Tag 9

[Freitag vormittags]

JIMIN

Da gehts mir doch gleich viel besser, wenn Yoongi mir sogar die Jacke holt und mich zur Tür begleitet. Ich hüpfe gut gelaunt die Treppen runter und sause zur Uni.
Wir werden den ganzen Tag als eingeschworener Haufen miteinander verbringen, und so treffen wir uns pünktlich um 8.30 Uhr an der Aula, um uns aufzuwärmen und uns anzufeuern. Taemin und Kai sind jetzt doch nervös und üben nochmal ein paar schwierige Mooves, während drinnen auf der Bühne schon ein anderer Tänzer seine Prüfung ablegt.

Kaum kriegen wir das Zeichen, dass die Bühne frei ist, weil der Prüfling jetzt im Gespräch ist, flitzen wir in den Backstage-Bereich und treffen die letzten Vorbereitungen für uns. Viele Requisiten gibt es nicht, nur ein paar Lichteffekte.
Wir gehen schon in die Startaufstellung und drücken fest die Daumen, als Kai und Taemin vor den Vorhang geholt werden. Wir hören kurz Gemurmel, dann sind die beiden wieder bei uns und stellen sich auch auf. Die Beleuchtung im Saal geht aus, der Vorhang öffnet sich und Seojun setzt uns auf der Bühne ins rechte Licht. Zum Glück kann ich in solchen Momenten auf Konzentration umschalten. Wir starten gut und legen eine fehlerfreie Choreo hin. Es macht Spaß und ist ein guter Auftakt für diesen Tag.

Während sich unsere beiden Prüflinge den Fragen der Profs stellen, machen wir hinter der Bühne schnell Ordnung und räumen das Feld für die nächsten. Dann müssen wir eine Weile draußen warten. Für mich verfliegt diese Zeit wie im Flug, denn während mein Körper mir jetzt schon die Anstrengung übel nimmt, wandert mein Kopf zurück nach Hause. Hat Yoongi den Zettel gelesen? Wird er kommen? Wird er da sein, wenn unser Song auf der kleinsten Bühne der Welt Premiere hat?
Es ist verrückt! Nachdem ich diese Möglichkeit gestern einmal laut ausgesprochen habe, ist es auf einmal ganz normal, Yoongi so sehr zu mögen, dass er völlig meinen Kopf beherrscht. Und mein Herz. Und gleichzeitig ist es so unglaublich fremd, wie etwas nur sein kann in meiner Welt.

Ich werde jäh aus meinen Tagträumen gerissen, als zwei strahlende Jungs aus dem Theatersaal kommen und uns alle umarmen.
"Danke an euch alle. Ihr wart phantastisch. Volle Punktzahl, weil die Choreo spannend aufgebaut war, und weil wir so viel Teamgeist und Charisma ausgestrahlt haben."

Eine Weile freuen wir uns noch miteinander, bevor wir in ein ganz anderes Gebäude gehen für Seojuns Modenschau.

YOONGI

Okay. Wo könnte Jimin den Antwortbrief hingelegt haben? Er war eigentlich nur in der Küche, oder? Oder hat er vorher schon geantwortet? Ne, das macht keinen Sinn.
Ich stehe in der Küche und schaue mich fragend um. Auf dem Tisch liegt allerdings nichts, und sofort stellt sich in mir ein Gefühl des Enttäuschtseins ein. Aber warum sollte Jimin sagen, dass er geantwortet hat, wenn er es doch nicht getan hat? So fies ist er nicht. Das beantwortet allerdings noch nicht meine Frage, wo dieser verdammte Zettel steckt!

Ich schaue mich wieder um, drehe mich dabei schwungvoll um meine eigene Achse und sehe dann einen weißen Zettel an der Kaffeemaschine kleben. Okay, Yoongi. Das war wahrscheinlich ZU offensichtlich, um es direkt zu sehen. Mann, wie dumm. Aber egal, ich habe ihn jetzt gefunden und ... bin nervös. Was wird drauf stehen? Mit zittrigen Händen betrachte ich den Zettel und ja, ich habe zu viel Angst, zu lesen, was darauf geschrieben steht. Mut, Yoongi.
Ich brauche bestimmt noch einige Sekunden, bis ich genug Mut gefasst habe, um Jimins Antwort zu lesen.

