimmung nicht kaputtmachen...'', lächelte ich und presste wieder unsere Lippen aufeinander.
,,Timi...'', löste er mich erneut von sich.
,,Lukas...'', grinste ich und ließ meine Finger über seine blasse Brust wandern.
,,Schlaf' mit mir.''

,,Timi, ich kann nicht mit dir schlafen.'' Lukas griff nach meiner Hand, die sich gerade an seinen Schritt legen wollte und schüttelte den Kopf.
,,Wieso nicht?'', fragte ich quengelnd und wollte mich am liebsten dafür ohrfeigen, dass mir diese eine Frage überhaupt herausgerutscht ist.
,,Was hast du da gerade gesagt? Was meinst du damit?'' Lukas legte meine Hand auf seine und fuhr über meinen Handrücken.
,,Du solltest das doch vergessen!'', meckerte ich ihn an und verschränkte die Arme vor der Brust.
,,Ich will mich nicht ständig von der schlechten Seite zeigen. Kennst du überhaupt irgendeine gute Eigenschaft von mir?''
,,Da fallen mir Tausende ein.'', lächelte Lukas und legte den Arm um mich.

,,Timi, ich will dich zu nichts zwingen und du musst es mir auch nicht sagen, wenn dir nicht danach ist, aber so einen Satz sagt man nicht einfach so.'' Lukas legte den Zeigefinger unter mein Kinn und drückte dieses nach oben.
,,Ja, das macht man auch nicht...'', gab ich seufzend zu und spielte mit dem untersten Saum meines Hoodies. ,,Ich hab' das auch nicht aus Spaß gesagt, da steckt schon was hinter.'', erwiderte ich betrübt.
Die erste Träne lief mir die Wange herunter und Lukas strich diese sofort weg. Er ließ seine Hand auf meiner Wange ruhen und streichelte zärtlich über diese, was sie angenehm brennen und meinen Bauch kribbeln ließ.

Ich musterte den Stoff der Bettdecke und wollte am liebsten alles rückgängig machen, was ich in den letzten Stunden getan hatte. Hätte ich bloß viel früher mit dem Aussortieren angefangen oder mein Selfcare-Kit nicht auf dem Bett stehenlassen.
Wenn ich es direkt weggeräumt hätte, hätte Lukas sich nicht auf dieses gelegt und mich gefragt, was es denn damit auf sich hat. Dann wäre ich nicht auf die Idee gekommen, ihm davon zu erzählen und mir wäre nicht dieser Satz herausgerutscht.
Natürlich ist es schön gewesen, ihm davon zu berichten und mich jemandem anzuvertrauen. Noch immer hatte ich ein gutes Gefühl und genoss Lukas' Nähe, obwohl ich mich ihm so geöffnet hatte.

Doch dieser Satz, der mir da ungewollt herausgerutscht ist, der durfte nicht sein. Ich bin mir nicht sicher, ob Lukas mich wiedersehen wollte, wenn ich ihm erklärte, was es damit auf sich hatte.
Er wusste, dass ich eine Zeit lang in der Psychiatrie war und auch der Brief von Alex und Marcel hatte nochmal deutlich gemacht, dass ich wegen keiner Kinderkacke in diesem Gebäude gelandet bin.
Den Grund hatte ich ihn aber nicht genannt. Ich hatte ständig einen großen Bogen darum gemacht und auch, als Lukas gefragt hatte, was denn vorgefallen ist, hatte ich so getan, als hätte ich nichts mitbekommen. Ich möchte ihn nicht verlieren...

Zögerlich hob ich den Kopf und musterte meinen Freund, der mich aufmuntern anlächelte, nach meinen Händen griff und mir einen hauchenden Kuss auf die Lippen drückte, der mein Herz schneller zum Schlagen brachte.
,,Nicht weinen, ich bin da.'', flüsterte er mir leise ins Ohr und drückte mir einige Küsse auf. Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, doch sofort verschwamm meine Sicht und ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals.
Bist du auch noch da, wenn ich dir von der schlimmsten Zeit meines Lebens erzähle? Rennst du wirklich nicht weg, oder sind deine Worte auch nur leere Versprechungen, wie bei allen anderen auch?

