9 - Ein Korn im Reissack

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"Jeder Wissende irrt sich, und jedes edle Pferd stolpert."

✶✶✶

Mein Mund musste offen gestanden haben, denn Luay begann so laut zu lachen, dass er damit die ganze Wüste hätte umwälzen können.

„Jetzt schau nicht so schockiert!", spottete er und hielt mir das Tablett voller honigsüsser Baklava vors Gesicht.

Meine Augen huschten zwischen seinen silbernen Seelenspiegeln und den Baklava hin und her.

„Du hast sie dir gewünscht. Nimm dir so viele du willst!"

Erst zögerte ich, doch als er sie mir noch näher unter die Nase schob, klaubte ich ein Stück mit den Fingern vom Tablett und schob es mir in den Mund. Luay beobachtete mich dabei ganz genau, wie ich kaute.

Wahrlich, es war echt! Und so süss, dass ich beinahe meine Augen vor Wohlgenuss nach hinten gerollt hätte. Luay bot seinem Bruder auch etwas vom Gebäck an, dieser schüttelte allerdings den Kopf.

Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.

Es gab überhaupt keine Erklärung für das, was ich soeben bezeugt hatte. Diese Baklava waren aus dem Nichts erschienen. Besass Luay tatsächlich magische Kräfte, wie man es den Muzedin nachsagte?

„Wie hast du das gemacht?", stiess ich meine Frage aus.

„Dieses Silbergeschirr gehörte einst einem Dschinn", erwiderte er und legte das Tablett auf den Teppich ab. „Es ist ein Familienerbstück mit äusserst nützlichen Fähigkeiten."

Das besitzt magische Kräfte?", frage ich und deutete mit dem Finger auf die Speiseglocke. „Du hast also nicht gezaubert?"

Er nickte. „Genau. Diese kleine Zauberei hat rein gar nichts mit meinen Fähigkeiten als Windflüsterer zu tun."

Der Blätterteig flog uns um die Ohren, als ich das Baklava ausspuckte.

Ich keuchte und hustete, drohte fast zu ersticken. Luays Worte hallten in meinem Schädel, als wären sie von einer Seite zur anderen herumgeschleudert worden. Windflüsterer. Meine Grossmutter hatte sich selbst so genannt. Sie verfügte über ein ausserordentliches Gehör, wenn der Wind in die richtige Richtung wehte und die Distanz sich nicht weiter als zwei Tagesmärsche erstreckte. Aber niemals hatte sie das mit Magie verbunden!

„Das ... was ...?"

Luay legte den Kopf schief und musterte mich eindringlich. „Du hast noch nie die Fähigkeiten eines Windflüsterers gesehen?"

Ich schüttelte den Kopf, was ihn dazu bewegte, aufzustehen. Er verliess den mit Teppichen bedeckten Bereich und stellte sich etwas abseits von uns breitbeinig in den Sand.

„Dann pass mal auf", kündigte er an und hob die Hände in die Luft. Leise murmelte er Worte vor sich hin.

Und da war es wieder. Das Wummern und Knistern in der Luft.

Der Wind schlug plötzlich um, in eine ganz andere Richtung als davor und begann an meiner Kleidung zu zerren. Es war, als söge Luay die Luft an, ich konnte es spüren, wie der Wind in seine Richtung drehte, sich um ihn herum sammelte. Seine blauen Gewänder flatterten und er liess die Luftströme um sich herum tanzen, immer schneller und höher, bis der Sand, der damit aufgewirbelt wurde, ihn in eine Kugel aus Wind und Staub hüllte.

Dann senkte er die Arme und der Wind verklang. Der Sand rieselte zu Boden.

Luay kam breit grinsend zurück. „Das ist nur eine kleine Demonstration, von den Dingen, die ich kann." Es klang nicht angeberisch, doch hörte ich den Stolz heraus. „Ich bin ein Windflüsterer und Zahir ein Sandleser."

Ich blinzelte. „W-Wie ... das ... du ...?", stotterte ich, doch mehr kam nicht aus meiner Kehle raus.

Ich war sprachlos. Einfach nur sprachlos.

Das war schlicht unmöglich!

„Sind dir die magischen Fähigkeiten der Muzedin nicht bekannt?", fragte nun Zahir neben mir und ich spürte seine aufrichtige Neugierde.

Ich war nicht imstande zu erwähnen, dass ich bis vor Kurzem noch glaubte, die Muzedin seien ausgestorben. Dass ich bis eben noch dachte, das alles müsste ein grosser Schwindel sein. Natürlich hatte ich von deren Magie gelesen. Doch noch nie in meinem Leben hatte ich sie mit eigenen Augen erlebt!