"Guten Morgen, Yoongi!
1000 Dank, das ist ein guter Start in den Tag.
Ich habe heuteum 9.00 die Prüfung von Taemin
und Kai, um 11.00 die Präsentation von Seojun
und meine eigene Prüfung um 17.00 . Dazwischen
komme ich wahrscheinlich nicht nach Hause. Ich
bin heute das absolute Schlusslicht. Und ich würde
mich riesig freuen, wenn Du dabei wärst. Das wird
was besonderes.
Du findest mich dann im Theatersaal 3 im Neubau.
Jimin"

Das ... ist eine Einladung. Okay, ich habe mit allem gerechnet, wenn ich ehrlich bin, aber nicht damit! Er will mich nach allem, was vorgefallen ist, immer noch dabei haben? Er will, dass ich ihn sehe? Verdammt, ist das warm hier! Warum ist es hier auf einmal so tierisch heiß? Oder liegt das vielleicht daran, dass meine Gedanken gerade wieder auf Hochtouren laufen, und mein System dadurch überhitzt? Klingt logisch. Irgendwie. Und irgendwie auch nicht. Oh Mann, ich glaube, ich war noch nie so daneben, wie die letzten Tage, wobei es heute nochmal besonders schlimm ist. Aber: Jimin will mich bei seiner Vorführung dabei haben! Ganz eindeutig. Das ist ein gutes Zeichen, oder? Bestimmt ist es das. Ich hoffe.

Gut nur, dass gerade keiner sehen kann, wie breit ich in mich reingrinse, bei der Vorstellung, dass Jimin mich WIRKLICH heute Abend an seinem wichtigsten Tag dieses Semesters dabei haben will. Das ... fühlt sich verdammt gut an.
Zumindest im ersten Moment, denn kurz darauf stellt sich ein anderes Gefühl ein. Verunsicherung. Was soll ich denn bitte anziehen? Beziehungsweise, was erwartet Jimin? Ich will auf keinen Fall auffallen, aber ich will auch nicht, dass Jimin denkt, mir wäre das Ereignis egal. Das wird schwierig.

Noch schwieriger ist aber die Frage, was danach ist. Nach der Prüfung. Ob er anstoßen will? Bestimmt mit seinen Freunden, oder? Auch mit mir? Und wie kriege ich das raus? Ob ich ihm schreiben soll? Aber er wird jetzt eh keine Zeit haben, um auf sein Handy zu sehen. Später vielleicht, und vielleicht hab ich bis dahin auch irgendeine brauchbare Frage formuliert bekommen, die nicht so verzweifelt klingt, wie sie ist. Ich könnte allerdings auch Ten fragen, aber eigentlich würde ich es diesmal gerne alleine hinbekommen. Es kann ja wohl nicht so schwer sein.

Okay, da gibt es nur eins. Ich muss eine Liste erstellen. Mit allen Fakten, die ich bis jetzt habe und allen Möglichkeiten, die ich habe, um darauf zu reagieren und wie ein Abend ablaufen könnte. Das klingt doch nach einem guten Plan!
Schnell setze ich nochmal Kaffee auf und stapfe dann hochmotiviert in mein Zimmer. Kurzerhand wird mein Genius Lab umfunktioniert zu einem ... Tja, wie nennt man das? Auch egal. Auf jeden Fall beinhaltet es ganz viel Papier und Jimin.

* Unter dem Stichpunkt "mögliche Ausgangsversionen" schreibe ich alles auf, was mir in den Sinn kommt.

* Jimin bedankt sich, geht mit seinen Freunden feiern und lässt mich allein stehen (schlimmste Vorstellung)

* Jimin freut sich, verabschiedet sich von seinen Freunden und geht mit mir mit (besser!)