Ich hatte wirklich Angst vor seiner Reaktion. Lukas hatte schon viele Dinge von mir erfahren und genug Scheiße mit mir durchgemacht. Er hatte mir auch immer wieder bewiesen, dass seine Worte Gewicht hatten. Doch was ist, wenn es ihm zu viel wurde? Wenn es eine Grenze gab?
Ich atmete einmal tief durch, krallte mich an ihm fest und mir fiel das Gespräch mit Maria vor einigen Wochen ein. Seine beste Freundin hatte ihre Eltern verloren, wurde in der Grundschule aufs Übelste gemobbt und hatte niemanden - außer Lukas.
Lukas, der in der wohl dunkelsten Zeit von Marias Leben für sie dagewesen ist. Er hatte sie aufgefangen, wieder zum Lachen gebracht und nicht wie die anderen Kinder abgestempelt, sondern ihr eine Chance gegeben.

Ich sah zum Selfcare-Kit, was zwischen uns lag und wieder zu meinem Freund, der meine Hände festdrückte und mir die Tränen immer wieder aus dem Gesicht strich. Er vereinte unsere Lippen miteinander und lächelte mich an.
Ich erwiderte sein Lächeln und legte mich wortlos in seine Arme. Lukas schlang diese sofort um mich und fuhr mir liebevoll durch die Haare. Er drückte mir einen Kuss auf diese und sein angenehm warmer Atem streifte meinen Nacken.
Lukas hatte trotz seines jungen Alters so viel Verständnis für Maria gezeigt. Er hatte sie unterstützt und sie verteidigt, wenn jemand etwas gegen seine beste Freundin sagen wollte. Er hatte sie aus diesem Loch geholt und war immer da, wenn es wieder schwerer wurde.

Nachdem Gespräch und als wir bei mir Zuhause kuschelnd im Bett lagen, hatte mir Lukas erzählt, dass er nicht nur einmal bei Marias Therapeutin gewesen ist, sondern bei weiteren Terminen regelmäßig anwesend war.
Auf der einen Seite, um die Gefühlslage seiner besten Freundin besser nachzuvollziehen und auf der Anderen, weil Maria diesen Wunsch geäußert hatte. Sie fühlte sich mit Lukas zusammen wesentlich wohler und sicherer.
Die ganze Geschichte hatte die zwei für immer zusammengeschweißt und mittlerweile konnte immer mehr nachvollziehen, warum die beiden jedes noch so kleine Detail ihres Lebens miteinander teilten.

Ihre Freundschaft ist etwas Besonderes und man merkte, dass die beiden sich gegenseitig schätzten und wussten, was sie aneinander hatten. Sie konnten die Menschen sein, die sie sein wollten und mussten sich nicht verstellen, um jemandem zu gefallen.
Das Gefühl hatte ich auch, wenn ich mit Lukas zusammen bin. Ich musste mich nicht schämen, sondern konnte ehrlich zu ihm sein. Ich konnte ihn kritisieren, ohne, dass er mir böse ist. Er würde immer hinter mir stehen, egal was ich machte oder sagte.
Falls ihm irgendwas nicht passen sollte, würde er das sagen, denn wir konnten über alles reden. Ich vertraute diesem Jungen wie keinem Zweiten, denn ich wusste, dass er mich niemals verurteilen würde. Niemand verstand mich so gut wie er...

,,Lukas?'', fand ich meine Stimme nach ewigem Schweigen wieder.
,,Ja, mein Kleiner?'', harkte er lächelnd nach und drückte mir einen Kuss auf den Kopf.
,,Ich muss dir was sagen...'', atmete ich einmal tief durch und setzte mich wieder auf.
,,Timi, wenn du dich wirklich nicht bereit dazu fühlst, musst du das nicht machen. Es ist okay. Du sollst dich nicht belasten.'', setzte Lukas sofort hinterher und sah mich besorgt an.
,,Ich möchte es aber.'', sagte ich fest entschlossen und biss mir auf die Unterlippe.