Nun gut — ich hatte die Magie Schadscharat al-Hayas gespürt. Hatte sie berührt und damit ein Loch im Boden aufgerissen, durch welches ich schliesslich gefallen war. Aber das war der heiligste Baum meines Volkes. Dem konnte man noch magische Kräfte nachsagen.

Einen Menschen zu sehen, wie er den Wind nach seinem Willen lenkte, war irre. Ja, gar erschütternd.

Luay setzte sich im Schneidersitz wieder auf den Teppich. „Als Casbari solltest du selbst über magische Fähigkeiten verfügen, oder nicht? War das nicht Teil von der Ausbildung bei deiner Grossmutter?"

Ich schüttelte den Kopf, meine Zunge war zu schwer, als dass ich etwas hätte sagen können. So blieb ich stumm.

Sitty hatte mir von keinen magischen Fähigkeiten erzählt, die ich besitzen sollte. Sowas gab es in Kesh nicht. Sowas konnten die Kasbahren nicht. Wir waren ein einfaches Volk aus Wüstennomaden. Keine Magier!

„Eigentlich müsste sie Kräfte haben", wandte Zahir ein. „Die Casbari sind das dritte Magiervolk unseres Kontinentes." Er musterte mich von der Seite und schien zu überlegen. „Aber was mir jetzt erst auffällt. Du trägst gar kein kräfteverstärkendes Schmuckstück. Fabrizieren die Casbari keine mehr?"

Ich blinzelte ihn an, denn ich verstand nicht, wovon er sprach. Kräfteverstärkender Schmuck? Wüstennomaden trugen keinen Schmuck, weil das in der Einöde keinen Nutzen hatte. Man wollte Banditen ja nicht noch mehr Gründe geben, einen auszurauben.

„Vielleicht haben die rückständigen Traditionen der Nomaden ihre Magie bereits zu stark beeinträchtigt", mutmasste Luay schulterzuckend.

Dass sie sich schon wieder erlaubten, über mein Volk herzuziehen, kümmerte mich in dem Moment nicht. Mir wurde schwindelig von all den Dingen, die sie sprachen.

Zahir liess einen nachdenklichen Laut hören. „Das ist natürlich gut möglich", meinte er. „Wenn sie den Frauen den Zugang zum Wissen bereits nach ihrer Volljährigkeit verwehren, dann haben sie kaum die Möglichkeit ihre magischen Fähigkeiten auszubauen, geschweige denn diese ihren Nachkommen weiterzugeben. Da geht sowas schnell verloren."

„Wer den Fluss des Wissens steuert, regiert über jene, die daraus trinken", murmelte Luay und streckte dabei wie ein Lehrmeister seinen Zeigefinger in die Luft.

Zahir lachte auf. „Zitierst du gerade Adil?", fragte er. „Das klingt ganz nach unserem jüngsten Bruder."

„Nein, da bin ich selber darauf gekommen." Luay grinste wieder so breit, dass seine weissen Zähne hervortraten.

„Sehr schlau. Das Lesen bekommt dir gut."

Während die zwei Brüder anfingen, sich in einer Diskussion zu verfangen, in welcher Luay behauptete, er wäre auch vor der Entdeckung der Bücher ihres jüngsten Bruders klug gewesen und Zahir vehement das Gegenteil behauptete, erhob ich mich. Mir war schlecht geworden. Es war alles zu viel für mich.

„Ich muss mal kurz weg", verkündete ich.

Ich brauchte Abstand und Luft. Viel frische Luft!

Zahir zuckte mit den Schultern. „Wir müssen sowieso allmählich die Sachen packen und die Zelte abbrechen", meinte er. „Sonst kommen wir nie in Jaradina an."

Ich marschierte wortlos an den Kamelen vorbei und erklomm eine Düne. Meine Hoffnung war, dass dort oben der Wind stärker wehen würde, damit ich meinen Kopf klären konnte.

„Geh nicht zu weit weg", hörte ich Luay mir hinterherrufen. „Nicht, dass du dich noch verirrst!"

„Sehr witzig", grummelte ich, ohne dass er es hören konnte.

Am obersten Rand der Düne angekommen, löste ich Zahirs Turban von meinem Gesicht und liess den Wind meine Nase streicheln. Ich atmete ein, sog die Hitze Tulhaias tief in meine Lungen, ehe ich mit einem langen Stoss den ganzen Sauerstoff aus mir herauspresste.

