{Grenzenlos}

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Grenzenlos

Die Welt ist geteilt. Nicht in gut und böse, nicht in schwarz und weiß.

Die Grenze ist nicht sichtbar, doch sie ist spürbar; allerdings verlassen sich nur noch wenige Menschen auf ihre Gefühle, weshalb sie für sie dann doch unsichtbar erscheint.

Auch für Irvina war die Grenze nur so sichtbar wie eine feine Staubflocke in der Luft.

Der dreiundzwanzigste November sollte kein schöner Tag für sie werden.

Sie schrieb mit heftigen Kopfschmerzen eine Mathearbeit und bekam in der darauffolgenden Stunde den Geschichtstest zurück, den sie erst vor ein paar Tagen geschrieben hatte. Die Note war nicht gut und nicht schlecht, doch im Mittelfeld zu landen, war für Irvina fast schmerzhafter, als durchzufallen.

Sie ging über die Flure zu ihrem nächsten Klassenzimmer, sie aß in der Cafeteria. Das Essen schmeckte nach nichts, der Raum war grau und das Licht blass.

Irvina hörte nicht einmal mehr ihre eigenen Gedanken, ihre Umgebung bestand aus einem dröhnenden Rauschen. Sie begrüßte eine kleine Gruppe Mädchen und ging dann zwischen den Wänden wieder zurück zu ihrem schmalen Spind.

Ihre Hand zitterte nicht, als sie ihn aufschloss und heftig an der Tür zog, die nur mühsam aufsprang, weil das Blech verbogen war.

Sie griff nach ihrem Geographiebuch und wollte die Spindtür gerade wieder schließen, als die Rückwand irgendwie ... flimmerte.

Irvina zog die Augenbrauen zusammen und streckte zögernd die Hand aus. Doch anstatt gegen die kühle Wand zu stoßen, floss ihre Hand durch die Mauer hindurch. Fasziniert ging Irvina einen Schritt weiter auf ihren Spind zu, bis sie sich schließlich ganz hineinquetschte.

Der Spind war schmal, denn ihre Schule hatte wenig Geld und normalerweise hätten nur die knochigsten Mädchen mit den filzigen Haaren hier hinein gepasst, aber heute schienen sich die Grenzen des Spindes irgendwie auszuweiten.

Ohne nachzudenken, denn was brachte das schon?, ging Irvina immer weiter, war wie hypnotisiert von der vor ihr liegenden Unendlichkeit. Sie war schon längst nicht mehr in ihrem grauen Spind – sie stand auf einer dunkelroten Wiese, über ihr ein dunkelblauer Himmel, gespickt mit violetten und roten Lichtern. Die Luft war gefüllt mit summenden Insekten, vor denen Irvina erschrocken zurückzuckte.

„Weg da, oder ich enthaupte dich!"

Irvina schlug sich die Hände vor den Mund und sah sich panisch um. Wer hatte gesprochen?!

Dort hinten war ein dichter Wald – stand jemand hinter einem der Bäume?! Aber war die Stimme nicht näher gewesen?

„Hey, Waschlappen!"

Irvina drehte sich schneller um sich selbst, in der Hoffnung, irgendwo etwas zu sehen, was zu dieser Stimme passte -

„Wie blind kann man sein? Ich bin hier ... nein, nicht da! HIER!"

In dem Moment flog Irvina eine Mücke so dicht vors Gesicht, dass sie aufschrie und nach dem kleinen Insekt schlug.

„Hey, lass das!", sagte die Mücke. Der nächste Schrei, den das Mädchen ausstieß, war noch lauter als der vorherige. Dann tötete sie die Mücke mit einem einzigen Klatschen.

Jetzt, wo die Stimme weg war, konnte sie ihren Herzschlag umso lauter hören.

Sie atmete einmal ein.

Dann aus.

Wieder ein.

Und -

„Du bist eher langsam unterwegs, oder?! Du stehst seit circa drei Jahren auf der gleichen Stelle!"

Die Mücke war zurück und starrte Irvina wütend an.

„Was ... was bist du?", wisperte sie fasziniert.

„Eine Nematocera Magicae Lilac!"

„Was?"

Die Mücke seufzte: „Eine magische lila Mücke. Aber du kannst mich auch Nematocera nennen."

Irvina lächelte gequält, räusperte sich und sagte dann vorsichtig: „Nema – was?"