,,Du hast mir auch so vieles von dir erzählt. Du bist so offen und ehrlich zu mir gewesen. Mir ist aufgefallen, dass du kaum etwas von mir weißt. Ich habe mich geöffnet, aber nicht komplett. Da gibt es noch so vieles, was du noch nicht erfahren hast.''
,,Schatz, du musst dich jetzt aber nicht dazu verpflichtet sehen, mir was zu erzählen. Ich habe das gemacht, weil ich dachte, dass dich das interessieren könnte und es sich eben ergeben hat. Du musst das nicht machen, weil ich es gemacht habe.'' Lukas legte seine Hand auf meine.
,,Natürlich würde ich gerne mehr über dich erfahren. Ich mag es deinen Geschichten zu lauschen.'' Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und küsste mich. ,,Ich habe immer ein offenes Ohr für dich.''
,,Ich weiß...''

,,Es gab vor drei Jahren einen Vorfall.'', fing ich seufzend zu erzählen an und musste mich erst einmal sammeln, weil noch nicht der Zeitpunkt da ist, um darüber nachzudenken. Ich dachte nur einmal im Jahr daran. Der Tag, an dem es passiert ist.
Ansonsten versuchte ich es immer wieder zu verdrängen und aus meinen Gedanken zu löschen. Niemand durfte diesen Tag ansprechen, denn ich wollte nichts davon hören, weil es mich kaputt machte.
,,Meine Eltern waren seit zwei Jahre getrennt. Wir sind gerade in unser neues Haus gezogen und alles war perfekt. Mama ist zufrieden gewesen und das hat mich glücklich gemacht. Endlich konnte sie ihre schreckliche Vergangenheit hinter sich lassen und nach vorne blicken.''

,,Sie hat meinen Vater vergessen und mit dem Kapitel abgeschlossen. Aber ich konnte das nicht. Egal, wie schön unser neues Leben gewesen ist, ich wollte nicht einsehen, dass das Alles vorbei ist. Dass ich Papa nie wiedersehe und er nichts mehr von mir wissen will.''
,,Ich hatte ja immer Hoffnung, dass nochmal was kommen würde, doch da gab es nichts. Trotzdem gebe ich noch immer viel auf seine Worte und seine Meinung, obwohl ich seit fünf Jahren nichts mehr von ihm gehört habe. Ich mache mir so viele Gedanken für nichts.'' Lukas nahm mich in den Arm und streichelte mir über den leicht bebenden Rücken.
,,Meine Mama und mein Stiefvater wollten auf den Weihnachtsmarkt gehen. Meine Geschwister waren bei Opa und haben Plätzchen gebacken. Sie haben mich gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber ich wollte nicht, weil ich ihnen ihre Zweisamkeit lassen wollte.''

,,Es ging mir schon seit Wochen nicht gut. Die Depressionen wurden immer stärker und schon lange habe ich an meinem schwarzen Loch herumbalanciert und darauf gewartet, in dieses zu fallen. Es hat mich fertig gemacht. Schon wieder ein Weihnachten ohne meinen Papa, ohne Geschenke oder eine Karte von ihm.'', schnaubte ich und Lukas fuhr mir die Tränen aus dem Gesicht.
,,Die Gedanken haben mich aufgefressen und auch die Stimme in meinem Kopf wurden von Tag zu Tag immer lauter. Sie haben nicht mehr aufgehört und sich gar nicht aufhalten lassen. Ich wollte, dass es endlich aufhört. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses ständige Kopfgeficke und diese schlechte Laune, obwohl es mir eigentlich gut gehen müsste.''
,,Meine Eltern haben sich verabschiedet und die Stimmen kamen wieder. Wenn ich unter Menschen war, waren sie ruhig, doch kaum war ich alleine, kamen sie aus ihrer Ecke gekrochen. Sie haben mir gesagt, dass ich ein Nichtsnutz bin und mein Vater mich niemals lieben wird. Sie haben so auf mich eingeprügelt, obwohl ich schon längst am Boden lag.''

Ich begann stärker zu weinen und Lukas handelte sofort. ,,Du kannst jederzeit aufhören, wenn es dir zu viel wird, mein Schatz. Du musst dich nicht damit belasten.'' Er nahm mich fester in den Arm und streichelte mir beruhigend über den Rücken.
,,Du kannst ruhig sagen, wenn ich dich mit der Geschichte nerven sollte. Ich will dich nicht abschrecken, oder so.'', schluchzte ich und löste mich etwas von ihm, um ihm in die Augen zu sehen.
,,Machst du nicht und könntest du niemals.'' Er küsste mich und fuhr mir die Tränen aus dem Gesicht, während er mit seinen eigenen kämpfte. ,,Du bist toll, Timi.'', flüsterte er mir ins Ohr und drückte mich an sich.
,,Danke.'', bekam ich nur heraus und räusperte mich.