Das Gefühl der Überforderung, das wie ein Stein in meinem Magen gewogen hatte, löste sich auf. Der Abstand von den beiden half mir, den Gedankensturm in meinem Kopf zu stillen. Eine ganze Weile lang stand ich da und atmete einfach den Geruch von Sand und Staub ein, bis mein Herz ruhiger in meinem Brustkorb schlug.

Doch mit der Ruhe kam die traurige Erkenntnis, dass ich offenbar nichts von der Welt wusste — selbst nach so langer Zeit in der Ausbildung bei meiner Grossmutter.

Ich erinnerte mich daran, wie Sitty sogar gemeckert hatte, welch unersättliches Kind ich sei! Weil ich sie so sehr damit genervt hatte, mehr wissen zu wollen als alle anderen, hatte mich meine Grossmutter in alle möglichen Bibliotheken und Büchereien geschleppt, die Kesh zu bieten hatte — damit ich die grösste Auswahl an Büchern erhielt, die einem Mädchen gewährt werden konnte. Und selbst das war nie genug gewesen.

Ich hatte stets nach mehr Wissen gehungert.

Und nun stand ich da — kurz vor Erreichung meiner Volljährigkeit und am Ende meiner Ausbildung — und es fühlte sich so an, als kannte ich gerade mal ein Korn im Reissack.

Anders als mir beigebracht wurde, hatte ich innert kürzester Zeit erlebt, dass die Muzedin nicht ausgestorben waren und dass es tatsächlich noch Menschen mit magischen Kräften gab.

Das Wissen aus meinen Büchern hatte mich angelogen.

Wurden mir diese Dinge nicht beigebracht, weil Sitty dachte, sie würden mir in meinem Leben als Kasbahrin nichts nützen? Dachte sie, es wäre gefährlich, wenn ich all das wüsste?

Ich seufzte.

Seit sich der Boden zu meinen Füssen geöffnet hatte und ich durch den Sand gefallen war, stand meine ganze Welt auf dem Kopf. Aber ich hatte eines erkannt: Die Legende um Schadscharat stimmte.

Er beschenkte die Menschen tatsächlich.

Der heilige Baum hatte mir das Abenteuer meines Lebens beschert.

Vielleicht war das ja meine Bestimmung. Er hatte mich mit der Erkenntnis bereichert, dass ich niemals alles wissen würde, selbst wenn ich jedes Buch dieser Welt gelesen hätte.

Am Ende zählte die Erfahrung. Die würden mich das Leben lehren.

Ich schlug die Lider auf und liess meinen Blick über Tulhaia schweifen. Weit und breit war von der Oase noch keine Spur zu sehen. Mein Blick ging nach Osten. Hinter hunderten von Dünenfeldern musste Jaradin liegen. In einem fruchtbaren Flusstal, das sich irgendwo dort am Horizont durch den Sand schlängelte.

Bald würde ich bei meinen Eltern sein und mein Leben als Kasbahrin beginnen. Bald würde dieses kleine Abenteuer, das mir Schadscharat beschert hatte, enden.

Irgendwie tat der Gedanke weh.

„Fennek!", hörte ich Luay rufen. „Wir wollen los!"

Ich wollte mich gerade zu ihm umdrehen, da fiel mein Blick auf einen Gegenstand, der mehrere Schritte weiter unten auf der windschattigen Seite der Düne aus dem Sand ragte. Etwas weisslich graues, mit Ecken.

„Ja, gleich!", antwortete ich und stieg die Düne hinab, bis ich das Objekt erreichte.

Mein Herz machte einen Freudensprung, als ich den Gegenstand aus dem Sand zog.

Mein Buch!

Ich hielt Der Fall des letzten Sultans in meinen Händen! Vorsichtig strich ich über den punzierten Buchdeckel. Zwar mussten von dem Sandstrudel einige Seiten herausgerissen worden sein, doch war es mehrheitlich intakt und der Grossteil des Papyrus unbeschädigt und noch leserlich.

Ich presste es an meine Brust und dankte dem Glück dafür, dass ich es wiedergefunden hatte.

Eine Nacht blieb mir noch, bis wir Jaradin erreichen würden und diese würde ich nutzen, um so viele Seiten von diesem Buch zu inhalieren wie möglich. Selbst wenn ich nun wusste, dass ich niemals so viel lernen konnte, um alles zu wissen, wollte ich meinen unaufhörlichen Hunger ein letztes Mal damit stillen.

Ehe die ewige Entbehrung beginnen würde.

Da Zahirs Gewand an meinem Körper so gross war und etliche Falten warf, gelang es mir, das Buch so einzuwickeln, dass es eng an meinen Bauch gepresst war und nicht zu Boden fallen würde. Ich wollte es nicht ein zweites Mal verlieren.