* Jimin bemerkt mich gar nicht und ich gehe, ohne, dass er es erfährt

* Jimin freut sich so sehr, dass er mich zum Essen einlädt und mit mir richtig feiern will (Träum weiter)

* Jimin lädt mich ein, mit zu kommen und mit ihm und seinen Freunden gemeinsam zu feiern (Bitte nicht! Das kann nur furchtbar enden!)

* Jimin sucht direkt im Anschluss das Gespräch mit mir und wir reden bis mitten in die Nacht

* Jimin freut sich und erwartet, dass ich ihn zum Essen einlade (Was nur fair wäre, immerhin hat er mir diese Woche sehr viel für meine Prüfung geholfen.)

Ach verdammt. Das sind erstens zu viele Möglichkeiten, und zweitens werfen sie immer nur noch mehr Fragen auf. So komme ich auf keinen Fall weiter. Das ist ziemlich frustrierend. Allerdings hat es auch einen Vorteil. Die Idee mit dem Essen finde ich gar nicht so schlecht. Das könnte ich tatsächlich machen. Aber, falls er doch lieber mit seinen Freunden mitgeht, stehe ich dumm da. Also koche ich vielleicht einfach was zu Hause? Essen muss ich sowieso was, selbst wenn Jimin woanders auf seine bestandene Prüfung anstößt.

Dabei fällt mir auf, dass ich bei keiner Variante in Betracht gezogen habe, dass er durchfallen könnte. Aber das wäre auch sehr unwahrscheinlich, bei dem was ich bis jetzt von ihm mitbekommen habe. Trotzdem landet ein weiterer Stichpunkt auf meiner Liste:

* Jimin fällt durch, ist traurig und muss getröstet werden (Notiz: Raussuchen, wie man am besten tröstet, falls er einfach nach Hause will und nicht bei seinen Freunden landet. Denn dann muss ich das übernehmen.)

Der Vormittag besteht nur daraus, endlos viel Kaffee in mich reinzuschütten und zu überlegen, wie der Tag ausgehen könnte, was ich alles vorbereiten muss, und wie ich mich je nach Ausgangsituation verhalten sollte. Es ist bestimmt schon mittags, als ich beschließe, dass es jetzt reicht und ich lieber anfangen sollte, Vorbereitungen zu treffen. Also: Zeitplan erstellen, Essen planen, Einkaufen, Duschen, Klamotten aussuchen und so weiter.iter.
Tatsächlich ist es schon fast 2 Uhr, als ich endlich soweit bin, um einkaufen gehen zu können. Aber das schaffe ich.

JIMIN

Seojuns Prüfung wird ganz anders laufen als die von uns Tänzern. Als Auftakt zeigen nämlich alle Textildesigner aus allen Jahrgängen wie bei einer Modenschau in Paris ihre Kreationen. Ich soll sogar zweimal laufen - nämlich einmal in schwarzweiß und beim zweiten Mal in rot.
Ich habe noch nie gemodelt, aber das schreckt mich jetzt nicht. Ich ziehe mich um und stelle mich in die Reihe. Wenn ich nur nicht so schrecklich müde und abgelenkt wäre! Wie soll ich denn so durch den Tag kommen??? Hoffentlich merken die anderen davon nichts! Also auf, Jimin. Jetzt mal ein energischer Zusammenriss! Seojun hat den besten Jimin der Welt verdient. Das darf nicht daneben gehen.
Bald geht es auch schon los, und zack bin ich ganz da - zum Glück. Ich laufe einfach etwas provokant über den Laufsteg, drehe mich ab und zu und verschwinde auf der anderen Seite der Bühne wieder hinter dem Vorhang. Dort ziehe ich mich aus-um-an und warte bis ich noch einmal dran bin. Die Konzentration ist wieder voll da. Das macht Spaß!