,,Die Stimmen wurden immer lauter und und unerträglicher. Sie wollten keine Ruhe geben und keine Ablenkung hat geholfen. Ich hab' so viele Methoden ausprobiert, doch alles hat sich wie ein riesiger Fehlschlag angefühlt. Sie wollten sich nicht besiegen lassen.'', schluckte ich.
,,Ich hab' viel nachgedacht - über meinen Vater, was nach der Trennung meiner Eltern alles passiert und wie glücklich meine Mama mittlerweile ohne ihn ist.'' Lukas legte sich mit mir zusammen hin und zog mich auf seine Brust.
,,Da kamen wieder diese Gedanken, dass sie das Alles schon längst hätte haben können, wenn ich nicht gewesen wäre. Dass ich Schuld an allem Schlechten bin, was jedem in meinem Umfeld passiert.'' Ich weinte in seine Halsbeuge und krallte mich an ihm fest.

,,Das ist aber nicht so, Timi und das weißt du auch.'', klinkte sich Lukas sofort ein und hob mein Kinn leicht an, damit ich ihm in die Augen schauen musste.
,,Das ist relativ.'', widersprach ich ihm.
,,Dich habe ich auch in genug Scheiße geritten und wir kennen uns noch nicht mal so lange.'', seufzte ich und musterte ihn mit schuldbewussten Augen.
,,Hast du nicht.'', nahm er mir sofort den Wind aus den Segeln und streichelte meinen Hinterkopf. ,,Ich habe mich dafür entschieden, das zu machen. Du hattest nichts damit zutun.''
,,Trotzdem hätte genug passieren können... Das hätte ich mir niemals verziehen, wenn dir irgendwas passiert wäre.''
,,Es ist nichts passiert und selbst wenn, würde ich dir keine Vorwürfe machen.'' Er küsste mich, lächelte mich aufmunternd an und strich mir zärtlich übers Gesicht, was dieses Kribbeln ließ.
,,Wie ging es weiter?''

,,Die Stimmen haben mit den Vorwürfen nicht mehr aufgehört. Es war, als hätten jemand vor mir gestanden und eine Liste vorgelesen, auf der geschrieben stand, was ich alles falsch gemacht habe.''
,,Ich konnte das nicht mehr ignorieren. Von Sekunde zu Sekunde wurde es immer schlimmer.'' Ich biss mir auf die Unterlippe und ein ekeliger Schauer lief mir über den Rücken, als ich daran zurückdachte.
,,Ich konnte die Stimmen nicht mehr aufhalten. Irgendwann haben sie einfach die Kontrolle über meinen Körper gewonnen. Ich wollte, dass sie aufhören und das ging nur, in dem ich das getan habe, was sie mir gesagt haben.''

,,Was haben sie dir befohlen?'', fragte Lukas und ich konnte spüren, wie er sich anspannte, weil er sich wahrscheinlich denken konnte, was passiert ist. Ich fragte nochmal, ob er sich sicher ist, dass er das auch wirklich hören wollte.
Als er mir mit einem bestätigenden Nicken das OK gab, machte ich es mir auf seiner Brust gemütlich und erzählte ihm von einem Teil meines Lebens, von der nur eine handvoll Leute wussten, die das Ganze leider miterleben mussten.
Wenn es eine Möglichkeit gäbe, hätte ich es schon längst aus den Köpfe aller gelöscht, denn ständig hatte ich das unangenehme Gefühl, dass dieser Vorfall die Sorge und Ängste um mich extrem verschärft hatte.