Entschlossen schritt ich zurück zu meinen zwei Reisebegleitern.

✶✶✶

„Ich helfe dir."

Zahir streckte mir seine Hand hin. Er stand neben dem Kamel, das friedlich an irgendwas kaute und keine Anzeichen von schlechter Laune zeigte. Dieses Vieh wirkte viel zufriedener als jenes der Karawane — trotzdem hasste ich Kamele.

Ich schluckte schwer. „Wo wirst du sitzen?", fragte ich, anstatt seine Hand zu greifen.

Der Gedanke, wir könnten uns zusammen auf den Rücken dieses Tieres zwängen, verursachte ein Flattern in meinem Bauch. Ich war noch nie zu zweit auf einem Kamel geritten und schon gar nicht mit einem Mann. Die alleinige Vorstellung, Zahir so nah in meinem Rücken zu spüren, jagte mir eine Hitze in die Ohren.

Wirklich viel Platz gab es da oben nicht. Würde ich hinten sitzen und er vorne, oder umgekehrt? Es gab keinen richtigen Sattel. Das Kamel hatte nur zwei Decken über den Höcker geworfen bekommen. Wo würde ich mich denn festhalten? An ihm?

Ich erschauderte.

Zahir zog seine Hand zurück und versteckte sie hinter seinem Rücken.

„Ich werde zu Fuss unterwegs sein", antwortete er, als wüsste er, was ich dachte. „Keine Sorge."

Mit diesen Worten war es abgehakt. Ich kletterte alleine auf den Höcker und klammerte mich irgendwo fest. Dann setzte sich das Biest unter mir auch schon in Bewegung und wir marschierten los.

Erst als ich einen Blick zurück warf und Luay auf seinem Tier erblickte, realisierte ich, dass all die Möbel, die grossen Zelte, die Windkerzen, alles so schnell eingepackt worden war. Nur drei grosse Leinensäcke hingen von seinem Kamel.

Es sah aus, als reisten wir mit leichtem Gepäck.

Ich stutzte, denn niemals hätten all die Sachen da rein gepasst. Vermutlich war das wieder so ein Zaubertrick von Luay, bei welchem er alles mit einem Schnippen hatte einpacken können.

An diese ganze Magie musste ich mich wirklich erst noch gewöhnen!

Kopfschüttelnd richtete ich meinen Blick nach vorne. Zahir ging vor mir und zu meinem Erstaunen barfuss.

„Ist das nicht zu heiss?", fragte ich von meinem Kamel herab.

„Die Wüste kann einem Sandleser nichts anhaben", hörte ich Luay hinter mir sagen. „Wenn es nach ihm ginge, würde er sich nackt durch die Dünen rollen, so sehr liebt er den Sand."

Zahir machte eine genervte Handbewegung in die Richtung seines Bruders. Ich konnte es nicht vermeiden, bei der Vorstellung laut loszulachen. Dabei rutschte mir mein Tuch vom Kopf auf die Schultern.

Es war mir in dem Moment einerlei. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, den beiden mein Gesicht und meine Haare zu präsentieren. Irgendwie fühlte ich mich ganz wohl. Zu wissen, dass es bei den Muzedin keineswegs als unsittlich galt, das Gesicht einer Frau zu sehen, bestärkte dieses Gefühl.

Allerdings hatte ich nicht mit Zahir gerechnet. Er blieb stehen, bis mein Kamel bei ihm angekommen war und warf mir einen strengen Blick zu.

„Wenn wir unterwegs sind, solltest du deinen Mund und deine Nase bedecken, Najmah", ermahnte er mich. „Zu deinem eigenen Schutz. Man weiss nicht, welche Dämonen sich in der Wüste herumtreiben."

Ohne Widerrede schob ich mir sämtliche Tücher wieder vors Gesicht. Selbst wenn ich nicht an Wüstendämonen glaubte — ich war zu meiner Lebzeit noch nie einem begegnet —, tat ich ihm den Gefallen.

Die verwehten Dünen erstreckten sich vor uns, als wir unseren Marsch nach Jaradin fortsetzten. Ich lächelte in die Trockenheit. Bald war ich zuhause, doch bis dahin würde ich dieses Abenteuer in vollen Zügen geniessen. 

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Randbemerkungen:

Hallöchen ihr kleinen Sandwürmer

Na, was sind eure Theorien? Wie erklärt ihr euch Najmahs Wissenslücke?

Wünsche euch einen schönen Samstag. 

Ich darf jetzt an eine Bachelorette-Party xD

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