36 - verschiedene Welten

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⊱─ ⋯ ─⊰ TAG 36 ⊱─ ⋯ ─⊰

[Donnerstag morgens]



𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Ich bin gestern Abend tatsächlich direkt eingeschlafen. Was wahrscheinlich gut ist, sonst hätte ich noch stundenlang weiter gegrübelt. Meine Gedanken wollen auch jetzt wieder in die Richtung, aber ich muss das jetzt verdrängen! Es ist zwar erst 8 Uhr (wann war ich das letzte Mal von alleine so früh wach?), aber ich hab auch noch einiges zu tun! Die Prüfung ist um 12 Uhr, das heißt um spätestens 11 Uhr sollte ich hier los. Das ist nicht viel Zeit!

Ich krabbel aus dem Bett, fühle mich noch genauso tonnenschwer wie gestern, verdränge aber auch das. Erstmal Kaffee, dann setze ich mich direkt an meine Notizen.
In der Küche ist von Jimin zum Glück nichts zu sehen. Ihm jetzt zu begegnen, würde mich wieder total aufwühlen und das kann ich grade überhaupt nicht gebrauchen. Ich setze den Kaffee auf, nutze die Zeit, um eben ins Bad zu huschen, und als ich wieder in die Küche komme, ist der Kaffee auch durchgelaufen. Das schlimme ist ja, dass mich selbst Kaffee mittlerweile an Jimin erinnert. Das darf doch nicht wahr sein!

Ich rufe mir selbst nochmal ins Gedächtnis, dass ich jetzt KEINE Zeit habe, um über meinen Mitbewohner nachzudenken, sondern mich schleunigst an meine Notizen setzen sollte. Funktioniert eher so mittelprächtig, aber immerhin komme ich zügig in meinem Zimmer an. Ich starte den PC, öffne nicht nur die Audio, sondern auch meine Notizen und die Lyrics.

Okay. Konzentration! JETZT!

Im ersten Durchlauf höre ich mir den Song einmal komplett an und achte dabei auf die Übergänge, auf Lautstärke und Tonqualität. Mir fallen dabei zwar auch wieder ein paar kleine Stellen auf, aber die sind so minimal, dass sie keinem anderen auffallen werden. Also mache ich kurz ein paar Anmerkungen auf meinem Notizblatt für die Songvorstellung, und anschließend einen Haken am technischen Teil. Dann starte ich den zweiten Durchlauf. Dabei lese ich gleichzeitig die Lyrics und rufe mir in Erinnerung, wieso ich mich für diese Wortwahl entschieden habe und was die ursprüngliche Idee zu dem Song war.
Unter der Überschrift 'Entstehung und Weiterentwicklung' schreibe ich mir einige Stichpunkte auf.

Der Ursprungsgedanke war ja das Bild von einem Mann, der durch verschiedene Filter auf dem Handy jedes Mal anders aussieht beziehungsweise wirkt. Und die Frage, ob das denn die einzigen Filter sind, die wir verwenden. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, welche Filter wir noch verwenden. Und Jimin hat daraufhin das Wort 'Brille' benutzt.

Ich kann nicht verhindern, an die vielen intensiven Gespräche mit Jimin zurück zu denken. Er hat mir von seiner Familie erzählt, von seiner Oma, von seinem Traum, Tänzer zu werden, von der Auseinandersetzung mit sich selbst und wie er sich als Künstler interpretiert. Und darüber, was es heißt, für seine Fans mit verschiedenen Rollen zu spielen, ohne sich dabei verbiegen zu müssen. Das alles hat mit Filtern, beziehungsweise 'Brillen' zu tun. Wir Menschen können gar nicht anders. Wir verwenden sie tagtäglich, sie prägen uns vom ersten Tag. Es macht so viel aus, wo wir aufwachsen, was wir während unseres Lebens erleben, welche Vorstellungen wir haben.

Und während ich mir dazu was aufschreibe, wird mir eines bewusst. Jimin ist in einer Familie aufgewachsen, die ihn gestärkt hat und in der er erlernen durfte, mit sich selbst und seinen Emotionen ehrlich zu sein. Das ist seine Brille, sein Filter, durch die er die Welt um sich herum wahrnimmt. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, bewirkt aber trotzdem etwas in mir. In meiner Familie hatte man zu schweigen, wenn es nicht förderlich für ein Ergebnis war. Bei uns herrschte die Meinung, dass Gefühle nur bei der Arbeit behindern und sie einem beim Erreichen des Ziels ablenken. Gefühle zuzulassen ist gefährlich, wenn man ein Ziel vor Augen hat. Und das ist eine ganz andere Brille, als die, die Jimin aufhat, um den Menschen um sich herum zu begegnen.