Ich brauchte noch einen Augenblick, um mich zu sammeln. Ich ging tief in mich und sah in Lukas' blaugraue Augen, die eine beruhigende Wirkung auf mich hatten. Ich spiele nervös mit meinen Händen, nach denen er sofort griff und unsere Finger ineinander verschränkte.
Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und dann sprudelte es aus mir heraus. Ähnlich wie beim Selfcare-Kit, setzte ich keinen Punkt, denn ich wollte, dass er es erfuhr, bevor ich einen Rückzieher machen konnte.
Mit gespannten Augen und einem Griff, der sich mit Fortschreitung meiner Geschichte immer mehr verstärkte, erzählte ich Lukas von meinem Suizidversuch mit 15 Jahren, eine Woche vor Heiligabend.

Die nicht mehr aufzuhaltenden Stimmen hatten mich irgendwann dazu verbracht, mir ein Bad einzulassen. Als ich in Mitten von warmen Wasser und einem riesigen Schaum lag und mich entspannt zurückgelehnt hatte, kamen sie wieder.
Sie hatten mich dazu gezwungen, nach meinem Rasierer zu greifen. Mit zittrigen Fingern und einem rasenden Herz hatte ich die Klinge entfernt und mich wieder zurück an das Kopfende gelehnt.
Ich hatte die Klinge fest umschlossen in meiner Hand, als die Stimmen wiederkamen und mir nochmal verdeutlicht hatten, was für ein schrecklicher Mensch ich doch sei, was für Fehler ich begangen hatte und dass das Leben aller so viel besser wäre, wenn ich nicht mehr da wäre.

Von ihren Worten geplagt und weil ich wollte, dass es aufhört, hatte ich mich geschnitten. Es ist nicht meine Absicht gewesen, es soweit kommen zu lassen, ich wollte einen kurzen Augenblick zum Abschalten haben und mich endlich wieder spüren.
Doch die Stimmen wollten nicht ihre Klappe halten. Besonders die Worte meines Vaters hatten sie mir deutlich ins Gewissen gerufen. Schließlich sei er am Meisten enttäuscht von mir und würde nicht mehr wiederkommen, weil ich ein einziger Fehler bin.
Meine Mama wäre schon viel früher glücklich mit ihrem Leben gewesen, wenn sie nicht schwanger mit mir geworden wäre. Dann hätte es das Alles mit meinem Vater nicht gegeben, denn nur wegen mir, ist sie wieder zu ihm zurückgekommen. Ich bin Schuld an allem Schlechten.

Ich konnte und wollte nicht mehr. Mein einziger Wunsch war, dass es endlich aufhört, dass ich meine Ruhe habe und wieder aufatmen kann. Ich war erschöpft vom Leben, von den Stimmen und dem Gefühl niemals genug zu sein.
Ich wollte es beenden und das sofort. Ich wollte nicht mehr warten und darauf hoffen, dass es irgendwann besser werden würde, denn diesen Zeitpunkt gab es nicht. Ich hatte nichts auf dieser Welt verloren und sollte nur noch verschwinden.
Also hatte ich die Schnitte tiefer und länger gesetzt. Nicht nur am Handgelenk, wo ich sie mit Schminke und Pullis immer wieder versteckt hatte, damit niemand sich Sorgen machte, sondern auch an Bauch und Beinen. 

Das Wasser hatte sich erschreckend schnell in ein knallrotes Blutbad verwandelt, in dem ich glücklich vor mich hinlächelnd lag und entspannt die Augen schloss, um darauf zu warten, von dem Leid erlöst zu werden.
Mein Atem wurde immer flacher und langsamer. Meine Kräfte ließen immer mehr nach und von allein' rutschte mein Kopf in das blutdurchströmte Wasser, während ich hoffnungsvoll auf meinen letzten Atemzug wartete.
Gerade, als mein Kopf endgültig unter Wasser glitt und ich das Bewusstsein verlor, konnte ich das aufgebrachte Schreien meiner Mutter hören, die mit meinem Stiefvater früher als erwartet nach Hause kam.

Ich konnte mich kaum noch an etwas erinnern. Ich hatte mir die fehlenden Puzzleteile durch Erzählungen meiner Mama und Ärzten zusammengesetzt, weil ich überhaupt nichts mehr wahrgenommen hatte.
Ich hatte noch gerade so den hysterischen Anruf beim Notarzt und die Ohrfeige meines Stiefvaters mitbekommen, der verzweifelt versucht hatte, mich wachzuhalten. Ab dann wurde alles schwarz.
Das Nächste, an dass ich mich bewusst erinnern konnte, war das grelle Licht meines Krankenhauszimmers, in dem ich in Verbänden gewickelt lag. Viele Krankenschwestern und Ärzte standen um mich herum. Meine Mama daneben, die leichenblass und mit tränenüberströmten Gesicht dazwischen stand und versuchte, zu verstehen, was ihr gesagt wurde.