Die Mücke wiederholte ihr tiefes Seufzen: „Na gut. Nenn mich Tocera. So nennen mich die Wolken auch immer."

„Die ... du redest mit Wolken?!"

Die Mücke schien wieder Seufzen zu wollen, aber sie entschied sich im letzten Moment dazu, doch nur die Augen zu verdrehen: „Natürlich rede ich nicht mit den Wolken. Die sind alle viel zu weinerlich! Sie versuchen nur dauernd eine Unterhaltung mit mir zu starten, aber da ich leider so unglaublich gefragt bin – hey, wo gehst du hin?!"

Irvina war an der fliegenden Mücke vorbei auf den Wald zugegangen: „Ich will die Welt hier kennenlernen!"

„Wieso? Wo kommst du denn her?"

„Aus meinem Spind."

„Ein Spind ist deine Welt?! Mein Gott, wie langweilig ist dein Leben denn bitte?!"

„Es ist ... jepp, es ist langweilig.", stimmte Irvina der Mücke zu und kam sich gleichzeitig sehr albern vor, weil sie einer Mücke zustimmte.

Die Mücke nickte und flog schließlich in die entgegengesetzte Richtung, auf einen orange flimmernden See zu: „Dann komm mit. Hier ist es nämlich nicht langweilig!"

Irvina zögerte kaum, lief der Mücke sofort hinterher. Sie wollte etwas erleben, endlich ihrem tristen Alltag entkommen.

Und dann, kurz bevor sie das Ufer des Sees erreichte, war die Mücke verschwunden. Das Mädchen sah sich unschlüssig um, rief sogar den Namen des Insektes.

Aber es tauchte nicht auf.

Irvina bemerkte jetzt erst, wie kühl es war und rieb sich fröstelnd über die Arme. Daheim war es jetzt garantiert ein bisschen wärmer, sicherer und -

„Worauf wartest du?!", rief die Mücke vorwurfsvoll und tauchte aus dem orangefarbenen Wasser auf. „Komm schon! Hier unten ist alles noch schöner!"

Irvina zwang sich, ihre aufkeimende Angst zu ignorieren und sprang ohne zu viele Gedanken zu verschwenden in den See.

Sie spürte statt Wasser eine Art Gas an ihrem Körper, als sie die Augen öffnete, war es, als stünde sie auf einem Feld voller orangefarbenem Nebel. Wo oben und wo unten war, war nicht mehr zu erkennen.

Begeistert von den bunten Schlieren um sie herum sprang Irvina etwas nach links, dann wieder nach rechts, ihre Haare wirbelten um sie herum wie Blätter im Herbst -

„Hey, Vorsicht -",- sie klatschte freudig in die Hände und bemerkte dann, dass ein totes Insekt in ihren Handflächen kleben blieb. Mit großen Augen starrte Irvina auf die tote Mücke, wusste nicht genau, ob sie jetzt irgendwie traurig sein sollte ... als die Mücke mit den Flügeln schlug und aus ihren Händen flog. „Mein Gott, kannst du bitte mal damit aufhören, mich dauernd umzubringen?! Das tut weh!"

„Sorry.", wisperte Irvina. „Aber wieso bist du nicht tot?!"

„Tot?! Tot gibt es nicht! Wir haben keine Grenzen hier, Grenzen sind was für Loser! Wir alle sind für immer hier, können gehen wohin wir wollen, tun, was auch immer wir wollen, und -"
„Es gibt keine Grenzen?"

„Keine Grenzen!", bestätigte die Mücke.

„Das heißt ... das heißt, du könntest dich theoretisch in einen Braunbären verwandeln?"

„Wieso sollte ich mich in einen Braunbären verwandeln wollen?"

„Na ja ... als Mücke ist man nicht besonders ...", die Mücke zog die nicht vorhandenen Augenbrauen hoch, während Irvina ausschweifende Gesten mit ihren Händen beschrieb, „... nicht besonders beliebt."

„Und als Braunbär schon?"

„Nein, aber -"

„Na, siehst du?! Als Mücke kann ich immerhin unauffällig Blut trinken und Menschen mit meinem einzigartigen Summen in den Wahnsinn treiben."

Irvina gab die kurze Diskussion auf und wandte sich wieder ihrer Umgebung zu.

Die orange Farbe hatte sich aufgespalten in unterschiedliche Gelb- und Rottöne, die herumwirbelten und Schwärme von Fischen mit menschlichen Augen in verschiedenen Farben umhüllten. Die Fischschwärme verdrehten die großen Augen, als die bunten Schleier in ihren Wimpern hängen blieben und schwammen in perfekter Formation weiter.