Erst jetzt wird mir klar, dass ich die Einstellung meiner Eltern ziemlich genau übernommen habe und es deswegen mit Jimin immer wieder kollidiert. Wir haben so völlig andere 'Brillen' beigebracht bekommen, und diese so stark für uns selbst verinnerlicht, dass wir sie selbst gar nicht mehr wahrnehmen oder gar hinterfragen können.

Klar, ich will dieses Studium gut machen, ich will mein Ziel immer noch erreichen. Aber muss ich dafür wirklich alles andere ausblenden? Ich habe mich gefragt, ob ich nicht vielleicht beides haben kann, und jetzt gerade glaube ich, dass es sehr wohl möglich ist. Ich muss nur meine alten Brillen ablegen. Mit einem anderen Filter sieht die Welt vielleicht direkt anders aus. Jimin ist mir wichtig. Das Studium ist mir wichtig, aber es muss sich nicht gegenseitig ausschließen. Immerhin hat der Song es gezeigt, zumindest am Anfang unserer Zusammenarbeit. Beides zusammen geht schon, ich muss nur einiges an mir ändern.

Der Song ist schon eine ganze Weile durchgelaufen, aber ich verharre trotzdem noch in der Position, ohne was zu tun. Das, was gerade in meinem Kopf passiert, hat so viel mehr Bedeutung als irgendeine Prüfung. Und das soll schon was heißen, wo es bis jetzt immer meine oberste Priorität war.

Jimin meinte mal zu mir, dass ich lernen kann, mit meinen Emotionen umzugehen und dass er mich auf dem Weg dahin begleiten will; dass er mir gerne die Geduld und die Wertschätzung entgegenbringt, die ich brauche. Und das hat er die ganze Zeit getan. Egal, wie dumm ich mich verhalten habe, Jimin hat immer Verständnis gezeigt. Er hat mich durch seine wertschätzende, Emotionen zulassende, fürsorgliche Brille gesehen. Als ich von dem ersten Gespräch mit Ten nach Hause gekommen bin und Jimin so angeschnauzt habe, da habe ich mir gewünscht, dass er sauer ist. Dass er zurückmeckert, weil es das war, womit ich hätte umgehen können. Das war das, was ich kannte. So haben meine Eltern immer reagiert. Jimin hat mich überfordert mit seiner Art, dabei ist es wahrscheinlich genau das, was ich brauche, um meine veralteten Filter abzulegen.

Und mir wird einmal mehr bewusst, WIE sehr ich Jimin verletzt haben muss, als ich dieses neue "Wir" beendet habe. Denn ansonsten würde er mich nicht abweisen. Es muss so vieles in ihm erschüttert haben, dass selbst er nicht mehr an seinen gewohnten Reaktionen festhalten konnte, und das ist auch der Grund, warum es mich so aus der Bahn gehauen hat. Jimin hat mir die ganze Zeit über seine Brille gereicht, damit ich die Welt anders wahrnehmen kann, aber ich war damit überfordert. Dienstag Abend hat er zu spüren bekommen, mit welchen Reaktionsmuster ich aufgewachsen bin. Ich habe ihm zwanghaft meine Brille aufgesetzt und das hat ihm anscheinend sehr zugesetzt. Da sind zwei völlig verschiedene Welten aufeinander gestoßen, zwei so verschiedene Sichtweisen, die Welt zu betrachten, dass das gar nicht gut gehen konnte. Es ist kein Wunder, dass es in die Hose gegangen ist. Wir müssen uns erst an eine neue Sichtweise gewöhnen. Niemand kann so schnell alte Gewohnheiten ablegen. Aber wir haben Zeit. Genug Zeit. Wenn wir es wirklich wollen, können wir es noch schaffen, uns auf den anderen einzustellen.

Wenn Jimin am Freitag seine Prüfung abgelegt hat, und wir weniger Druck von außen haben, schaffen wir es vielleicht, uns unsere verschiedenen Welten etwas vorsichtiger näherzubringen. Denn das, was wir haben, ist eben doch mehr als eine Illusion. Klar, ein Song ist keine Basis für eine Freundschaft. Aber der Song hat etwas mit uns gemacht. Für uns IST es die Basis, denn daran hängt so viel mehr, als das Produzieren eines guten Musikstückes.

Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, ohne wirklich etwas anzusehen. Ich bin zu sehr in Gedanken, um noch etwas anderes wahrnehmen zu können. Was passiert hier grade? Ich fühle mich auf einmal nicht mehr so tonnenschwer. Irgendetwas ist anders. Vielleicht ist es die Hoffnung, dass ich das mit Jimin und mir doch noch hinkriege. Nach der Prüfung.

Mein schweifender Blick bleibt an der Uhr auf dem Bildschirm hängen und sofort bin ich wieder in der Realität angekommen. Es ist schon 10 Uhr!? Wie konnte das denn passieren!?
Soviel dann zum Thema Konzentration ... wobei, konzentriert war ich. Nur nicht auf das eigentliche Thema. Aber das kriege ich noch hin!

Schnell schreibe ich noch ein paar letzte Stichpunkte auf und drucke die Lyrics und Noten in dreifacher Form aus. Zwei für die Profs, eins für mich. Ich packe alles mit dem Stick zusammen auf einen Stapel, damit ich das gleich nur noch einzupacken brauche. 10:23 Uhr. Ich trinke noch eben meinen mittlerweile kalten Kaffee aus und husche dann mit frischen Klamotten ins Bad, um zu duschen. Ich muss mich ganz schön beeilen, aber ich schaffe es schließlich um kurz vor 11 Uhr, geduscht, angezogen und mit meinen Prüfungssachen fertig im Flur zu stehen.

Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, ist Jimin, der in genau dem Moment aus der Küche kommt, als ich gerade zur Wohnungstür hinaus will.

ʝιɱιɳ

BRÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖMMM! Unwillig schüttele ich den Kopf und halte mir die Ohren zu, aber es hilft nichts. Dieser blöde Macker aus dem vierten Stock musste mal wieder der ganzen Welt mitteilen, dass er die Straßen unsicher macht, und extra laut durchstarten. Jetzt bin ich wach.
Und fange SOFORT wieder an, über Yoongi nachzudenken. Ich habs ja nicht gesehen - aber ich konnte durch die geschlossene Tür gradezu mit Händen greifen gestern Abend, dass Yoongi geweint hat. Weil er von dem Song und dem Druck und dem Schweigen und von mir und von sich selbst so überfordert ist. Der Tag gestern war echt heftig. Auch kein Wunder, dass er dann nicht mehr in der Lage war, mein Feedback anzuhören.

Ui - die Toilette rauscht. Das ist glaube ich das allererste Mal, dass Yoongi NACH dem Schlafen VOR mir im Bad ist.

Er wird gestern Abend nicht mehr die Kraft gehabt haben und deshalb jetzt die Prüfung vorbereiten wollen. Eigentlich könnte ich ... Ne, ganz bestimmt nicht! Ich wollte gestern Morgen auch meine Ruhe haben und in meinem Rhythmus fließen vor der Prüfung. Wenn ich ihm jetzt noch meine Eindrücke sage, kann ich ihn höchstens irritieren, und das braucht er am allerwenigsten. Also lasse ich das besser.

Ich stehe auf und lausche an meiner Tür, denn im Bad ist es wieder still. Und richtig, da höre ich Yoongi grade von der Küche her zu seinem Zimmer kommen. Also wird er sich jetzt an die Arbeit machen und so schnell nicht wieder auftauchen. Dann könnte ich ... Hm.
Da wir für heute zum Proben nur am Nachmittag den großen Raum erwischen konnten, dafür aber insgesamt vier Stunden, muss ich erst um 12.00 Uhr los. Yoongi ist aber schon früher dran, also bin ich noch da, wenn er geht, also könnte ich ... Sehr gut!

Ich gehorche meinem inneren Helferlein, ziehe mir was Bequemes an und husche möglichst leise in die Küche. Also - was brauche ich? Den Thermobecher. Ich stelle die Kaffeemaschine an. Der wird bestimmt wieder das Essen vergessen. Ich inspiziere den Kühlschrank. Hm. Ah, ich weiß.
Ich hole mir die Zutaten zusammen und fange an, zu schnippeln und zu brutzeln. Erst schneide ich Gemüse - ohne Zwiebeln wegen der Prüfer - in ganz feine Streifen, brate das an und würze es gut. Dann mache ich einen Teig und backe einige dünne Pfannkuchen. Und die wickele ich dünn mit dem Gemüse und frischen Kräutern zu langen, schmalen Rollen. Das kann man gut aus der Hand essen. Die Rollen schiebe ich in eine Frischhaltetüte und lege sie dann mit ein paar Papierservietten in eine Dose. So. Yoongi kann kommen.