Suizidversuch. Mehrere Schnitte. Zusammengenäht. Überweisung ins Gilead IV heute Nacht. Ich hatte die Worte kaum wahrgenommen und nicht verstanden, was eigentlich passiert ist. Ich wurde notoperiert, hatte zwei Liter Blut verloren und nochmal Glück gehabt, dass meine Eltern mich rechtzeitig gefunden hatten.
Ab da ging alles ganz schnell. Meine Mutter hatte sich unter Tränen von mir verabschiedet, mich ein allerletztes Mal fest an sich gedrückt und mit einem Krankenwagen wurde ich in die Psychiatrie eingeliefert.
Wäre ich bei Kräften gewesen, hätte ich mich sicherlich dagegen gewehrt, doch sie hatten mich mit sämtlichen Medikamenten so ruhig gestellt, dass ich einfach nur da lag und nicht realisiert hatte, dass ich es nicht geschafft hatte und nun alle wussten, wie schlecht es mir wirklich ging. 

,,Lukas, sag' was...'', forderte ich meinen Freund auf, als ich meine Erzählung beendet hatte. Ich stieß ihn leicht an und er drehte den Kopf zu mir, um mich mit Tränen gefüllten Augen anzusehen.
,,Ich...'' Er presste die Lippen aufeinander und krallte sich an mir fest. ,,Die Vorstellung, dass du jetzt nicht hier wärst, wenn deine Eltern eine Minute später gekommen wären.'', schluchzte Lukas.
Er zog mich fester in seine Arme und heulte in meine Halsbeuge. Sein ganzer Körper bebte und zitterte stark. Lukas schlang seine Beine um mich und bohrte sich mit seinen kurzen Fingernägeln an mir fest, weil er Angst davor hatte, dass ich mich in Luft auflösen könnte.

,,Timi, du musst mir versprechen, dass du sofort zu mir kommst, wenn du solche Gedanken haben solltest. Ich lasse nicht zu, dass es nochmal soweit kommt.'' Er löste mich von sich und die Tränen liefen ihm wie Bäche die Wangen herunter.
,,Ich bin für dich da. Ich sag' das nicht nur so, damit du dich besser fühlst. Egal zu welcher Uhrzeit, du kannst immer zu mir kommen und es ist wichtig, dass du das weißt. Du musst diesen Kampf nicht mehr mit dir alleine ausmachen.'' Lukas küsste mich und strich über meine Arme.
,,Es ist schön, dass du hier bist. Ich bin glücklich, dass ich dich kennen lernen durfte. Du gibst mir so vieles und bist der Grund, warum ich lachen kann. Ich danke dem Schutzengel, der dich damals gerettet hat.''

Lukas legte sich in meine Arme und schluchzte in mein Shirt. Ich fuhr ihm über den Rücken, drückte ihm einen Kuss auf die Arme und eine Träne kullerte meine Wange herunter, weil es mir das Herz brach, ihn so zu sehen.
,,Danke.'', war das Einzige, was ich über die Lippen bringen konnte. Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und drückte ihm einen Kuss auf. Lukas krallte sich an mir fest und verlagerte sein komplettes Gewicht auf mir.
Meine Mundwinkel zuckten nach oben und obwohl das Thema mich sonst so fertigmachte, fühlte ich mich... gut. So ungewöhnlich das klingt, aber es ist schön, mich ihm anvertraut zu haben und zu sehen, dass er noch immer in meinen Armen lag.

,,Timi?'', fragte Lukas, nachdem er sich beruhigt hatte.
,,Hmmm?''
,,Kann ich dich was fragen? Möchtest du noch darüber reden?'' Er stützte sich mit seinen Unterarmen auf meiner Brust auf und sah mir tief in die Augen.
,,Was möchtest du denn wissen?'', harkte ich nach und streichelte ihm durch die Haare.
,,Wie ist es in der Psychiatrie gewesen?''
,,Ähm...''
,,Du musst das nicht beantworten, wenn du nicht willst. Es ist alles gut.'' Lukas sah mich entschuldigt an und biss sich auf die Unterlippe.
,,Nein, es ist okay.''