Irgendwo rechts unten erkannte Irvina ein paar Häuser aus deren Schornsteinen blaue Schlieren aufstiegen, hinter ihr näherte sich ein rosafarbener Hai ohne Zähne, der ihr nur freundlich zulächelte, als er an ihr vorbeiglitt.

„Wollen wir weiter? Hier oben ist es langweilig!", maulte die Mücke und nickte in die Richtung, in der wohl unten sein musste.

Irvina, die zu begeistert war, um noch sprechen zu können, nickte nur, bevor sie der Mücke hinterher schwebte.

Sie legten Meter um Meter zurück, Irvina traute sich nicht, zurückzublicken. Stattdessen betrachtete sie weiterhin ihre Umgebung mit weit geöffneten Augen – bis sie eine Glasscheibe sah.

Neugierig stoppte sie und ging so nah auf die Scheibe zu, dass sie hindurch sehen konnte: Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Junge.

In seinen Händen hielt er ein Handy auf dem er wild herumtippte, das Gesicht hatte er konzentriert verzogen. Der flackernde Bildschirm spiegelte sich in seinen farblosen Augen, auf seiner Stirn standen Falten.

„Tocera ... was ist das?", fragte Irvina.

„Das? Oh, wir nennen sie humane Gestalten. Du würdest das Ding da vermutlich einen Jungen nennen."

„Nein, ich meine nicht die Person ... was ist das für eine Glasscheibe?"

„Ach, das. Das ist langweilig.

Es ist eine der Grenzen. Die sind hier überall."

„Einer der Grenzen? Aber ich dachte, hier gibt es keine Grenzen!"

„Gibt es auch nicht. Es sind ja nicht unsere Grenzen; es sind eure Grenzen. Theoretisch gesehen existiert die Scheibe da nicht. Ihr humane Gestalten bildet sie euch nur ein, weil ihr euch selbst und euren fantasielosen Geist so gerne begrenzt."

Irvina ging langsam auf die Glasscheibe und auf den Jungen dort hinter zu. Er reagierte nicht.

Sie winkte ihm zu.

Er reagierte nicht.

Sie klopfte laut gegen das Glas.

Er reagierte nicht.

„Was versuchst du?", fragte die Mücke, die hinter sie geflogen war.

„Wieso kann er mich nicht sehen?", flüsterte Irvina.

„Gegenfrage: Kannst du auch mal interessantere Fragen stellen?!"

„'Tschuldigung, aber -"

„Nein! Wir gehen jetzt zu Oiwfejds Haus."

„Zu ... Oiweds Haus?"

„Du musst unbedingt noch an deiner Aussprache arbeiten, meine Liebe. Dein Mund ist nur an ordinäre, zusammenhängende Namen gewöhnt. Aber hier gibt es keine Grenzen, denk daran!"

Die Mücke schwirrte wieder an ihr vorbei, glitt durch den rot-gelb-orangenen Nebel, der sich langsam pink und dann violett zu färben schien.

Irvina folgte ihr, obwohl ihre Füße sich eigentlich nicht mehr bewegen wollten. Es gab hier keine Grenzen? Aber wo waren dann die Grenzen?!

Konnte sie sich einfach etwas vorstellen, und es würde erscheinen? Konnte sie -

„Wir sind da!"

Sie riss erschrocken den Kopf hoch und wurde geradezu geblendet von den strahlenden Neonlichtern, die ungeordnet vor ihr aufblitzten: „Wir sind schon da?"
„Ich hatte keine Lust mehr, mich zu bewegen. Also habe ich uns durch eine Zeitschleuse geschoben, um schneller voran zu kommen!"

Irvina öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch, in der Hoffnung, ihre verwirrenden Gedanken irgendwie in Worte fassen zu könnten. Sie schaffte es nicht, und die lilafarbene Mücke sah sie an, als würde sie sich fast Sorgen um sie machen.

In dem Moment kam etwas aus dem blendenden Haus, was Irvina nur grob als Wesen beschreiben konnte. Das musste dieser Oiwfedjs sein.

„Das ist Owfedi, oder?", fragte sie, stolz darauf, sich wenigstens etwas gemerkt zu haben.

„Owfedi? Was ein schlechter Name! Nennen wir es doch lieber Tzur, das ist viel leichter zu merken!"