Nach der Modenschau kommen alle Prüflinge mit ihren Models wieder raus und stellen sich so auf, dass erkennbar ist, wer zu welchem Model gehört. Außerdem müssen sie ihre Nummer hochhalten. Die Profs fangen wie wild an, sich Notizen zu machen.
Schließlich dürfen wir alle Backstage gehen, weil nun die einzelnen Prüflinge mit ihren Models nacheinander aufgerufen werden. Seojun freut sich schonmal ein bisschen, weil es bisher gut gelaufen ist. Dann hilft sie mir sehr sorgfältig, wieder beide Kostüme übereinander anzuziehen. Und jetzt holen wir auch die anderen dazu, die bisher im Publikum gesessen haben.

Wir müssen eine Weile warten, weil die Erstsemester starten und die Profs sich mit den Einzelprüfungen von da aus langsam hocharbeiten. Aber dann ist es endlich so weit. Wir gehen vor den Vorhang und stellen uns so auf, dass wir von da aus direkt zur Umzieh-Szene durchstarten können.
Eine miesepetrig aussehende Prüferin fragt spitz, was denn die Extrawurst mit den zwei Anzügen solle und was um Himmels Willen diese ganzen Leute hier machten. Puh - empathisch geht anders ...
Aber Seojun bleibt gelassen, erklärt den Zweck der Kleidung, was die können muss, wie unser Entscheidungsprozess war. Die eine Prüferin kuckt immer noch, als wäre das alles eine Zumutung, aber die anderen sind ganz dabei und bitten darum, das Umziehen einmal vorgeführt zu bekommen. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich das Unterhemd vergessen habe. So what.

Wir schmeißen die von Jeongkwon ausreichend veränderte Musik an und tanzen einmal das Umziehen durch. Die Prüfer wollen jetzt natürlich das Umziehen von Nahem sehen. Also werde ich wieder umgezogen, wobei Seojun schon mal erklärt, wie das rote Hemd um meinen Bauch herum in Falten gelegt wird, damit es nachher so schnell anzuziehen ist.
Die Prüfer sehe ich dabei besser nicht an, denn der Sauertopf zeigt ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Ich muss mir so das Lachen verkneifen! Selbst schuld, wenn ihr mein durchtrainierter Astralkörper nicht gefällt.

Jetzt führen wir gemeinsam, ohne verdeckt zu werden, vor, wie das Umziehen klappt. Da meldet sich der Sauertopf zu Wort.
"Darf ich das rote Hemd bitte ansehen?"
Also rotes Hemd wieder aus, weißes an.
"Und das Weiße auch."
Kurz schauen Seojun und ich uns in die Augen, ich nicke, und sie reicht mir das Jackett, damit ich was anziehen kann. Gemeinsam untersuchen die Profs die Konstruktion, stellen noch ein paar Fragen, und dann sind wir alle entlassen.

Einige Minuten später wird Seojun nochmal reingeholt und bekommt ihre Note, ein gutes Ergebnis, über das sie ziemlich glücklich ist.
Damit wäre auch die zweite Prüfung des Tages geschafft. Aber mich überfällt sofort wieder die Müdigkeit, die jedesmal ein bisschen doller wird. Langsam mache ich mir Sorgen um meine eigene Prüfung. Ich MUSS dann wieder fit sein!

Da ich den Nachmittag nicht geplant habe, schaue ich die anderen fragend an.
"Und was machen wir jetzt?"
Jeonkwon lächelt.
"Bei uns gibts jetzt gemeinsames Kochen und Essen. Und alles, was du magst, um dir die Zeit zu vertreiben. Wenn du einverstanden bist."

Ich fackele nicht lange und sage zu. Und gehorche spontan meinem Bauch.
"Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber ich glaube, ich würde gerne einfach so viel wie möglich schlafen bis dahin. Ich weiß ja nicht, warum. Aber ich fühle mich unglaublich unkonzentriert und schwer wie Blei."
Die anderen kucken besorgt aus der Wäsche und schieben mich zum Ausgang. Kai und Taemin nehmen mich in die Mitte und umärmeln mich einmal.
Jeongkwon und Seojun wohnen gleich um die Ecke, und kaum sind wir da, werde ich ins Bett verfrachtet. Liegen tut gut! Aber jetzt kein Kopfkino bitte! Und schon bin ich weg.

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29.7.2021