,,Die Zeit in der Psychiatrie ist sehr krass gewesen. Als ich am nächsten Tag aufgewacht bin und mir klar wurde, was passiert ist, bin ich überhaupt nicht klargekommen und wollte sofort wieder raus.'', fing ich zu erzählen an.
,,Ich weiß noch, dass ich total ausgerastet bin und mein halbes Zimmer auseinandergenommen habe. Die haben mich dann mit irgendwelchen Medikamente ruhig gestellt.'', seufzte ich und streichelte über seinen Rücken.
,,Als ich mich beruhigt habe, hatte ein Arzt mir erklärt, was im Krankenhaus passiert ist und wie es jetzt weitergehen würde. Ich habe den ganzen Tag geweint, weil ich solche Angst um meine Mama hatte. Andauernd hatte ihr traumatisiertes Gesicht vor mir.''

,,Das hat mich richtig gefickt, dass ich nicht wusste, wie es ihr geht. Sie ist so glücklich gewesen und dann komme ich und mache alles kaputt.'' Eine Träne rollte mir aus dem Augenwinkel und Lukas strich diese sofort weg.
,,Wie lange musstest du denn dort bleiben?'', fragte Lukas.
,,Ich bin ganze vier Monate dort gewesen. Es war nicht immer einfach und der Klinikaufenthalt hat mich eher genervt, weil ich mich mal so richtig mit meinen Sorgen und Problemen auseinandersetzen musste, aber rückblickend betrachtet war es die beste Lösung.''
,,Durftest du denn irgendwann auch mal nach Hause oder Besuch empfangen?''
,,Ich glaube, ab der dritten Woche durfte ich jedes Wochenende nach Hause. Obwohl es da auch darauf ankam, wie ich mich die Woche über verhalten habe.'', erklärte ich ihm.
,,Wie ist das für dich gewesen wieder Zuhause zu sein?''
,,Ungewohnt und als der Vorschlag gemacht wurde, wollte ich das auch nicht. Ich hab' mich total geschämt und wollte nicht den Menschen unter die Augen treten, die ich so enttäuscht habe. Ich wäre viel lieber ausgewandert und hätte mir eine neue Identität zugelegt.''

,,Doch es ist mir keiner böse gewesen oder hatte mir Vorwürfe gemacht. Ich weiß noch, dass meine Mama mich einfach in den Arm genommen hat. Wir standen locker zehn Minuten da und hatten uns in den Armen gehalten, ohne was zu sagen. Das ist auch nicht nötig gewesen, weil sie glücklich war, dass ich noch da bin.''
,,Ich wurde auch nicht plötzlich mit Samthandschuhen angefasst. Über den Vorfall haben wir nicht geredet, das war auch besser so. Sie haben sich so verhalten, als hätte es das nicht gegeben. Also klar, sie haben mich auch etwas über die Klinik gefragt, mehr aber auch nicht. Es wurde da angeknüpft, wo wir aufgehört haben.''
,,Die Wochenenden Zuhause haben mir auf jeden Fall sehr gut getan und mir genug Kraft gegeben, dass durchzuziehen. Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit hatte. Der Schock saß natürlich immer noch tief und das habe ich auch meiner Mama angesehen, wie schwer ihr das Ganze fällt. Aber die Distanz zwischendurch hat gut getan und das haben wir gebraucht.''

,,Bist du denn glücklich, dass du dort gewesen bist? Also... Hat es dir was gebracht?'' Lukas legte fragend den Kopf schief und seine zarten Finger auf meiner Haut zu spüren, die über meine Wangen fuhren, brachten mein Herz zum Rasen.
,,Auf jeden Fall. Es hatte das Problem nicht für immer gelöst und ich bin noch in ambulanter Therapie gewesen, weil da da noch vieles gab, was aufgearbeitet werden musste, aber es hat mir geholfen, meine Probleme zu erkennen.''
,,Ich konnte mich auf mich und meine Gefühle konzentrieren - beziehungsweise ich musste es ja machen. Damals hat mich das total abgefuckt, aber es ist wichtig, dass ich darüber geredet und mich damit auseinandergesetzt habe.'', lächelte ich.