„Aber ... aber du kannst doch nicht einfach so den Namen ändern!"

„Doch, klar kann ich! Hier gibt es keine Grenzen, schon vergessen? Das ist doch das Schöne! Du kannst tun und lassen, was du willst und wenn dir das zu langweilig wird, dann willst du eben etwas anderes. Das hier ist die Welt der Fantasie, wo wir mit falschen Vorstellungen brechen."

Irvinas Herz klopfte schneller, als ihr einfiel, dass sie dieses Klopfen vermutlich sofort beruhigen konnte. Sie konnte ihr Herz dazu bringen, stehen zu bleiben, sie konnte sich dazu bringen, zu sterben ... aber tot sein konnte sie nicht, denn dann würde sie ja eine Grenze überschreiten ... aber hier gab es keine Grenzen, also wie konnte sie überhaupt sterben? ... also gab es doch eine Grenze, weil es ihr nicht möglich war zu sterben, und, oder, oder, dann, was? - ihre Gedanken drehten sich und sie sank zu Boden, oder auf das, was eben unter ihr war.

„Ich will zurück.", wisperte sie dann leise.

„Was?", fragte die Mücke.

„Du hast mich richtig verstanden."

„Nein, das meinte ich nicht, ich habe dich einfach akustisch nicht verstanden! Also sag noch mal, ein bisschen lauter, wenn ich bitten darf."

„Ich will zurück!", wiederholte Irvina mit fester Stimme. „Ich will zurück, verdammt noch mal! Ich kann das hier alles nicht!"
„Aber hier ist alles, was du jemals wolltest! Hier ist Freiheit! Hier hast du alle Möglichkeiten, sogar jene, die dir nicht einmal im Traum einfallen -"

„Alles hier ist ... alles hier ist grundlos! Wasser, das zu Nebel wird, Mücken, die die falsche Farbe haben ... wofür lebt man hier überhaupt? Wenn es doch sowieso keine Grenzen gibt?!"

„Du willst also wirklich zurück in dein graues Leben? Dorthin, wo die Straßen nach Autoreifen stinken und die Luft immer verseuchter wird?

Wo es Wände und Druck gibt, und Regeln, die dich einengen?"

„Immerhin ist es dort logisch und man kann -"

„Zurück in die Welt der Blinden? Der Unaufmerksamen? Der Junge – weißt du, wieso er die Glasscheibe nicht gesehen hat?

Sein Geist war nicht offen genug, um die Existenz zu begreifen. All die Grenzen sind bis in sein Gehirn gedrungen und haben es lahm gelegt! Gehst du zurück, wirst du genauso werden!"

„Aber so bin ich nicht. Sonst wäre ich doch gar nicht erst hier! Ich habe die Grenze doch gesehen -"

„Nein, hast du nicht. Du hast sie zufällig gefunden."
„Aber mein Geist war offen dafür, sie zu finden. Also kann ich zurück! Ich habe bewiesen, dass ich noch Fantasie habe!"

„Bewiesen?! Mein Gott, in was für einer Welt lebst du denn! Du musstest es beweisen?"

Irvina zitterte, bis ihr plötzlich einfiel, wie dumm das hier alles war. Stritt sie sich gerade wirklich mit einer Mücke?

„Weißt du was?", fragte sie leise und hoffte, bedrohlich dabei zu klingen. „Ich gehe einfach."

„Und wie?", fauchte die Mücke. „Du findest niemals zurück! Hier kann man nicht wieder in die Vergangenheit gehen!"

„Man kann hier alles, du hast es selbst gesagt. Ich muss mir nur vorstellen, dass -", und Irvina beendete den Satz nicht, schloss einfach nur die Augen und atmete tief durch.

Eine halbe Sekunde später stand sie in ihrem viel zu engen Spind und keuchte erschrocken, als ihr klar wurde, dass sie hier drin nicht einmal ordentlich atmen konnte.

Doch sie war zurück.

Zurück zwischen Wänden, Wegen und der Unterdrückung durch andere und sich selbst.

Sie verlor ihre Fantasie – denn die Fantasie machte ihr Angst.

Die Fantasie nahm die Logik weg, versteckte sie im Nichts.

Und als ordinärer Mensch sehnte sich Irvina viel zu sehnlich nach dieser Logik.


{Geschrieben für den Wettbewerb von Thedarkheart123}
{Wörter: 2314}

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