Was hatte er gesagt, wann seine Prüfung ist? Irgendwie gegen Mittag. Also kann ich selbst erstmal in Ruhe essen und dann duschen, wenn er weg ist. Ich drehe mir auch ein paar Röllchen und mache es mir damit auf dem Sofa bequem. Damit ich nicht schon wieder über Yoongi und mich und überhaupt grübele, lasse ich lieber beim Kauen meine Blicke wandern und überlege, was ich hier gerne verändern würde, damit es gemütlicher und einladender wird in unserer Wohnung.

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich wache auf dem Sofa auf, weil Yoongi hektisch seine Tür aufreißt und ins Bad stürzt. Entweder ist ihm schlecht vor Angst, was ich nicht hoffe, oder er muss bald los und hat zu lange nicht auf die Uhr geschaut. Das Plätschern der Dusche beruhigt mich schnell wieder. Er ist "nur" in Eile.
Ein bisschen muss ich wehmütig über mich selbst schmunzeln. Ich kanns doch echt nicht lassen. Yoongi hat Prüfung, also mache ich ihm das Frühstück. Wird das denn nie aufhören?
Yoongi flitzt vom Bad zurück in sein Zimmer. Also stehe ich auf und gehe rüber in die Küche. Mein Kopf denkt einfach weiter.

MUSS das denn aufhören? Nur weil er ein Einsiedlerkrebs, ab und zu hilflos und deswegen auch mal unfreundlich ist, muss ich doch nicht auch so werden! Ich bin ich, und ich habe Freude daran, ein freundlicher Mensch zu sein. Sobald ich das alles verdaut habe, will ich wieder so sein wie immer, sensibel, ehrlich und zugewandt. Schluss mit Ausweicheritis! Egal, ob er drauf eingeht oder nicht. Und heute will ich ihm nunmal was Gutes tun, weil er eine wichtige Prüfung vor sich hat.

Ich höre Yoongi den Flur entlang kommen und trete darum mit der Dose und dem Thermobecher aus der Küche.
"Guten Morgen Yoongi. Gehts jetzt los für Dich? Ich hab Dir ein bisschen was vorbereitet, damit du gut denken kannst."

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Verblüfft mache ich eine Vollbremsung und starre auf Jimins Hände. Ich erkenne, dass er meinen Thermobecher und was zu Essen in der Hand hat.
"Was ... was ist das?", frage ich ungläubig, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er das für mich gemacht hat, auch wenn es wirklich so aussieht, als würde er mir die Sachen in die Hand drücken wollen. Dabei sind wir gestern nicht besonders glücklich auseinandergegangen. Wie kann es sein, dass er trotz allem noch fürsorglich ist? Oder ist das nur wieder der Beweis, dass seine Art, die Dinge wahrzunehmen, sich grundlegend von meiner unterscheidet?

ʝιɱιɳ

"Kaffee und Fingerfood. Nervennahrung, damit Du gleich gut drauf bist und locker die Prüfung durchziehst. Ich vermute, du hast bis jetzt nicht gefrühstückt? Ich ... ich wünsche dir alles Gute! Der Song ist echt toll geworden."

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Ich starre immer noch völlig verwirrt auf Jimins Hände. Wir machen beide einen zaghaften Schritt aufeinander zu, ehe er mir die Dose gibt. Es ist also wirklich für mich? Ach, Jimin ...
Ein klitzekleines Lächeln huscht über mein Gesicht, das nicht nur Dankbarkeit sondern auch Reue deutlich macht.
"Danke, Jimin. Das ... ist wirklich lieb von dir", traue ich mich endlich zu sagen, allerdings ohne ihn dabei anzusehen. Ich meine damit nicht nur das Lunchpaket, sondern alles. Allem voran die Tatsache, dass er mich immer noch durch seine Brille sieht und mich nicht direkt als miesepetriges Arsch abstempelt.

"Danke, Jimin", wiederhole ich meine Worte und diesmal schaffe ich es auch, ihn anzusehen. Ich erwidere sein Lächeln und sehe darin die Chance, dass wir wirklich wieder aufeinander zugehen können, wenn wir das hier alles hinter uns haben.

ʝιɱιɳ

"Und jetzt ab mit dir. Du schaffst das! Du bist ein genialer Musiker. Die MÜSSEN unseren Song mögen!"

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25.7.2021

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