,,Wie ist die Zeit danach gewesen? Ist es dir schwer gefallen, sich wieder in den normalen Alltag zu integrieren? Hat sich irgendwas geändert?''
,,Ich hatte wirklich Glück, dass Alex und Marcel zu diesem Zeitpunkt noch auf eine Schule mit mir gingen. Wir waren leider nicht in einer Klasse, aber sie haben mir geholfen, den Anschluss wiederzufinden.''
,,Das ist für die zwei wahrscheinlich auch nicht leicht gewesen...''

,,Nein, überhaupt nicht. Die hatten da auch sehr dran zu knabbern. Aber sie haben mir in dieser Zeit gezeigt, dass sie immer hinter mir stehen. Sie haben dauernd in der Psychiatrie angerufen, um zu wissen, wie es mir geht. Sie haben ganz viele Briefe geschrieben und waren immer da, wenn ich am Wochenende nach Hause kam.''
,,Ein bisschen geändert hat sich auch was nachdem Aufenthalt. Alle Scheren, Anspitzer und Gegenstände, mit denen ich mich verletzen könnte, wurden aus dem Haus verbannt oder vor mir versteckt.''
,,Wenn ich unterwegs gewesen bin, musste ich jede halbe Stunde eine Nachricht schreiben, wo ich bin und was ich mache. Ansonsten gab es da nicht viele Veränderungen und die, die getroffen wurden, haben mich nicht gestört.''

,,Also natürlich hatte das am Anfang einen bitteren Beigeschmack und ich wollte das nicht einsehen. Es hatte sich so angefühlt, als würde man mir nicht mehr vertrauen und als würde ich die erste Gelegenheit nutzen, um mir was anzutun.''
,,Es hat meinen Eltern aber Sicherheit gegeben und kann man auch nicht so tun, als hätte es diesen Vorfall nicht gegeben. Es sollte alles so normal wie möglich bleiben, aber trotzdem sollte keiner vergessen, was passiert ist.''
,,Wussten die Leute aus deiner Schule davon?''
,,Jein. Der Schulleiter und meine Klassenlehrerin wurden darüber informiert, sie haben es aber nicht offen angesprochen. Ich bin halt nicht mehr dagewesen. Das Gerücht hat aber schnell die Runde gemacht und sämtliche Scheiße wurde erzählt.'' Ich verdrehte die Augen und Lukas stimmte mit ein.
,,Zum Glück hatte ich Alex und Marcel, die mich sofort verteidigt und alles aus den Weg geräumt haben.'', lächelte ich. ,,Auch wenn ich am ersten Schultag schon schief angeguckt wurde und alle sich ihren Teil gedacht haben. Die haben mich wahrscheinlich für den größten Psycho gehalten. Heute ist mir das egal, aber damals hat es mich schon fertiggemacht. Ich bin ja schon immer zur Zielscheibe geworden und dadurch noch mehr.''

,,Das ist wirklich... Also... Wow...'' Lukas schüttelte beeindruckt den Kopf und verarbeitete die Worte. Er musterte mich, fuhr mir einige verirrte Strähnen aus dem Gesicht und verlor eine Träne aus dem Augenwinkel.
,,Du bist so stark.'', lächelte er und küsste mich. ,,Es ist wirklich krass, was du mit deinen gerademal 18 Jahren alles durchmachen musstest.'', seufzte er leise und mit seinem Gesicht näher.
,,Du hast das nicht verdient.'' Er legte die Arme um mich und küsste mich immer wieder. ,,Ich werde dafür sorgen, dass es dir immer gut geht und du eine schöne Zeit hast. Das ist das, was du verdient hast, Baby.''
,,Und das schaffst du auch mit jeder Sekunde, die ich mit dir verbringen darf.''


Telefon-Seelsorge (Kostenlos und 24 Stunden erreichbar): 0800 - 111 0 11 (ev.)
0800 - 111 0 222 (rk.)

0800 - 111 0 333 (Für Kinder und Jugendliche)


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